POLITIK
Neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff: Das sollten Ärzte wissen


2017 beginnt das neue Begutachtungsverfahren in der Pflege. Manches Neue kommt dabei auf Pflegebedürftige und ihre Angehörigen zu. Um Fragen ihrer Patienten beantworten zu können, sollten Ärzte wissen, was sich ändert.
Otto Krämer haben die Experten des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) den Mann genannt, an dessen Krankheitsbild sie das neue Begutachtungsverfahren der Pflegeversicherung erklären wollen. Otto Krämer ist 75 Jahre alt. Seit vielen Jahren leidet er unter Bluthochdruck. Vor einigen Monaten schließlich erlitt er einen Schlaganfall. Vor zwei Wochen wurde er aus der Anschlussrehabilitation entlassen. Eine beinbetonte Halbseitenlähmung hat sich nicht wieder zurückgebildet. Deshalb ist sein Gangbild deutlich behindert. Er hat wenig Kraft im rechten Bein und auch die rechte Hand ist schwach. Otto Krämer lebt zusammen mit seiner Ehefrau in einer Etagenwohnung im ersten Stock. Er kennt seinen Medikamentenplan, kann die Tabletten aber nicht mehr selbst aus der Packung drücken. Seine Ehefrau hilft ihm dabei. Einschränkungen des Denkens und des Gedächtnisses liegen nicht vor. Nur selten plagen ihn Wortfindungsstörungen.
Noch bis zum Ende dieses Jahres würde Otto Krämer nach einer Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) in eine der drei Pflegestufen eingeordnet werden. Je höher der zeitliche Aufwand ist, den Pflegekräfte brauchen, um ihn zu pflegen, desto höher wäre die Pflegestufe. Läge der durchschnittliche tägliche Aufwand für die Grundpflege zum Beispiel bei mehr als 45 Minuten, würde Otto Krämer in die Pflegestufe 1 eingeordnet, läge er bei mindestens 120 Minuten in die Pflegestufe 2 und bei mindestens 240 Minuten in die Pflegestufe 3. Diese sogenannte Minutenpflege ist seit vielen Jahren in der Kritik. Bereits im Jahr 2009 hatte die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) einen Beirat eingesetzt, der die Neugestaltung des Begutachtungssystems in der Pflege vorbereiten sollte. Neben der Abkehr von der Minutenpflege sollten dabei Demenzerkrankungen gleichberechtigt berücksichtigt werden.
Automatische Überleitung in das neue System
Der Beirat legte ein Gutachten für eine Neugestaltung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs vor, doch lange Zeit geschah nichts. Erst das Anfang dieses Jahres in Kraft getretene Pflegestärkungsgesetz II stellte das Begutachtungssystem um. Statt des Pflegeaufwandes in Minuten soll nun anhand von kleinteiligen Fragestellungen der Grad der Selbstständigkeit der begutachteten Personen gemessen werden.
Um die Überleitung in das neue System so einfach wie möglich zu gestalten, muss kein Pflegebedürftiger neu begutachtet werden. Stattdessen werden alle Menschen, die zum 31. Dezember 2016 Geld aus der Pflegeversicherung erhalten, automatisch in einen der neuen fünf Pflegegrade übergeleitet. Pflegebedürftige ohne eingeschränkte Alltagskompetenz, die in die Pflegestufe 1 eingeordnet waren, werden dabei in den Pflegegrad 2 übergeleitet, Pflegebedürftige aus der Pflegestufe 1 mit eingeschränkter Alltagskompetenz in den Pflegegrad 3. Diese Regel gilt entsprechend bei den höheren Pflegestufen (siehe Grafik 1). Grundlage für eine eingeschränkte Alltagskompetenz sind demenzbedingte Fähigkeitsstörungen, geistige Behinderungen oder psychische Erkrankungen. Vom bisherigen System wurden diese Pflegebedürftigkeiten nur unzureichend erfasst. Man ordnete sie bislang vorläufig in der sogenannten Pflegestufe 0 ein. Diese Menschen erhalten im nächsten Jahr den Pflegegrad 2. Im November, spätestens im Dezember werden die Bescheide von den Pflegekassen an die Pflegebedürftigen verschickt. Wer bis Weihnachten keinen Bescheid erhalten hat, sollte bei seiner Kasse nachfragen.
Um die Akzeptanz der Reform bei den Pflegebedürftigen zu erhöhen, wird niemand schlechter gestellt, das heißt niemand erhält künftig weniger Geld aus der Pflegeversicherung als bisher. Beim Übergang von der Pflegestufe 1 in den Pflegegrad 3 steigt das Pflegegeld zum Beispiel von 316 Euro auf 545 Euro, die Pflegesachleistung von 689 Euro auf 1 298 Euro und die Leistungen im Bereich der vollstationären Pflege von 1 064 Euro auf 1 262 Euro. Nur beim Übergang von der Pflegestufe 1 in den Pflegegrad 2 und von der Pflegestufe 2 in den Pflegegrad 3 zahlt die Pflegeversicherung bei vollstationär gepflegten Menschen weniger als bisher. Wegen der Bestandsschutzregelung erhöht sich der Eigenanteil für Angehörige auch in diesen Fällen jedoch nicht. Grundsätzlich bleiben die Eigenanteile für die Pflegegrade 2 bis 5 gleich hoch, auch bei steigender Pflegebedürftigkeit.
Wer ab dem 1. Januar 2017 einen Antrag für eine Pflegebegutachtung stellt, wird von den Mitarbeitern des MDK nach dem neuen System begutachtet. Anhand von sechs verschiedenen Modulen versuchen sie auf diese Weise, den Grad der Selbstständigkeit der Pflegebedürftigen zu ermitteln. In jedem Modul gibt es unterschiedliche Fragestellungen, bei der Mobilität zum Beispiel, ob ein Positionswechsel im Bett oder das Treppensteigen möglich ist. Jede Fragestellung kann mit „selbstständig“ (0 Punkte werden vergeben), „überwiegend selbstständig“ (1 Punkt), „überwiegend unselbstständig“ (2 Punkte) oder „unselbstständig“ (3 Punkte) bewertet werden. Am Ende werden alle Punkte zusammengezählt. Anhand der Punktzahl wird dann der Pflegegrad ermittelt: Ab 12,5 Punkten gilt Pflegegrad 1, ab 27 Punkten Pflegegrad 2, ab 47,5 Punkten Pflegegrad 3, ab 70 Punkten Pflegegrad 4 und ab 90 Punkten Pflegegrad 5. Beim Zusammenzählen der Punkte werden die einzelnen Module dabei unterschiedlich gewichtet (siehe Grafik 2). Beim Modul 2 „Kognitive und kommunikative Fähigkeiten“/„Verhaltensweisen und psychische Problemlagen“ wird nur derjenige dieser beiden Bereiche gewertet, in dem ein höherer Punktwert erzielt wurde.
Mehr Menschen erhalten Geld aus der Pflegeversicherung
Bei Otto Krämer ist die Mobilität eingeschränkt. Beim Treppensteigen wird er als „überwiegend unselbstständig“ eingestuft, beim Umsetzen als „überwiegend selbstständig“. Die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten sind bei ihm gut ausgeprägt, hier ist er „selbstständig“, Gleiches gilt für den Bereich „Verhaltensweisen und psychische Problemlagen“. Bei der Selbstversorgung ist Herr Krämer beim Waschen des Intimbereichs und beim Duschen und Baden „überwiegend unselbstständig“ und bei der Körperpflege im Bereich des Kopfes, beim An- und Auskleiden des Oberkörpers, beim An- und Auskleiden des Unterkörpers, beim mundgerechten Zubereiten der Nahrung und Eingießen von Getränken und beim Benutzen einer Toilette „überwiegend selbstständig“. Beim selbstständigen Umgang mit krankheitsbedingten Anforderungen muss seine Frau ihm einmal am Tag bei der Medikation helfen. Und bei der Gestaltung des Alltagslebens benötigt er Hilfe beim Aufstehen und beim Schlafengehen, in diesen Bereichen ist er „überwiegend selbstständig“. Addiert und gewichtet erhält Otto Krämer insgesamt 31,25 Punkte und damit Pflegegrad 2.
Wer im aktuellen System keine Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten hätte, kann künftig in den Pflegegrad 1 eingeordnet werden. Deshalb rechnet der MDS damit, dass künftig 200 000 Pflegebedürftige erstmals Geld aus der Pflegeversicherung erhalten.
Veränderungen gibt es auch für pflegende Angehörige. Sie werden in der Renten- und Arbeitslosenversicherung besser abgesichert. Zudem werden Hilfen verbessert, etwa für den Urlaub oder bei eigener Krankheit. Bezahlt werden die neuen Regelungen durch eine Anhebung des Pflegversicherungsbeitrages um
0,5 Prozentpunkte.
Falk Osterloh
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