POLITIK
Auslandsversicherte: Bundessozialgericht bestätigt Gesetzgeber
;


Der Gesetzgeber durfte die Regeln für die Zuweisungen für Auslandsversicherte rückwirkend ändern, um die Zielgenauigkeit des Risikostrukturausgleichs zu verbessern. Das hat das Bundessozialgericht entschieden. Das Ende einer langen Diskussion?
Im Streit um Zuweisungen für Auslandsversicherte im Rahmen des Risikostrukturausgleichs (RSA) hat der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) ein abschließendes Urteil (Az.: B 1 KR 11/16 R) gefällt. Der Gesetzgeber durfte die Regeln für die Zuweisungen für Auslandsversicherte rückwirkend ändern, um die Zielgenauigkeit des RSA zu verbessern. Das schutzwürdige Bestandsinteresse einer Krankenkasse überwiege nicht gegenüber dem Interesse an einer zielgenaueren, gerechteren Eingrenzung der Zuweisungen für Auslandsversicherte, heißt es dazu im Terminbericht des BSG. Demnach hat der Gesetzgeber „rechtmäßig bereits für den Jahresausgleich 2013 die Höhe dieser Zuweisungen auf die tatsächlichen Leistungsausgaben für diese Versichertengruppe“ begrenzt. Er habe nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Regelungssystem und Zweck der zum 1. August 2014 in Kraft getretenen verfassungskonformen Rechtsgrundlagen für Auslandsfälle so verfahren dürfen, heißt es weiter. Seit Jahren wird über die Zuweisungen an Auslandsversicherte diskutiert, weil für diese Versichertengruppe zumeist Überdeckungen ermittelt wurden. Die Zuweisungen lagen also höher als die Ausgaben. Das wollte der Gesetzgeber ändern.
Vorläufige Zuweisungen
Das Gericht begründete zudem, warum die Regelung in diesem speziellen Fall auch rückwirkend greifen durfte. So sei der jeweilige endgültige Jahresausgleich einer Krankenkasse erst bis zum Ende des auf das Ausgleichsjahr folgenden Jahres – hier also 2014 – durchzuführen. „Die Rechtsänderungen bewirkten eine zulässige unechte Rückwirkung. Sie regeln lediglich Rechtsverhältnisse für Zeiträume nach ihrer Verkündung, die zuvor bloß durch vorläufige Zuweisungen geregelt waren“, so das BSG. Das schriftliche Urteil mit der genauen Urteilsbegründung steht noch aus. Der 1. Senat hob mit seiner Entscheidung das bestehende Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen (LSG NRW, Az.: L 5 KR 745/14 KL) auf. Es hatte noch der Klage der AOK Rheinland/Hamburg gegen eine Neuberechnung der Zuweisungen aufgrund des GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz (GKV-FQWG) von 2014 stattgegeben und entschieden, dass ein rückwirkender Eingriff des Gesetzgebers nicht gestattet ist. Es annullierte den Jahresausgleichsbescheid des Bundesversicherungsamtes (BVA) für 2013 hinsichtlich der Zuweisungen für Auslandsversicherte und verpflichtete die Behörde zur Neubescheidung. Das BVA legte daraufhin Revision beim BSG ein.
Mehr Planungssicherheit
Das BVA sieht sich durch die höchstrichterliche Entscheidung bestätigt. Das Urteil schaffe Klarheit und Planungssicherheit für alle Kassen, sagte BVA-Präsident Frank Plate. Die mit der gesetzlichen Änderung verfolgte höhere Zielgenauigkeit des Risikostrukturausgleichs sei damit sichergestellt.
Auch in Kreisen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wurde die Entscheidung positiv aufgenommen. „Damit sind nunmehr die erheblichen finanziellen Unsicherheiten für die Krankenkassen für die Ausgleichsjahre 2013 und 2014 behoben, die sich aus dem Urteil des Landessozialgerichts NRW ergeben hätten“, erklärte IKK-Geschäftsführer Jürgen Hohnl. Das sieht auch der BKK Dachverband so. „Das BSG hat mit seiner Entscheidung den gesetzgeberischen Willen bestätigt und schafft damit nun – kurz vor den Haushaltsplanungen für das nächste Jahr – mehr Planungssicherheit für die 118 gesetzlichen Krankenkassen“, sagte Franz Knieps, Vorstand des BKK-Dachverbandes. Das Urteil zeige, dass man sich auf die Sozialgerichtsbarkeit verlassen könne. Allerdings, so Knieps weiter, enthebe es den Gesetzgeber aus Sicht der BKKen nicht des dringlichen und zeitnahen Regelungsbedarfs im laufenden Gesetzgebungsverfahren. Denn damit könne Rechtssicherheit bei weiteren noch anhängigen Verfahren bei Landesssozialgerichten zu Auslandsversicherten für das Jahr 2014 sowie für Krankengeld für die Jahre 2013 und 2014 geschaffen werden.
In der Konsequenz hat das BSG-Urteil zunächst Folgen für die AOK Rheinland/Hamburg, die historisch bedingt besonders viele Auslandsversicherte versichert. Die Kasse ist die Nachfolgerin der AOK Bonn, die früher alleine für die Auslandsversicherten aller AOKen zuständig war. Hatte das LSG ihr noch rund 157 Millionen Euro als Ausgleichszahlungen für Auslandsversicherte zugesprochen, besagt das BSG-Urteil nun, dass das Geld der Kasse doch nicht zusteht. Die AOK Rheinland/Hamburg kann mit dem Geld also nicht mehr planen.
Die Kasse reagierte entsprechend verhalten. „Die Entscheidung hat uns überrascht und enttäuscht“, sagte eine Sprecherin der AOK Rheinland/Hamburg auf Nachfrage des Deutschen Ärzteblattes (DÄ). Denn bisher sei die Notwendigkeit von Planungssicherheit für Krankenkassen durch die Rechtsprechung anerkannt gewesen. Ob es Konsequenzen für den Zusatzbeitrag der Kasse geben wird, konnte sie nicht sagen. Zunächst müsse die schriftliche Urteilsbegründung abgewartet werden. Sie betonte, dass die Entscheidung des BSG „grundsätzlich Fragen für die Haushaltsplanung“ der gesamten GKV aufwerfe.
Mit dem Urteil könnte nun auch erneut Bewegung in die bisher umstrittenen Pläne der Großen Koalition kommen, die Gesetzgebung aus dem Jahr 2014 zu präzisieren oder zu ändern. Die Parteien hatten zuletzt darüber gestritten, wie eine solche Klarstellung des GKV-FQWG aussehen kann. „Das Vorhaben in Bezug auf Auslandsversicherte ist nun vom BSG bestätigt worden. Trotzdem prüfen wir, ob es weiterer Klarstellungen bedarf“, sagte die gesundheitspolitische Sprecherin der Union, Maria Michalk, auf Nachfrage des DÄ. Dafür sei allerdings die schriftliche Urteilsbegründung notwendig. Sie betonte, es sei Ziel der geplanten Änderungsanträge zum – sachfremden – Gesetz zur Weiterentwicklung der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen (Psych-VV), eine Klarstellung zu den Zuweisungen für Krankengeld und für Auslandsversicherte im RSA zu erreichen.
Eine Klarstellung in der Diskussion wäre auch ein zügiger Auftrag zur Gesamtevaluation des Morbi-RSA, um dessen Schwächen zu analysieren. Auf der Tagung „Health 2016“ des Handelsblattes Ende Oktober in Berlin waren sich die Teilnehmer einig, dass möglichst bald die Evaluation in Auftrag gegeben werden müsse. „Ich hoffe, dass das Bundesgesundheitsministerium uns bald den Auftrag dazu gibt“, erklärte BVA-Präsident Plate dort, einige Stunden vor Verkündung des BSG-Urteils. Auf der Konferenz lobten viele Experten die bisherige Funktionsweise des Morbi-RSA – selbst aus kritischen Kreisen der Gesundheitspolitik kam Zuspruch: „Auch wenn ich kein Freund vom Morbi-RSA war, funktioniert er doch einigermaßen gut“, erklärte Annette Widmann-Mauz (CDU), parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Gesundheit. Ob es nun zu einem baldigen Auftrag der Politik zur Evaluation des RSA kommt, ließ sie offen, zeigte sich aber gesprächsbereit. „Man muss offen sein, den RSA weiterzuentwickeln. Wir werten derzeit die bereits vorgelegten Gutachten aus und entscheiden dann, ob wir etwas verändern müssen.“
Dass diese Veränderung zügig nötig sei, machten mehrere Diskussionsrunden auf der Tagung deutlich. Dabei zeigte Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Wasem, Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirates des BVA und Gesundheitsökonom an der Universität Duisburg-Essen, acht Reformbaustellen auf: die Wertung von Arzneimitteln bei der Therapie, die Problematik der Auslandsversicherten und der Empfänger von Erwerbs-minderungsrenten, die Krankengeldzuweisungen sowie Berechnungen von sozioökonomischen Faktoren wie zum Beispiel Alter und Geschlecht. Als ein „unerschöpfliches Thema“ bezeichnete Wasem die Dauerdiskussion über die Krankheitslisten: Dabei bekommen Krankenkassen für ihre Versicherten zusätzliche Gelder zugewiesen, wenn sie eine von 80 vom BVA festgelegten Diagnosen vom Arzt erhalten. Eine Reduzierung der Liste auf 30 bis 50 Krankheiten sei dabei keine zielführende Idee, so Wasem. Beim Reformfeld „Regionalfaktor“ sollten Schnellschüsse aus seiner Sicht vermieden werden. Als achte Reformbaustelle nannte der Gesundheitsökonom den Hochrisikopool, der speziell teure Krankheiten abbilden soll. Aus Sicht von Wasem zeigen alle Einzelvorschläge, dass es sehr viele Variablen und damit viele Interdependenzen bei den Diskussionsvorschlägen gibt. Auch er plädierte daher für eine zügige Evaluation.
Rebecca Beerheide, Thorsten Maybaum