SUPPLEMENT: Perspektiven der Onkologie
Onkologische Studien: Eine Herausforderung im Zeitalter neuer Therapien


Für viele Krebspatienten liegt der Nutzen einer Behandlung nicht nur in einer längeren Lebenszeit, sondern auch in einem längeren krankheits- oder progressionsfreien Überleben bei guter Lebensqualität.
Die Onkologie wird zurzeit geprägt durch eine Flut neu zugelassener Arzneimittel (Grafik 1). Basis sind ein besseres Verständnis der pathophysiologischen Grundlagen von Krebs und die sich daraus ergebenden Ansätze für stärker zielgerichtete Therapien.
Die rasche Erweiterung der therapeutischen Optionen ist eine große Herausforderung in Leitlinien und Behandlungsalgorithmen. Für Krankenkassen und die Solidargemeinschaft stellt sich die Frage der nachhaltigen Finanzierung. Das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) von 2010 hat die frühe Nutzenbewertung durch den G-BA als Basis der Preisverhandlungen zwischen Krankenkassen und pharmazeutischen Unternehmen eingeführt. Konzeptioneller Hintergrund ist eine nutzenorientierte Erstattung. Bei der Umsetzung haben sich Fragen ergeben, die das Design und die Auswertung zukünftiger onkologischer Studien beeinflussen.
Zulassung versus Nutzenbewertung
Ergebnisse der bis Ende 2016 abgeschlossenen Verfahren zu Onkologika im Rahmen des AMNOG-Prozesses sind in Grafik 2 dargestellt.
- In 23 % der bisher 79 abgeschlossenen Verfahren zu Onkologika wurde bei der frühen Nutzenbewertung vom G-BA für die gesamte Indikation (einschl. aller Subgruppen) die Festlegung „Zusatznutzen nicht belegt“ getroffen.
- Bei 77 % der Verfahren wurde in mindestens einer Subgruppe ein Zusatznutzen festgelegt,
- bei 20 % der 79 Verfahren war der Zusatznutzen „nicht quantifizierbar“.
- Bei Auswertung aller Subgruppen ergab sich in 45 % die Festlegung „Zusatznutzen nicht belegt“.
Einer der entscheidenden Faktoren zur Erklärung der Diskrepanzen zwischen Zulassung und Nutzenbewertung sind die unterschiedlichen Evaluationskriterien. Inhalte der Zulassung sind Wirksamkeit und Sicherheit, im Unterschied dazu ist die Bewertung nach dem AMNOG auf den Zusatznutzen des neuen Arzneimittels ausgerichtet.
Für den obligaten Vergleich wird vor Beginn des Verfahrens vom G-BA ein Komparator festgelegt, der sich strikt an den Zulassungsbestimmungen orientiert. Dieser ist nicht immer mit den Empfehlungen der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften identisch.
Im Verständnis der European Medicines Agency (EMA), noch ausgeprägter der Food and Drug Administration (FDA) der USA, können ausreichende Daten zu Wirksamkeit und Sicherheit auch aus Phase- I/II-Studien generiert werden. Das hat in den letzten Jahren vermehrt zu beschleunigten Zulassungen von Präparaten in Indikationen mit ungedecktem medizinischen Bedarf geführt – und wegen des Fehlens von Daten aus mindestens einer Phase-III-Studie fast zwangsläufig zu divergierenden Ergebnissen in der Nutzenbewertung.
Ein kritischer Unterschied sind die Endpunkte
Ein weiterer kritischer Unterschied zwischen Zulassung und Nutzenbewertung sind die Endpunkte (1). Für klinische Studien ist die Definition eines primären Endpunktes erforderlich. Höchstes Ziel bei der Behandlung ist eine Heilung ohne negative Folgen. Bei vielen Krebserkrankungen ist dieses Ziel heute erreichbar, bei vielen aber auch nicht.
In fast allen, bisher abgeschlossenen Verfahren der frühen Nutzenbewertung in der Onkologie wurden Arzneimittel in palliativer Indikation eingebracht. Die Vielfalt möglicher und sinnvoller Endpunkte ist in Grafik 3 dargestellt.
Das Gesamtüberleben muss in allen Bewertungen berücksichtigt werden. In Studienpopulationen kann der Einfluss einer Therapieintervention auf das Überleben als mediane Überlebenszeit oder als Überlebensrate nach einer definierten Zeit erfasst werden. Gerade bei den Immuntherapeutika scheint der Gewinn in der höheren Rate von Patienten mit langer Überlebenszeit zu liegen.
Allerdings ist in der modernen Onkologie die Messung des Überlebens nicht immer der optimale Parameter für die Evaluation der Wirksamkeit. Zu den störenden Einflussfaktoren gehört Switching (Crossover): Patienten können bei Krankheitsprogress oder -rezidiv unter definierten Bedingungen in den jeweils anderen Arm wechseln, am häufigsten vom Placebo- in den Verum-Arm. Hintergrund sind ethische Überlegungen (2). Bei neuen Arzneimitteln ist Switching zugelassen und wird bei bis zu 90 % der Patienten in Anspruch genommen (1).
Eine weitere Variable ist die Postprogressionstherapie: In der Onkologie stehen in zunehmendem Maße mehrere wirksame und zugelassene Arzneimittel auch für die Zweit-, Dritt- und weitere Therapielinien zur Verfügung (1). Der Einsatz dieser Therapieoptionen kann Einfluss auf den Endpunkt Gesamtüberleben haben. Insbesondere in Studien mit einer Überlebenszeit von mehr als 12 Monaten nach der Progression wird das Endergebnis durch weitere Ereignisse und Einflussfaktoren substanziell beeinflusst (3).
Zur besseren Bewertung des Einfluss eines spezifischen neuen Arzneimittels auf den Krankheitsverlauf ist die Auswertung von Parametern der Morbidität und der Lebensqualität erforderlich. In der Zulassung sind progressionsfreies Überleben oder Zeit bis zum Progress die am häufigsten verwendeten, primären Endpunkte bei Studien zur Wirksamkeit neuer Arzneimittel in der palliativen Therapie. Da sich die Feststellung eines Krankheitsprogresses oft nur auf bildgebende oder laborchemische Diagnostik beschränkt, schlagen wir „PFÜ/PFS plus“ als Endpunkt vor. Mit „plus“ sind klinische Parameter gemeint, zum Beispiel Symptome oder Therapiewechsel.
Subgruppen
Studienpopulationen können heterogen bezüglich Prognose und Therapiewirkung sein. Bei fast der Hälfte der bisher abgeschlossenen Verfahren wurden vom G-BA Subgruppen als Basis der frühen Nutzenbewertung – das heißt für die Dossiers der Hersteller, den Bericht des IQWiG und auch für die abschließende Festlegung – definiert.
Die Chance von Subgruppenanalysen liegt in der Identifikation einer Variablen oder einer Kombination von Variablen, die einen signifikanten und klinisch relevanten Einfluss auf den Einsatz des untersuchten Arzneimittels hat – entweder im Sinne einer präferenziellen Gabe oder im Sinne einer Vermeidung.
Auf der anderen Seite sind Subgruppenanalysen anfällig für Manipulationen, Verzerrungen und falsche Schlussfolgerungen durch spezielle Selektion der Daten, insbesondere wenn die Subgruppen nachträglich (post hoc) in Kenntnis der vorliegenden Ergebnisse definiert wurden.
Die wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften haben sich mit diesem Thema beschäftigt (4) und unterscheiden:
- Subgruppen mit unterschiedlicher Standard- und Vergleichstherapie (prädiktive Merkmale)
- Subgruppen mit unterschiedlichem Verlauf (prognostische Merkmale):
– Krankheitsverlauf
– Ansprechen auf die Therapie
Ein zentrales Kriterium für die Subgruppenbildung im Rahmen der frühen Nutzenbewertung ist, dass diese Subgruppen auch in aktuellen Leitlinien oder Empfehlungen von Fachgesellschaften definiert sind. Dann besteht begründeter Konsens über deren klinische Relevanz. Subgruppenanalysen im Rahmen klinischer Studien sollen präspezifiziert sein, also a priori festgelegt sein.
Post-hoc-Analysen (a posteriori) haben grundsätzlich ein erhöhtes Verzerrungspotenzial. Eine Ausnahme können prospektiv-retrospektive Studien sein, bei denen Untersuchungsmaterial/-daten vor Therapiebeginn ergebnisoffen asserviert wurden.
Fazit
- Die frühe Nutzenbewertung hat großen Einfluss auf den Einsatz der vielen neuen Arzneimittel in der Onkologie.
- Nach Verabschiedung des jetzt geplanten GKV-Arzneimittelverordnungsstärkungsgesetz wird die Bedeutung voraussichtlich noch deutlich steigen.
- Wissenschaftliche medizinische Fachgesellschaften, Arbeitsgemeinschaften, Berufsverbände und andere müssen sich qualifiziert in den Diskussionsprozess einbringen, um die Balance zwischen Verfügbarkeit der neuen Arzneimittel für die betroffenen Patienten und unserer Verantwortung im Rahmen der Solidargemeinschaft zu erreichen. ▄
DOI: 10.3238/PersOnko/2017.02.03.04
Prof. Dr. med. Bernhard Wörmann
Medizinischer Leiter
Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie
Ambulantes Gesundheitszentrum der Charité, Universitätsmedizin Berlin
Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
@Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit0517
Health Care 2016; 32 (3): 167–74. DOI: 10.1017/S026646231600009X CrossRef
(last accessed on 21 December 2016).
1. | Wörmann B, et al.: Frühe Nutzenbewertung neuer Arzneimittel in Deutschland 2011–2014. https://www.dgho.de/informationen/gesundheitspolitische-schriftenreihe/band-6 (last accessed on 21 December 2016). |
2. | Henshall C, Latimer N, Sansom L, Ward RL: Treatment switching in cancer trials: issues and proposals. Int J Technol Assess Health Care 2016; 32 (3): 167–74. DOI: 10.1017/S026646231600009X CrossRef |
3. | Broglio KR, Berry DA: Detecting an overall survival benefit that is derived from progression-free survival. J Natl Cancer Inst 2009; 23: 1642–9. DOI: 10.1093/jnci/djp369 CrossRef |
4. | Wörmann B, et al.: Frühe Nutzenbewertung neuer Arzneimittel in Deutschland – Subgruppen. Definition, Analyse und Kriterienkatalog. https://www.dgho.de/informationen/gesundheitspolitische-schriftenreihe/band-8-fruehe-nutzenbewertung-subgruppen (last accessed on 21 December 2016). |
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