ArchivDeutsches Ärzteblatt8/2017Seltene Erkrankungen (2): Genau hinschauen und „dran denken“

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Seltene Erkrankungen (2): Genau hinschauen und „dran denken“

Zylka-Menhorn, Vera

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Lysosomale Speicherkrankheiten werden im pädiatrischen Alltag häufig übersehen, fehlgedeutet oder zu spät erkannt. Damit werden Therapiechancen vertan. Verdachtsfälle sollten frühzeitig an ein Stoffwechselzentrum überwiesen werden

Morbus Gaucher: Nicht abgebautes Glukozerebrosid sammelt sich in Makrophagen von Knochen, Knochenmark, Milz, Leber und Lunge an. Die Folge: Spleno- und Hepatomegalie, Knochenaffektionen, Thrombozytopenie und/oder Anämie.
Morbus Gaucher: Nicht abgebautes Glukozerebrosid sammelt sich in Makrophagen von Knochen, Knochenmark, Milz, Leber und Lunge an. Die Folge: Spleno- und Hepatomegalie, Knochenaffektionen, Thrombozytopenie und/oder Anämie.

Lysosomale Speicherkrankheiten (LSD) wie Morbus Fabry, Morbus Gaucher und Morbus Hunter gehören mit einer Inzidenz von 1:7 500 zu den Seltenen Erkrankungen (SE). Hierbei handelt es sich um systemische Krankheiten mit breiter, oft unspezifischer und daher schwierig einzuordnender Symptomvielfalt. „Angeborene Stoffwechselerkrankungen können sich in jedem Lebensalter manifestieren, wobei die Erstmanifestation in über 50 % der Fälle im 1. Lebensjahr zu beobachten ist“, berichtete Prof. Dr. med. Julia Hennermann, Leiterin der Villa Metabolica Universitäts-Kinderklinik Mainz, bei der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) in Hamburg.

Der Fall eines 15-jährigen Jungen mache deutlich, so Hennermann, wie wichtig es ist, bei unklaren Fällen noch einmal genauer hinzusehen. Der kleinwüchsige Junge erhielt seit dem vierten Lebensjahr eine Wachstumshormontherapie, ging zum Gymnasium mit guten Leistungen und machte dreimal wöchentlich Sport. Er klagte über rezidivierende Schmerzen in den unteren Extremitäten sowie punktförmige röt-liche Veränderungen an beiden Knien (Angiokeratome). Labor und klinische Untersuchung zeigten keine Auffälligkeiten. Bei der genauen Inspektion des Gesichts fielen am Rand der Lippen punktförmige rötliche Veränderungen (Angiokeratome) auf. Die weiteren Untersuchungen ergaben eine leichte Proteinurie. Röntgen-Thorax und Abdomen-Sonographie waren unauffällig.

Klassische Symptomatik fehlt

Diagnoseführend seien in diesem Fall die punktförmigen, rötlichen Veränderungen der Haut gewesen, berichtete Hennermann. Denn bei Kindern mit Morbus Fabry würden initial Angiokeratome (circa 80 %), Akroparästhesien (circa 80 %), Wärme- und Kälteintoleranz sowie Hypohidrosis beobachtet. Die Stoffwechselerkrankung wird X-chomosomal vererbt. Klinisch betroffen sind aber sowohl Jungen als auch Mädchen. Vererbt werden Mutationen des GLA-Gens, die dazu führen, dass das Enzym α-Galaktosidase nicht oder nur in unzureichender Menge für den lysosomalen Abbau von Globotriaosylceramid (Gb3) zur Verfügung steht, sodass Gb3 in den Zellen akkumuliert. Dies führt zu progressiven Zellfunktionsstörungen und einer Multiorganerkrankung. Kinder leiden häufig unter neuropathischen Schmerzattacken und gastrointestinalen Beschwerden. Allerdings: Es gibt keine klassische Symptomatik, häufig sind die Patienten mono- oder oligosymptomatisch.

Zur Sicherung der Diagnose ist bei Jungen zu überprüfen, ob die α-Galaktosidase-Aktivität erniedrigt ist. Bei weiblichen Patienten ist prinzipiell eine molekulargenetische Untersuchung erforderlich. Der spezifische Nachweis einer Hornhauttrübung (Cornea verticillata) ist ein zusätzlicher Hinweis auf das Vorliegen eines Morbus Fabry. Die Progression kann mit einer Enzymersatztherapie (Agalsidase alfa) verlangsamt werden.

Als zweiten Fall stellte Hennermann ein 10-jähriges Mädchen aus dem Kosovo vor, das seit 5 Wochen unter starken Schmerzen und einer Schwellung des rechten Unterschenkels litt. Das Mädchen war fieberfrei und hatte gelegentliches Nasenbluten. 6 Monate zuvor fiel erstmalig eine vergrößerte Leber auf. Im Labor fielen Thrombozyto- und Leukopenie auf, der Hb war leicht erniedrigt.

Eine Sonographie des Unterschenkels und des Abdomens wies auf einen Knocheninfarkt und eine Hepatosplenomegalie hin: Das Kind hat Morbus Gaucher, die häufigste der rund 50 lysosomalen Speicherkrankheiten. Zur Diagnoseabsicherung rät Hennermann zur Messung der Chitotriosidase-Aktivität und der Beta-Glukozerebrosidase-Aktivität im Blut.

Bei Morbus Fabry können Angiokeratome, Akroparästhesien, Wärmeund Kälteintoleranz sowie Hypohidrosis wegweisend für die Diagnose sein. Allerdings: Häufig sind die Kinder mono- oder oligosymptomatisch. Fotos: Universitätsmedizin Mainz, Villa Metabolica
Bei Morbus Fabry können Angiokeratome, Akroparästhesien, Wärmeund Kälteintoleranz sowie Hypohidrosis wegweisend für die Diagnose sein. Allerdings: Häufig sind die Kinder mono- oder oligosymptomatisch. Fotos: Universitätsmedizin Mainz, Villa Metabolica

Für das breite Symptomspektrum bei Morbus Gaucher sind Mutationen auf dem GBA-Gen verantwortlich, die autosomal-rezessiv vererbt werden. Die Gen-Mutationen führen zum Mangel des Enzyms Beta-Glukozerebrosidase, sodass Glukozerebrosid nicht abgebaut wird, sondern sich in Makrophagen ansammelt. Die charakteristischen, mit Glukozerebrosid beladenen Makrophagen werden auch Gaucher-Zellen genannt.

Sie lassen sich meist in Milz, Leber und Knochenmark, gelegentlich in der Lunge nachweisen. „Diese Organe sind damit auch die klinischen Prädilektionsstellen des Morbus Gaucher“, so Hennermann. Typische Symptome, die auf die Erkrankung hinweisen können, sind Splenomegalie, Hepatomegalie, Knochenaffektionen (zum Beispiel Knochennekrosen), Thrombozytopenie und/oder Anämie.

„Die Blickdiagnose und an eine lysosomale Speicherkrankheit denken“, ist auch von Bedeutung in dem von PD Dr. Nicole Muschol, Universitätskinderklinik in Hamburg-Eppendorf, vorgestellten Fall: Nach unauffälliger Schwangerschaft und unauffälliger Familienanamnese kam ein relativ schweres und großes Kind zur Welt. „3 Wochen später berichtete die Mutter, dass das Neugeborene auffällig atme“, führte Muschol aus. Es folgten rezidivierende Bronchitiden, im Alter von 3 Monaten eine Pneumonie gefolgt von obstruktiven Apnoen.

Eine geplante Adenotomie im 11. Lebensmonat scheiterte zunächst an einer zu großen Zunge, konnte dann aber mit 12 Monaten in einer anderen Klinik durchgeführt werden. Auffällig an dem Jungen waren zudem seine groben Gesichtszüge und sein großer Kopf. „Er war weiterhin zu groß und schwer mit einem zu großen Kopf“, berichtete Muschol. Das Abdomen war vorgewölbt und eine kleine Nabelhernie sichtbar. Es lag keine Splenomegalie, aber eine Hepatomegalie vor. Besonders auffällig waren die Einschränkungen der Gelenkbeweglichkeit sowie eine Sprachentwicklungsverzögerung.

Glykosaminoglykane im Urin

Aufgrund dieser Symptomatik wurde mit 21 Monaten die Diagnose Morbus Hunter (Mukopolysaccharidose Typ II, MPS) gestellt. „Typische Befunde sind Dysmorphie, Hepatomegalie und Gelenkkontrakturen sowie im Vergleich zu anderen MPS-Erkrankungen eine fehlende Hornhauttrübung“ so Muschol. Labordiagnostisch lag die Enzymaktivität der Iduronat-2-Sulfatase unter der Nachweisgrenze, die Konzentration der Glykosaminoglykane im Urin war stark erhöht. Die molekulargenetische Untersuchung bestätigte die Diagnose.

Auch der Morbus Hunter wird X-chromosomal vererbt. Durch Mutation im IDS-Gen wird das Enzym Iduronat-2-Sulfatase (I2S) nicht oder in zu geringen Mengen gebildet. Da I2S maßgeblich für den Abbau der Glykosaminoglykane (GAG) verantwortlich ist, kumulieren diese in den Zellen, wodurch es zur zellulären Dysfunktion kommt. Mit zunehmender GAG-Konzentration treten vermehrt Funktionseinschränkungen der Atmungsorgane, des Herz-Kreislauf-Systems, des ZNS und des Skeletts auf. „Unterschieden werden 2 Verlaufsformen: die neuropathische und die nicht neuropathische“, konkretisierte Muschol. Hiervon hänge entscheidend die Prognose der Erkrankung ab.

Typische Anzeichen eines Morbus Hunter bei kleinen Kindern sind Nabel- oder Leistenhernien, häufige HNO-Infekte, vergröberte Gesichtszüge, Hepatosplenomegalie und Gelenksteifigkeit. Die neuropathische Form ist nach anfänglich normaler Entwicklung mit Entwicklungsstörungen, Regression und Demenz verbunden.

Therapeutisch steht mit Idursulfase eine effektive Enzymersatztherapie zur Verfügung, die den progredienten Verlauf der Erkrankung verlangsamt. Je früher mit der Therapie begonnen wird, umso größer ist auch hier der Therapieerfolg. „Deshalb sollten Pädiater bei Säuglingen und Kindern mit rezidivierenden Infekten der oberen Atemwege und Nabel- und/oder Leistenhernien und Hüftdysplasie an einen Morbus Hunter denken. Im Zweifelsfall sollten Verdachtsfälle frühzeitig zur weiteren Abklärung an ein Stoffwechselzentrum überwiesen werden“ sagte Muschol.

Dr. med. Vera Zylka-Menhorn

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