ArchivDeutsches Ärzteblatt PP3/2017Häusliche Gewalt gegen Männer: Unbeachtet und tabuisiert

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Häusliche Gewalt gegen Männer: Unbeachtet und tabuisiert

Sonnenmoser, Marion

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Mindestens eine Million Männer in Deutschland erleiden regelmäßig häusliche Gewalt durch ihre Partnerin. Die Gründe, warum sie sich das trotz meist körperlicher Überlegenheit gefallen lassen, sind vielschichtig.

Frauen, die prügeln, haben Probleme mit der Impulsregulation. Foto: dpa
Frauen, die prügeln, haben Probleme mit der Impulsregulation. Foto: dpa

Ein Mann, der sich von einer Frau schlagen lässt – dies scheint fast undenkbar. Denn gemeinhin gelten Frauen als weniger aggressiv und gewaltbereit als Männer. Außerdem sind die meisten Männer Frauen körperlich überlegen und könnten sich entsprechend zur Wehr setzen. Die Zahlen zur häuslichen Gewalt sprechen jedoch eine andere Sprache: Laut britischen Erhebungen ist eines von drei Opfern häuslicher Gewalt männlich. Deutsche Experten gehen davon aus, dass ein bis zwei Fünftel der Opfer Männer sind. Mindestens eine Million Männer in Deutschland erleiden regelmäßig häusliche Gewalt durch ihre Partnerin. Wahrscheinlich ist die Zahl der Betroffenen jedoch weitaus höher, weil die meisten Männer nicht über die Angriffe ihrer Partnerin sprechen und keine Hilfe suchen.

Dass Frauen friedfertiger als Männer seien, ist ein Mythos, der sich hartnäckig hält. Berater und Experten, die Gewaltopfer betreuen und differenzierte Einblicke in Paarbeziehungen haben, gehen hingegen davon aus, dass Frauen mindestens ebenso aggressiv wie Männer sind – es ist nach außen nur nicht so offensichtlich. Denn die Waffen vieler Frauen sind nicht Fäuste, sondern Worte.

Unbeherrschtheit und Wut

Frauen leben ihre Aggressivität aus, indem sie zum Beispiel sticheln, hetzen, demütigen oder Gerüchte verbreiten. Doch auch die Anzahl der Frauen, die sich körperlich auseinandersetzen, nimmt zu. Dies mag mit der zunehmenden Selbstständigkeit und Unabhängigkeit und dem momentanen Selbstbild von Mädchen und Frauen zusammenhängen, aber auch mit gewandelten Geschlechterstereotypen und Vorstellungen von Weiblichkeit. Sie drücken sich unter anderem in einem neuen Typus Frau aus, der über Kinofilme, Krimis, Comics und Computerspiele vermittelt wird und von wehrhaften, kampferprobten Kriegerinnen geprägt ist, die keinem Konflikt aus dem Weg gehen, die ebenso mit Waffen umgehen können wie Männer, die Männern im Kampf ebenbürtig oder sogar überlegen sind und die kaltblütig angreifen und töten. Aber auch bestimmte Persönlichkeitsdefizite spielen eine Rolle. Frauen, die prügeln, haben Probleme mit der Impulsregulation. Sie neigen zu Unbeherrschtheit und Wutausbrüchen. Es mangelt ihnen zudem an Einfühlungsvermögen und Kompetenzen, um negative Emotionen gewaltfrei abzubauen und Konflikte friedfertig zu lösen. Eigene Gewalterfahrungen, gewaltsame Rollenvorbilder, eine eher mädchen- und frauenuntypische Sozialisation sowie die Erfahrung, sich mithilfe körperlicher Gewalt durchsetzen und Kontrolle und Macht ausüben zu können, tragen ebenfalls dazu bei, dass Frauen zuschlagen.

„Häusliche Gewalt von Frauen gegen Männer kommt in drei Varianten vor“, sagen portugiesische Psychologinnen um Andreia Machado von der University of Minho (Braga, Portugal). Die häufigste Variante ist psychologische Gewalt. Dazu zählen beispielsweise Beleidigungen, Erniedrigungen, Hänseleien, Kontrollen, Verbote, Drohungen und Erpressungen. Viele Männer wehren sich nicht dagegen, sondern ertragen sie stillschweigend, zumal das weibliche dem männlichen Geschlecht verbal oft überlegen ist. Wenn Männer sich wehren, dann eher auf der körperlichen Ebene, indem sie zuschlagen und die Partnerin im Extremfall sogar töten. Die zweithäufigste Variante ist körperliche Gewalt. Frauen schlagen mit der Hand oder den Fäusten zu, sie beißen, kratzen, reißen an den Haaren oder treten mit den Füßen. Das kommt aber relativ selten vor. Wesentlich häufiger bedienen sie sich verschiedener Objekte, die sie als Waffen einsetzen, wie zum Beispiel Nadeln, Scheren, Kleinmöbel, Küchengeräte, Schuhe, Messer, Hämmer und anderes Werkzeug. Auf diese Weise gleichen sie ihre körperliche Unterlegenheit aus. Die dritte Variante ist sexuelle Gewalt. Auch Männer werden sexuell belästigt, vergewaltigt oder zu Handlungen gezwungen, die sie ablehnen.

Eine Frage drängt sich in diesem Zusammenhang unvermeidlich auf: Warum schlagen Männer nicht zurück? Männer könnten sich gegen Frauen körperlich leicht zur Wehr setzen. Stattdessen lassen sie es sich gefallen, dass sie gedemütigt und verletzt werden. Hierfür gibt es verschiedene Gründe. Ein Grund ist eine angeborene oder anerzogene Hemmung. Jungen und Männern wird beigebracht, körperlich Unterlegenen und vermeintlich Hilflosen und Schwachen wie etwa Frauen und Kindern nichts zu tun, denn dies gilt als „unehrenhaft“. Daher ist es für sie undenkbar, eine Frau anzugreifen oder sich gegen sie zu wehren. Ein weiterer Grund ist, dass Männer Frauen oft nicht als ebenbürtig ansehen. Sie unterschätzen die Gefahr, die von ihnen ausgehen kann, und entwickeln ihnen gegenüber nicht das Gefühl, ernsthaft bedroht zu sein. Ihre Selbstschutzstrategien werden daher nicht aktiviert. Einige Männer schlagen auch deshalb nicht zurück, weil sie Gewalt ablehnen und weil sie ihre Partnerin lieben und ihr nichts zuleide tun wollen.

Scheu vor einer Trennung

Es gibt auch Männer, die die unvermeidlichen Konsequenzen scheuen, etwa eine Trennung, eine Anzeige, eine polizeiliche Untersuchung, einen Gerichtsprozess, eine Paartherapie oder die Zerschlagung der Familie. Um die Partnerschaft oder Familie zu retten, lassen sie sich misshandeln und betrachten dies als den Preis, den sie dafür zahlen müssten. Manche Männer glauben auch, dass sie eine Mitschuld trifft, weil sie die Gewaltausbrüche provozierten, sich nicht gemäß den Wünschen der Frau verhielten oder ihr nicht helfen könnten. In einigen Fällen sind auch Drohungen der Frau, sich, die Kinder oder den Mann umzubringen, wenn er sie verlässt, ein massiver Grund. Manche Männer wissen zudem nicht, wohin sie gehen sollen, und sehen keine Alternative zum Verbleib. Möglicherweise kann auch die Sozialisation bei einigen Männern als Erklärung herangezogen werden. Nicht wenige betroffene Männer wuchsen in einem Umfeld auf, in dem Frauen dominierten und eventuell gewalttätig waren und in dem eine Überlebensstrategie darin bestand, Gewalt stillschweigend zu dulden und zu ertragen.

Nach Angaben der britischen Hilfsorganisation „ManKind Initiative“ sprechen betroffene Männer nur sehr selten über häusliche Gewalt. Auch hierfür gibt es verschiedene Gründe, wie zum Beispiel:

  • Männern fällt es schwer, sich als Opfer zu sehen und mit der Opferrolle zu identifizieren.
  • Im männlichen Selbstbild sind Männer stark und wehrhaft.
  • Männer schämen sich, Opfer eines vermeintlich Schwächeren zu sein.
  • Männer möchten nicht gerne zu den Details der Gewalttaten und zu den Gründen, weshalb sie sich nicht wehren, befragt werden.
  • Männer stehen unter Druck, nach außen so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre.
  • Männer wollen nicht, dass ihr Problem unter Verwandten, Freunden, Kollegen oder Nachbarn publik wird.
  • Männer haben Angst, dass man ihnen nicht glaubt und dass sie selbst als Täter angesehen und verhaftet werden.
  • Männer wissen nicht, wohin sie sich mit ihrem Problem wenden sollen.

Machado und Kolleginnen haben anhand einer Befragung von 89 männlichen Opfern häuslicher Gewalt herausgefunden, dass betroffene Männer – wenn überhaupt – sich höchstens einem Freund oder Verwandten anvertrauen. An Beratungsstellen und Hilfsorganisationen wenden sie sich hingegen nur selten. Vom Gang zum Rechtsanwalt, zum Arzt, zum Psychotherapeuten oder zur Polizei halten die meisten Männer nichts, unter anderem weil sie diesen Institutionen und Unterstützern nicht vertrauen und weil sie sich von der Polizei nicht ernst genommen fühlen und glauben, dass sie nichts unternehmen wird. Im Schnitt vergehen zweieinhalb Jahre, bevor sich ein betroffener Mann Hilfe von außen sucht.

Für Männer hat das Erleiden häuslicher Gewalt viele negative Auswirkungen. Stress, Furcht, Scham, Wut und körperliche sowie seelische Verletzungen führen bei vielen Männern zu Depressionen, Angsterkrankungen, Krankheits- und Traumasymptomen, einem verminderten Selbstwertgefühl, sozialer Isolation und Suizidabsichten. Davon sind oft auch die gemeinsamen Kinder betroffen, sofern sie Zeugen der gewaltsamen Übergriffe werden.

In vielen Ländern gibt es für Männer, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, weder Verständnis noch Hilfsangebote. In westlichen Ländern ist die Lage etwas besser. Beispielsweise existieren in Deutschland einige Opferhilfsorganisationen, Gewaltschutzambulanzen, Selbsthilfegruppen und Therapieangebote, die sich auf die Beratung von Männern spezialisiert haben. Darüber hinaus gibt es ein paar Zufluchtsstätten (ähnlich den Frauenhäusern), in die sich Männer zurückziehen können. Im Vergleich zu den Angeboten für Frauen sind Angebote für Männer jedoch immer noch äußerst dürftig. Das liegt unter anderem daran, dass das Thema „Gewalt gegen Männer“ tabuisiert und schambesetzt ist, dass geprügelte Männer keine Lobby haben und dass es kaum Berichterstattung und folglich so gut wie kein öffentliches Problembewusstsein gibt. „Viele Männer wollen über das, was ihnen angetan wird, jedoch sprechen und wünschen sich mehr Unterstützung“, sagt die niederländische Ärztin Babette Drijber vom Municipal Public Health Service in Amsterdam. Männern, die häusliche Gewalt erleben, wäre daher mit mehr niedrigschwelligen, anonymen Hilfs- und Beratungsangeboten und mit einer stärkeren gesellschaftlichen Wahrnehmung und Anerkennung ihres Problems geholfen.

Dr. phil. Marion Sonnenmoser

1.
Cook P: Abused men. Santa Barbara: Praeger 2009.
2.
Drijber B: Male victims of domestic vio-lence. Journal of Family Violence 2013; 28(2): 173–178.
3.
Machado A, Matos M, Hines D: Help-seeking and needs of male victims of intimate partner violence in Portugal. Psychology of Men and Masculinity 2016; 17(3): 255–264.
4.
Tsui V: Male victims of intimate partner abuse. Social Work 2014; 59(2): 121–130.
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4.Tsui V: Male victims of intimate partner abuse. Social Work 2014; 59(2): 121–130.

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