MEDIZINREPORT
Phthalate: Innovation mit Nebenwirkung


Die als Weichmacher bekannten Phthalate sind in alltäglichen und medizinischen Kunststoffprodukten zu finden. Doch sie können viele unerwünschte Nebeneffekte auf den Körper haben.
Phthalate oder „Weichmacher“ sind synthetisch hergestellte Substanzen, die seit den 60er Jahren zunehmend verwendet werden, um spröde und unflexible Kunststoffe aus PVC elastisch und haltbarer zu gestalten. Erst die Zugabe von Phthalaten ermöglicht die breite Verwendung und die typischen Eigenschaften von Kunststoffen, die Teil des medizinischen und privaten Alltags geworden sind (1).
Pro Jahr werden 37 Millionen Tonnen Roh-PVC weltweit hergestellt. 35 Prozent davon sind mit Hilfe von Weichmachern in ihrer Struktur teils stark verändert. Von den weltweit jährlich circa sechs Millionen Tonnen an hergestellten Weichmachern werden allein 1,2 Millionen Tonnen in Europa verbraucht (2). Je nach Anwendungsgebiet gibt es verschiedene Phthalate. Dimethylphthalat (DMP) und Diethylphthalat (DEP) werden überwiegend in Körperpflegemitteln und pharmazeutischen Produkten verwendet, Diethylhexylphthalat (DEHP) und Diisononylphthalat (DINP) in PVC und Lebensmittelverpackungen (3).
In der Pharmaindustrie wird zusätzlich noch Dibutylphthalat (DBP) verwendet, um Kapseln flexibler zu gestalten, bei Tabletten eine gesteuerte und modifizierte Freisetzung von Wirkstoffen im Magen-Darm-Trakt zu ermöglichen sowie die Haltbarkeit zu verlängern (4). Sie bewirken, dass sich die Kapseln nicht im Magen, sondern erst im Darm auflösen. Sonst könnten sie nicht entsprechend wirken oder sogar Nebenwirkungen (zum Beispiel Sodbrennen) verursachen.
Phthalate nicht fest gebunden
Phthalate sind in PVC nicht fest gebunden. Daher können sie ausdünsten oder sich in Flüssigkeiten ablösen. Als Folge dessen gelangen Phthalate überwiegend in der Endproduktnutzung in die Umwelt. Phthalate gehören zu den schwer flüchtigen organischen Verbindungen, die über einen langen Zeitraum konstant ausgasen. Haben sich Phthalate einmal gelöst, binden sie sich schnell an andere Materialien. Im Haushalt binden sie sich bevorzugt an Hausstaub und können so in die Luft getragen und eingeatmet werden. Der überwiegende Teil der Phthalate löst sich durch den Einfluss von Wasser und Sonnenstrahlung. Bei Gegenständen im Freien sorgt der Regen für eine gesteigerte Abgabe, im Haushalt ist es beispielsweise das Putzen von PVC-Böden oder das Auswaschen von Putzmaterialien. Auf diesen Wegen gelangen die Phthalatpartikel in das Abwasser und in den Klärschlamm. Wenn dieser Klärschlamm auf die Felder kommt, erreichen vereinzelte Moleküle das Grundwasser (5).
Der Mensch nimmt zusätzlich Phthalate über die Nahrung auf, da sich Partikel von der Verpackung lösen können und so auf die Lebensmittel gelangen. Auch Trinkwasser aus Plastikflaschen enthält Phthalate. Der größten Gefahr der Direktaufnahme sind Kleinkinder und Babys ausgesetzt, wenn sie ihre weichmacherenthaltenden Spielzeuge oder andere Gegenstände in den Mund nehmen. Durch Medizinprodukte wie periphere Venenverweilkanülen oder Drainagen gelangen die Weichmacher direkt ins Blut, ebenso über Tabletten während der Magen-Darm-Passage (6).
Diese Substanzen, mit denen der Mensch jeden Tag Kontakt hat, stehen unter dem Verdacht, ab einem bestimmten Wert kanzerogen, teratogen und endokrin wirksam zu sein. Blount et al. untersuchte den Urin von 289 Erwachsenen auf sieben verschiedene Phthtalatmetabolite, die im Rahmen der Studie auch nachgewiesen werden konnten. Zudem ist aufgefallen, dass gerade Frauen im Alter von 20 bis 40 Jahren einen signifikant höheren Wert von diesen Substanzen aufwiesen (6). Dies ist besonders in Bezug auf den Verdacht der Reproduktionstoxizität beachtlich.
Eine Studie von Koch et al., die in Deutschland mit 85 Erwachsenen durchgeführt wurde, untersuchte den Anteil an DHEP im Körper. Auch hier wurde eine signifikant hohe Konzentrazion von Phthalat im Körper gemessen (7).
Einfluss auf Spermien-DNA
Welche dieser Substanzen welchen Einfluss auf den Menschen haben, zeigen andere Studien. Duty et al. untersuchten Sperma von 168 männlichen Probanden auf DNA-Veränderungen und zeigte, dass DEP einen Einfluss auf Strukturveränderungen der Spermien-DNA hat; DBP, BBP und DEHP keinen (8).
Ebenso konnte die Genotoxizität durch Veränderungen der Schleimhäute durch Kleinsasser et al. nachgewiesen werden. Der DNA der aus Oropharynx und der unteren Nasenmuschel entnommenen Zellen wurde DBP und DIBP hinzugefügt und mit Hilfe von Elektrophorese auf Strangbrüche untersucht und gefunden (9). Die Studie zeigt, dass sich die DNA der Schleimhaut als Folge des Kontaktes mit Phthalaten verändert. Somit ist eine Genotoxizität dieser Weichmacher nachweisbar.
In den letzten Jahren wurde die kanzerogene Wirkung für den Menschen immer weiter relativiert. Dagegen treten entwicklungs- und reproduktionstoxische Effekte in den Vordergrund (3).
Mehrere Studien belegen bei Ratten und Mäusen unter dem Einfluss von DBP eine Abnahme des Fötusgewichtes, eine verlangsamte Knochenbildung und bei sehr hohen Konzentrationen Missbildungen von Fortpflanzungsorganen, Augen und Nieren (10). Eine andere Studie bestätigt dies und gab zusätzlich als Folge der erhöhten Phthalatkonzentration eine verminderte Wurfgröße und Spermienzahl an (11).
Neben den bis jetzt besprochenen Auswirkungen zeigen Phthalate auch endokrine Wirkungen. In den USA wurden von Grinder et al. 30 000 gesunde Frauen im Zeitraum von 1999 bis 2008 begleitet. Zur Untersuchung stand ein Zusammenhang zwischen dem Beginn der Menopause und einer erhöhten Konzentration von endokrin-zerstörenden Chemikalien (EDC). Es wurden 15 Chemikalien entdeckt, die bei erhöhten Werten Einfluss auf die Menopause haben, darunter zwei Phthalate. Frauen mit dem höchsten EDC-Spiegel hatten ihre Menopause zwischen 1,9 bis 3,8 Jahren früher als Frauen mit geringerer Belastung. Das dabei am häufigsten vorkommende ECD ist Mono-ethylphthalat (95,2 Prozent). Frauen, welche die Menopause früher bekommen, leiden auch früher unter den sich daraus ergebenen Gesundheitsfolgen, wie zum Beispiel Osteoporose und Herz-Kreislauf-Erkrankungen (12).
Wie diese endokrinen Reaktionen entstehen, lässt sich zum Teil über die Peroxisomenproliferation erklären. Durch die Biotransformation und die Abbaureaktionen in der Leber entstehen Monoethylphthalate. Diese können den ligandenaktivierbaren PPARα-Rezeptor am Zellkern aktivieren. Durch weitere Zwischenschritte werden die Promotorsequenzen unterschiedlicher Gene aktiviert. Diese Reaktion stellt eine zusätzliche Aktivierung neben einer physiologischen Reaktion dar. Die Effekte der PPARα-Rezeptor-Aktivierung in Leberzellen sind zum Beispiel Proliferation von Peroxisomen, verstärkte Mitochrondriensynthese von Enzymen der β-Oxidation, (initiale) Erhöhung der DNA-Synthese und Mitoserate, Steigerung der XME-Synthese (CYP450-Oxigenasen), Suppression von Apoptose und die Inhibition der GJIC (gap junctional intercellular communication). Aufgrund dessen kommt es wahrscheinlich zu den Folgen wie Teratogenität oder Reproduktionstoxizität. Zu beachten ist, dass der Mensch im Vergleich zur Maus nur ein bis zehn Prozent der PPARα-Rezeptordichte besitzt und so die Reaktion bei Nagetieren stärker als beim Menschen ausfällt. Die Suppression der Apoptose und die Inhibition der GJIC sind nur beim Nagetier nachzuweisen (13).
Diese durch Studien belegten Erkenntnisse wurden bereits von der EU in Gesetze integriert. DEHP, DBP, BBP und DIBP wurden in die REACH-Liste aufgenommen. Dies beinhaltet eigentlich ein generelles Verwendungsverbot bei Neuzulassungen seit dem 21. Februar. Eine Ausnahmeregelung existiert weiterhin für die Verwendung in Medizinprodukten für DEHP, DBP und BBP. Andere Ausnahmen sind, wenn der Antragsteller beweisen kann, dass die Risiken des Stoffes eingrenzbar sind oder der gesamtgesellschaftliche Nutzen deutlich über den Risiken steht. Phthalate, die noch nicht klassifiziert worden sind, können frei verwendet werden, da man ohne Klassifizierung keine Beschränkungen erteilen kann (14).
Zusammenfassung
- Die bisherigen Analysen bestätigen teratogene und endokrine Auswirkungen der Phthalate auf Mensch und Tier.
- Der Einsatz phthalathaltiger Substanzen sollte im Alltag wegen der bekannten und unbekannten Folgen, speziell für Kinder, so gering wie möglich sein.
- Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte empfiehlt, gänzlich auf Phthalate in Medizinprodukten zu verzichten (4).
- Bis Substanzen entwickelt werden, die weniger toxisch sind und die gleichen oder ähnliche Eigenschaften haben, kann es noch Jahre dauern.
Maxi Thalheim
@Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit4516
oder über QR-Code.
Abkürzungen
- DMP = Di-methyl-phthalat
- DEP = Di-ethyl-phthalat
- DEHP = Di-(2-ethylhexyl)phthalate
- DINP = Di-isononyl-phthalat
- BBP = Benzyl-butyl-phthalat
- DBP = Di-butyl-phthalat
1. | Bundesamt: Phthalate, Die nützlichen Weichmacher mit den unerwünschten Eigenschaften, Internet: www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/publikation/long/3540.pdf , Stand: Februar 2007, Abfrage: 26.02.2015 |
2. | European Council for Plasticiseres and Intermediates, Plasticisers, Internet: www.plasticisers.org/en_GB/plasticisers , Stand: 2014, Abfrage: 26.02.2015 |
3. | Ipasum, Phthalate – Weichmacher – DEHP, Phthalate (Phthalsäurediester), Entwicklung und Anwendung einer analytischen Methode zum biologischen Monitoring umwelt- und arbeitsbedingter Phthalsäurediester-Belastungen, Internet: www.arbeitsmedizin.uni-erlangen.de/forschung/studien/phthalate.shtml , Stand: 13.01.2011, Abfrage: 25.03.2015 |
4. | Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, Phthalate in Arzneimitteln: BfArM warnt vor Verunsicherung, Internet: www.bfarm.de/SharedDocs/Risikoinformationen/Pharmakovigilanz/DE/RI/2006/RI-phthalate.html , Stand: 07.03.2006, Abfrage: 26.02.2015 |
5. | Litz N, Wilcke W, Wilke BM: Bodengefährdende Stoffe, Bewertung-Stoffdaten-Ökotoxikologie-Sanierung DEHP, Internet: www.wiley-vch.de/books/sample/352732139X_c01.pdf , Stand: 2009, Abfrage: 26.02.2015 |
6. | Blount BC, et al.: Levels of Seven Urinary Phthalate Metabolites in a Human Reference Population, Environmental Health Perspectives 2000; Volume 108, Oktober 2000, Internet: www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1240132/pdf/ehp0108–000979.pdf , Abfrage: 20.03.2015 |
7. | Koch HM, Drexler H, Angerer J: An estimation of the daily intake of di(2-ethylhexyl)phthalate (DEHP) and other phthalates in the general population, Environmental Health Perspectives 2003; Volume 106, Internet: www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/12708228 , Abfrage: 20.03.2015 |
8. | Duty SM, et al. (2003): The Relationship between environmental exposures to phthalates and DNA damage in human sperm using the neutral comet assay. Environmental Health Perspectives 2003; Volume 111, Juli 2003, Internet: www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1241569/pdf/ehp0111–001164.pdf , Abfrage 20.03.2015 |
9. | Kleinsasser NH, et al.: Phthalates demonstrate genotoxicity on human mucosa of the upper aerodigestive tract. Environmental and Molecular Mutagenesis 2000; Volume 35, Internet: www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/10692222 , Abfrage: 25.03.2015 |
10. | Kavlock R, et al.: NTP Center for the Evaluation of Risks to Human Reproduction: phthalates expert panel report on the reproductive and developmental toxicity of di-n-butyl phthalate, Reproductive Toxiology; 16, Verlag: Elsevier, 2002. |
11. | Wine RN, et al.: Reproductive toxicity of di-n-butylphthalate in a continuous breeding protocol in Sprague-Dawley rats, Environmental Health Perspectives 1997; Volume 105, Internet: www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1469857/pdf/envhper00314–0102.pdf , Abfrage: 25.03.2015 |
12. | Grindler NM, et al.: Persistent organic pollutants and early menopause in U.S. women, PLOSONE 2015; 28.01.2015, Internet: http://journals.plos.org/plosone/article?id= 10.1371/journal.pone.0116057 , Abfrage: 28.03.2015 |
13. | Mensch-Sundermann V: Toxikologie der Phthalate, Akademie für Ärztliche Fortbildung und Weiterbildung der Landesärztekammer Hessen, Institut für Innenraum- und Umwelttoxikologie Universitätsklinikum der Justus-Liebig-Universität Gießen, 2005, Internet: www.frankfurt.de/sixcms/media.php/738/ToxizitaetvonPhthalaten.pdf , Abfrage: 28.03.2015 |
14. | Bayrisches Landesamt für Umwelt: Stoffinformation Phthalate, Internet: www.lfu.bayern.de/analytik_stoffe/doc/abschlussbericht_svhc.pdf , Stand: Februar 2013, Abfrage: 26.02.2015 |