ArchivDeutsches Ärzteblatt51-52/2016Geschlechtsspezifische Medizin in der Lehre: Noch in den Kinderschuhen

THEMEN DER ZEIT

Geschlechtsspezifische Medizin in der Lehre: Noch in den Kinderschuhen

Ludwig, Sabine; Dettmer, Susanne; Peters, Harm; Kaczmarczyk, Gabriele

Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...
LNSLNS

Die Integration von geschlechtsspezifischer Medizin in die medizinischen Curricula ist deutschlandweit sehr heterogen geregelt. Übergreifende Konzepte zur besseren inhaltlichen und strukturellen Verankerung sind künftig notwendig.

Foto: dpa
Foto: dpa

Notwendigkeit und Realität sind nicht immer beieinander. So auch bei den ärztlichen Kenntnissen über geschlechtsspezifische Besonderheiten. Um die Qualität der medizinischen Versorgung von Frauen und Männern sicherzustellen und zu verbessern, müssen zukünftige Ärztinnen und Ärzte eigentlich über umfangreiche Kenntnisse zu Geschlechterunterschieden bei der Diagnose, Pathogenese, Therapie und Prävention von Erkrankungen verfügen (1). Eine Umfrage des Deutschen Ärztinnenbundes zeigte
jedoch, dass Inhalte der geschlechtsspezifischen Medizin an den medizinischen Fakultäten in Deutschland noch nicht ausreichend im Medizinstudium integriert sind – auch wenn einige Fakultäten Maßnahmen diesbezüglich unternommen haben.

Systematische Integration

Künftige Ärztinnen und Ärzte sollen während ihrer Ausbildung befähigt werden, die eigene Geschlechterrolle kritisch zu reflektieren, gendersensibel zu agieren sowie Geschlechterunterschiede bei Forschungsprojekten zu berücksichtigen, wie beispielsweise bei der Zusammensetzung einer Studienkohorte und bei der Interpretation der Ergebnisse. Geschlechtsspezifische Aspekte müssen daher systematisch in die medizinischen Curricula integriert werden (1).

Die geschlechtsspezifische Medizin betrachtet Unterschiede von Frauen und Männern bei verschiedenen Krankheiten und berücksichtigt dabei sowohl die biologische („sex“) als auch die soziokulturelle („gender“) Dimension. Dabei umfasst das biologische Geschlecht unter anderem die Reproduktionsorgane, die Sexualhormone und die Genexpression der X- und Y-Chromosomen. Das soziokulturelle Geschlecht („gender“) wird mit gesellschaftlichen Erwartungen, Lebensstil, Verhalten und Lebenserfahrung in Verbindung gebracht (2). Beide beeinflussen sich gegenseitig und führen zu Geschlechterunterschieden bei Erkrankungen wie beispielsweise bei kardiovaskulären, neurologischen, psychiatrischen und Autoimmunerkrankungen sowie im Gesundheits- und Präventionsverhalten. So haben Männer ein höheres Risiko, an Schilddrüsenkarzinomen zu erkranken, und bestimmte Erkrankungen wie Osteoporose oder Depressionen werden häufig nicht erkannt – wobei nichttumoröse Schilddrüsenerkrankungen bei Frauen häufiger vorkommen. Zudem gibt es Unterschiede in der Pharmakokinetik und Pharmakodynamik, die bei der ärztlichen Therapie berücksichtigt werden müssen (3).

Auch die medizinische Versorgung sowie die Arzt-Patienten-
Interaktion kann nicht unabhängig vom Geschlecht betrachtet werden. Frauen werden häufiger Medikamente verschrieben, sie erhalten häufiger Psychopharmaka und geben in der Regel mehr Geld für Medikamente aus (3). Die steigende Zahl von Kongressen und Konferenzen zu geschlechtsspezifischen medizinischen Inhalten belegt das wachsende öffentliche und medizinische Interesse sowie die Bedeutung dieses Themas.

Umfrage an den Fakultäten

Ziel des Deutschen Ärztinnenbundes war es, den Stand der Integration von Inhalten der geschlechtsspezifischen Medizin an den medizinischen Fakultäten in Deutschland zu erheben und diesen anhand aktueller Standards zu bewerten. Dazu wurde ein halbstandardisierter Fragebogen erstellt, der im vergangenen Jahr an alle Studiendekane und Studiendekaninnen der 36 medizinischen Fakultäten in Deutschland versandt wurde. Es wurde gefragt, ob es an den jeweiligen Fakultäten hauptamtliche Beauftragte gebe, die sich um die Integration geschlechtsspezifischer Aspekte kümmern. Zudem wurde erfragt, ob Lehrmaterialien auf Genderinhalte geprüft werden und wer diese Prüfung durchführt. Des Weiteren wurde erfragt, ob geschlechterbezogene Forschungsergebnisse Eingang in die studentische Lehre finden und wer die Nachhaltigkeit dieser Vorhaben garantiert.

Die Antworten der 32 Fakultäten, die an der Umfrage teilnahmen (89 Prozent Rücklauf), zeigen eine große Spannweite: Die Integration von Inhalten der geschlechtsspezifischen Medizin in das Medizinstudium ist offensichtlich an den medizinischen Fakultäten in Deutschland sehr unterschiedlich geregelt (siehe Grafik). Bei 13 Fakultäten liegt die Integration von geschlechtsspezifischer Medizin „in der Hand der Lehrbeauftragten“. Diese Fakultäten sind der Ansicht, dass „die Lehrstuhlinhaber und Lehrstuhlinhaberinnen für die Lehrinhalte verantwortlich seien“. Es wird nicht zentral sichergestellt, dass Genderaspekte gelehrt und geprüft werden. Zwei Fakultäten haben eine hauptamtliche Beauftragte und eine Fakultät eine ehrenamtliche Beauftragte, die übergeordnet die Aufgabe der Integration von geschlechtsspezifischen Aspekten wahrnehmen. Eine weitere Fakultät plant, eine hauptamtlich Beauftragte oder einen Beauftragten einzusetzen. Sieben Fakultäten haben eine Arbeitsgruppe,
einen Steuerkreis, ein Prodekanat beziehungsweise eine Servicestelle, die mit Gender in der Lehre beauftragt ist. Sieben Fakultäten
betrachten dies als Aufgabe der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten. Eine Fakultät meldet zurück, dass dafür keine Ressourcen zur Verfügung stehen.

Strukturen zur Sicherung der Integration von geschlechtsspezifischen Aspekten in die Lehre
Grafik
Strukturen zur Sicherung der Integration von geschlechtsspezifischen Aspekten in die Lehre

Von den 32 teilnehmenden Fakultäten geben ferner 16 Fakultäten an, dass sie keine genauen Angaben machen könnten, wo Genderaspekte in ihren medizinischen Curricula integriert sind. Neun Fakultäten bieten ein Wahlpflichtfach und vier eine Ringvorlesung zum Thema Gendermedizin an, eine Fakultät plant hierzu ein Wahlpflichtfach. Eine Fakultät erwähnt zudem die Berücksichtigung von geschlechtsspezifischem Lernverhalten.

Auch die Anzahl der Fachgebiete, in denen Genderaspekte integriert sind, variiert an den Fakultäten. So nennen 16 Fakultäten mehr als zwei Fachgebiete, wobei die Fachgebiete Medizinische Soziologie, Psychiatrie, Psychosomatik, Public Health und Arbeitsmedizin/Sozialmedizin am häufigsten genannt werden. Nur fünf Fakultäten haben in den Fachgebieten Kardiologie und Pharmakologie geschlechtsspezifische Aspekte integriert.

Neben der Integration von Inhalten der geschlechtsspezifischen Medizin in die Unterrichtsformate ist es aber auch wichtig zu prüfen, ob diese auch in die Lehrmaterialien (Kurs- und Modulhandbücher, Skripte, Anleitungen, Fälle für problemorientiertes Lernen und Fallbeispiele) integriert sind. Die Umfrage des Deutschen Ärztinnenbundes zeigte: Nur in vier Fakultäten werden Lehrmaterialien auf Genderinhalte geprüft. In den anderen 28 Fakultäten, die an der Befragung teilnahmen, geschieht dies nicht. Weitere Ergebnisse: In acht Fakultäten finden geschlechterbezogene Forschungsergebnisse Eingang in die medizinische Lehre, in einer Fakultät werden diese vereinzelt dargestellt. In 13 Fakultäten liegt dies in der Hand der Lehrbeauftragten. Bei acht Fakultäten liegt keine Analyse vor, wo diese integriert sind, und zwei Fakultäten sind der Ansicht, dass „aufgrund der Einheit von Forschung und Lehre beide per se thematisch Hand in Hand gehen“.

Neben der Integration von Inhalten der geschlechtsspezifischen Medizin müssen Strukturen geschaffen werden, um auch die Nachhaltigkeit der integrierten Inhalte sicherzustellen. Die Verantwortung der Integration von geschlechtsspezifischer Medizin in die medizinische Lehre ist in einigen Fakultäten mit der Nachhaltigkeit der integrierten Aspekte identisch.

Derzeit hat in Deutschland nur eine einzige Fakultät die vollständige Integration geschlechtsspezifischer Aspekte in die medizinische Lehre erreicht. Foto: mauritius images
Derzeit hat in Deutschland nur eine einzige Fakultät die vollständige Integration geschlechtsspezifischer Aspekte in die medizinische Lehre erreicht. Foto: mauritius images

Aufbau von festen Strukturen

In sechs Fakultäten garantiert die medizinische Fakultät, das Dekanat, das Prodekanat für Studium und Lehre oder das Präsidium der Universität die Vorhaben. In drei Fakultäten liegt neben der Integration auch die Aufgabe der Nachhaltigkeit der integrierten geschlechtsspezifischen Aspekte in der Verantwortung der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten, in drei weiteren Fakultäten gemeinsam in der Hand der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten sowie dem Studiendekanat und in zwei Fakultäten in der Verantwortung einer Expertengruppe für Gender und Diversity. Fünf Fakultäten verweisen darauf, dass sie keine Vorhaben zur Etablierung von Strukturen zur Nachhaltigkeit geschlechtsspezifischer Inhalte hätten.

Was bedeutet dies für die medizinische Ausbildung in Deutschland? In mehreren europäischen Ländern werden Inhalte der geschlechtsspezifischen Medizin bereits in die medizinischen Curricula integriert. Zieht man die aktuellen internationalen Bewertungsmaßstäbe (4, 5) heran, hat hierzulande nur eine Fakultät alle Kriterien für eine ausreichende Integration erfüllt. Es bleibt also viel zu tun: Eine systematische Integration von geschlechtsspezifischer Medizin in medizinische Curricula deutschlandweit könnte beispielsweise anhand des NKLM (Nationaler Kompetenzorientierter Lernzielkatalog Medizin) erfolgen. Zudem sollte die Aufnahme des Themengebiets geschlechtsspezifische Medizin als eigener Querschnittsbereich in der Approbationsordnung angeregt werden. Die inhaltliche Integration und fachliche Weiterbildung im Gebiet der geschlechtsspezifischen Medizin kann beispielsweise durch interaktive oder online angebotene Genderlernmodule unterstützt werden.

Neben der Integration der Perspektive „Geschlecht“ wäre es zukünftig erstrebenswert, weitere Diversitätskategorien wie beispielsweise ethnische Herkunft, Religion oder Weltanschauung, körperliche Beeinträchtigungen und sexuelle Identität in das medizinische Curriculum aufzunehmen. Zudem sollte die Integration auch in die Curricula weiterer Gesundheitsprofessionen einschließlich der Zahnmedizin erfolgen.

  • Zitierweise dieses Beitrags:
    Dtsch Arztbl 2016; 113 (51): A 2364–6

Anschrift für die Verfasser
Sabine Ludwig,
Prodekanat für Studium und Lehre
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Charitéplatz 1, 10117 Berlin

1.
Lagro-Janssen T: Gender and sex: issues in medical education. GMS Ger Med Sci 2010; 27(2): Doc27 CrossRef
2.
Regitz-Zagrosek V: Sex and gender differences in health. EMBO
2012; 13: 596–603 CrossRef MEDLINE PubMed Central
3.
Oertelt-Prigione S, Regitz-Zagrosek V (eds.): Sex and gender aspects in clinical medicine. London: 2012.
4.
Verdonk P, Mans LJ, Lagro-Janssen AL: Integrating Gender into a Basic Medical Curriculum. Med. Educ 2005, 39 (11):
1118–25 CrossRef MEDLINE
5.
Ludwig S, Oertelt-Prigione S, Kurmeyer C, Grüters-Kieslich A, Gross M, Regitz-Zagrosek V, Peters H: A Successful Strategy to Integrate Sex and Gender Medicine into a Newly Developed Medical Curriculum. Journal of Women‘s Health. 2015; 24 (12): 996–1005 CrossRef MEDLINE

Prodekanat für Studium und Lehre, Charité Berlin: Dr. rer. medic. Ludwig


Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft, Charité Berlin: Dr. phil. Dettmer


Dieter Scheffner Fachzentrum für medizinische Hochschullehre der Charité Berlin:
Prof. Dr. med. Peters


Vorstand Deutscher Ärztinnenbund: Prof. Dr. med. Kaczmarczyk

Strukturen zur Sicherung der Integration von geschlechtsspezifischen Aspekten in die Lehre
Grafik
Strukturen zur Sicherung der Integration von geschlechtsspezifischen Aspekten in die Lehre
1. Lagro-Janssen T: Gender and sex: issues in medical education. GMS Ger Med Sci 2010; 27(2): Doc27 CrossRef
2. Regitz-Zagrosek V: Sex and gender differences in health. EMBO
2012; 13: 596–603 CrossRef MEDLINE PubMed Central
3.Oertelt-Prigione S, Regitz-Zagrosek V (eds.): Sex and gender aspects in clinical medicine. London: 2012.
4. Verdonk P, Mans LJ, Lagro-Janssen AL: Integrating Gender into a Basic Medical Curriculum. Med. Educ 2005, 39 (11):
1118–25 CrossRef MEDLINE
5. Ludwig S, Oertelt-Prigione S, Kurmeyer C, Grüters-Kieslich A, Gross M, Regitz-Zagrosek V, Peters H: A Successful Strategy to Integrate Sex and Gender Medicine into a Newly Developed Medical Curriculum. Journal of Women‘s Health. 2015; 24 (12): 996–1005 CrossRef MEDLINE

Kommentare

Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.

Fachgebiet

Zum Artikel

Der klinische Schnappschuss

Alle Leserbriefe zum Thema

Stellenangebote