THEMEN DER ZEIT
Heilende Architektur: Der Krankheit Raum geben


Prof. Dr. Tanja C. Vollmer lehrt an der TU Berlin Architekturpsychologie. Ihr Spezialgebiet: Gesundheitsbauten. In den Niederlanden ist diese „healing architecture“ bereits ein fest besetzter Begriff. In Deutschland steht die Disziplin noch am Anfang.
Eine Wohlfühloase ist der Seminarsaal A060 des Hauptgebäudes der Technischen Universität (TU) nicht: Viel grelles Kunst-, kaum Tageslicht. Tief hängende Decken lassen den Raum gedrungen wirken. Das Linoleum auf der Treppe, die in den Raum hineinführt, ist abgewetzt, es bröckelt Innenleben aus den Stufen heraus. Die Wände sind beschmiert, die angegilbten Tische voller Kratzer. Vom Flur zieht Kälte herein und es riecht undefinierbar: nach einer Mischung aus verschimmelten Mandarinenschalen, abgestandenem Putzwasser und jahrzehntelang geschlossenen Fenstern.
Die Studenten schert der in die Jahre gekommene 60er-Jahre-Look offensichtlich nur wenig. Locker plaudernd schlendern sie durch den Raum, setzen sich nach und nach auf die einfachen Holzstühle. Auf ihrem Lehrplan steht an diesem Nachmittag „Architektur und Psychologie“ mit Prof. Dr. Tanja C. Vollmer. Die Dozentin wird in den kommenden zwei Stunden lehren, was sie den Studierenden schon das gesamte Semester vermittelt hat: dass Architektur im Gesundheitswesen eine besondere Sensibilität erfordert. Denn: Mag ein Universitätssaal keinen Wohlfühlfaktor erzeugen müssen, steht es um die Bedeutung dieses Aspekts ganz anders, wenn sich in Räumen Menschen bewegen, die in angegriffener körperlicher und mentaler Verfassung sind: Patienten.
„Warum setzten Sie sich eigentlich immer wieder auf den gleichen Platz, wenn Sie in diesen Raum kommen?“, fragt Vollmer die knapp 30 angehenden Architekten zur Begrüßung und blickt offen und freundlich in die Reihen. „Warum setzten sich einige immer weit nach vorne, um Augenkontakt mit mir aufnehmen zu können, und andere lieber nach hinten mit der Wand im Rücken? Schon einmal drüber nachgedacht?“ Schweigen. Vollmer klärt auf: „Sie alle haben den Wunsch, sich Raum anzueignen und Schutz darin zu suchen. Das ist das Konzept der Territorialität. Vor allem ist das Schutzbedürfnis noch stärker ausgeprägt, wenn man krank ist. Denn krank sein verändert die Raumwahrnehmung.“ Unübersichtliche Räume, eine überreizte Umgebung, fehlende Rückzugsmöglichkeiten – all das löse bei Patienten ungesunden Stress aus. So lautet die Kernthese der Dozentin. Im Umkehrschluss bedeutet ihr Denkansatz: Gebäude und Räume im Gesundheitssektor, die diese Aspekte bei der Gestaltung berücksichtigen, unterstützen den Genesungsprozess.
Vollmers Denken hat eine Grundlage: Die studierte Psychologin und Biologin war zwei Jahre lang Research Fellow an der Harvard Medical School in Boston und am Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York. Sie arbeitete dort auf dem Gebiet der integrativen Gesundheitspsychologie. Zehn Jahre leitete sie das Studienzentrum Psychoonkologie und Psychosomatik am Klinikum der Ludwig-Maximilian-Universität München. Vollmer saß am Bett von Patienten mit lebensbedrohlichen Krankheiten und ihr fiel auf, wie häufig diese in Gesprächen und Texten Raummetaphern benutzen. „Die Patienten sprachen von tiefen schwarzen Löchern, von vor einer Mauer stehen, von Perspektivlosigkeit“, erinnert sich die Psychologin. „Es waren immer wieder an Raumwahrnehmung und Raumbewertung gekoppelte Begriffe.“ Diese Erfahrung motivierte sie, sich erste theoretische Gedanken zum Thema Architekturpsychologie zu machen.
Als das Münchner Klinikum im Jahr 2000 ein psychoonkologisches Zentrum bekommen sollte, wurde an Vollmer die Bauleitung herangetragen – und aus Theorie wurde Praxis. Im Bauamt vor Architekten habe sie „in große fragende Augen geschaut“, als sie schilderte, was sie aus den vielen Patientengesprächen über deren Raumgefühl und architektonische Wahrnehmungen erfahren hatte. Absolutes Neuland für die Architekten.
Inzwischen durchleuchtet die 48-Jährige das in Deutschland noch weitestgehend unbekannte Feld der „heilenden Architektur“ seit mehr als zehn Jahren ausschließlich. Die TU-Gast-Professorin macht im Gespräch sehr deutlich, wie wichtig die Architektur im Gesundheitsumfeld ist: „Architektur wird zum zweiten Körper, wenn der eigene Körper nicht mehr den Schutz bietet, den wir als Menschen für unser verletzliches Inneres so sehr brauchen. Ein kranker Körper ist durchlässig bis zur Seele.“
Fühlen und Erleben ist ein wichtiger Bestandteil von Vollmers TU-Seminaren. Nur so, glaubt die Professorin, kann sie die Studenten dafür gewinnen, an Architektur im Gesundheitswesen mit größerer Sensibilität heranzugehen als an andere Bauten.
Durch eine Übung an diesem Mittwochnachmittag macht sie praktisch klar, wie wichtig Verständnis ist: Vollmer platziert zwei Studenten am Kopf des Seminarraums Rücken an Rücken. Einem der Studenten drückt die Dozentin ein Blatt Papier in die Hand, auf dem ein Grundriss abgebildet ist. Der Studentin hinter ihm gibt sie einen Stift und ein Blatt Papier. „Sie sollen erklären, was Sie sehen“, sagt sie zu dem jungen Mann, der den Grundriss in der Hand hält. Und zu der Studentin: „Und Sie zeichnen bitte, was Sie hören.“
Am Ende des dreiminütigen Experiments ist das Ergebnis mau. Die Zeichnerin konnte den teils wirren Beschreibungen des Redners kaum folgen. Ihr Gesicht war ein einziges Fragezeichen. Auf ihr Papier zeichnete sie Striche, die weit entfernt von einem Grundriss sind. „Sie beachten nicht, dass der andere nichts sieht“, sagt Vollmer klar, ohne es wie einen Vorwurf klingen zu lassen. Und appelliert: „Befragen Sie Ihre Kontaktpersonen immer ganz genau, was sie sich vorstellen. Versuchen sie nah an ihre inneren Bilder heranzukommen.“
Bedürfnisorientiertes Arbeiten nennt Vollmer das. Nirgends scheint dies sinnvoller als in der Architektur von Gesundheitsbauten. Und so vermittelt die Professorin den Studenten in ihren Kursen, dass es bei der Architektur im Gesundheitswesen nicht nur darauf ankommt, sich mit der Theorie der Architekturlehre, Gebäuden und Materialien auszukennen, sondern sich vor allem mit den Bedürfnissen derer auseinanderzusetzen, die sich darin bewegen. Konkret heißt das: Sie ermuntert dazu, mit Ärzten, Pflegenden, Psychologen, Physiotherapeuten und – besonders – Patienten zu sprechen, wann immer dies möglich ist, und ihr Wissen konsequent in die Planungen einzubeziehen.
Wie das in der Praxis aussehen kann, zeigt sich in der Berliner Invalidenstraße, dem zentralen Standort der Charité, im historischen Konferenzraum der Ebene 3 des Comprehensive Cancer Center: große Fenster, viel Licht, holzvertäfelte Wände. Es ist ein Raum zum Wohlfühlen. Auf den Konferenztischen stehen drei Modelle eines potenziellen Neubaus, an den Wänden dahinter hängen Poster mit Texten und Grafiken, die den jeweiligen Entwurf erläutern.
Die Masterstudenten aus Vollmers Lehrforschungsprojekt haben sie angefertigt, es ist ein gemeinsames Pilotprojekt von Charité und TU; heute ist Präsentationstag. Knapp 30 Mitarbeiter der Charité sind dafür zusammengekommen. Darunter ist Prof. Dr. med. Ulrich Keilholz, Leiter des Zentrums. Er musste nicht lange darüber nachdenken, dem Projekt zuzustimmen: „Ich finde es sehr gut, dass es diese Möglichkeit gibt. Normalerweise geht ein Großunternehmen an ein solches Bauvorhaben heran und es wird wenig mit den Beteiligten geredet. Die Planungsarbeit wird selten an den Bedürfnissen aufgehängt. Das war hier grundlegend anders.“
Denn: Vollmer und die Charité hatten es möglich gemacht, dass die Studenten mit den Patienten des Comprehensive Cancer Center in direkten Kontakt kommen. Sie konnten sich die aktuellen Begebenheiten selbst anschauen, erleben, wie gearbeitet wird, es gab Workshops und Patientenbefragungen. Die Krankenhausarchitektur wurde für die Studierenden lebendig, noch bevor sie den ersten Strich am Entwurf gemacht haben. „Sich zunächst in die Nutzerwünsche vertiefen und dann ein Gebäude von innen heraus entwickeln“, nennt Vollmer diese Herangehensweise.
Gerade die Ergebnisse der Patientenbefragung stoßen am Präsentationstag auf interessierte Zuhörer. Zum Beispiel dieses Resultat: Viererzimmer für die Chemotherapie sind in Ordnung. „Können Sie sich vorstellen, warum?“, fragt Vollmer in die Runde. Kopfschütteln beim Team der Charité. „Es ist die soziale Komponente. Für die Patienten ist es in dieser Kleingruppe eine Wohlfühlkonstellation. Sie wollen bei der Therapie nicht alleine sein – nur dann, wenn es ihnen ausgesprochen schlecht geht.“ Weniger gut war dieses Ergebnis: Die Patienten lassen ihre Angehörigen meist zu Hause, weil die Räumlichkeiten in der Charité so eng sind, hätten aber eigentlich gerne Begleiter dabei. „Die Patienten wollen es dem Personal nicht zumuten, dass noch mehr Leute im Weg sind.“ Kopfnicken bei den Umstehenden. Überall Tageslicht? Nicht so wichtig wie viele annehmen. Mehr Begegnungsraum für Gespräche? Unnötig. Schnelle Orientierung? Ausreichend vorhanden. Mehr Rückzugsraum für Privatheit? Ja, bitte. Behandlungspausen draußen im Grünen? Ja, unbedingt.
All dieses Wissen ist in die Entwürfe der Studenten eingeflossen. Herausgekommen sind Varianten mit verlegten Eingängen, selbstbewusstem Design, viel Glas, Licht von oben, räumlicher Trennung von Lehre und Versorgung und grünen Oasen vor dem Gebäude zum Abschalten nach der Behandlung.
Konkrete Startdaten für ein eventuelles Bauvorhaben gibt es in Berlin noch nicht. Aber: „Alle drei Modelle bieten eine gute Grundlage, um etwas zu planen“, kommentiert Keilholz und zeigt sich daran interessiert, zu einem späteren Zeitpunkt nochmals auf die Modelle zurückzugreifen.
Vollmer weiß: „Es ist sehr ungewöhnlich, dass in einer solch frühen Phase eines Projekts die Möglichkeit besteht, sich so intensiv damit zu beschäftigen.“ Die Expertin glaubt allerdings, dass genau dies in der Zukunft eher üblich, denn unüblich sein wird. „Die Bedürfnisorientierung wird die bislang geltende Bedarfsorientierung im Gesundheitswesen ablösen“, sagt Vollmer. Sie ist sich sicher: Das Mitspracherecht der Gebäudenutzer werde in Zeiten von Ressourcenverknappung und einer wachsenden Anzahl chronisch Kranker und älterer Menschen immer mehr steigen.
Konkreter als in Berlin konnte Vollmer bereits in Freiburg werden. Dort ist sie mit ihrem Büro in den Neubau der Kinder- und Jugendklinik des Universitätsklinikums eingebunden. Hier werden erstmals die wissenschaftlichen Standards der heilenden Architektur umgesetzt, die Vollmer gemeinsam mit ihrem Team nach mehrjähriger Forschungsarbeit an pädiatrischen Kliniken in den Niederlanden und Deutschland entwickelt hat. Denn: Freiburg hat sich für das Projekt das Patientenwohl auf die Fahne geschrieben. Der Neubau steht unter dem eindeutigen Motto „Weil Patientenorientierung kein Luxus, sondern Versorgungsauftrag ist“.
Rückzugsräume für Eltern
Die neue Klinik wird einige Besonderheiten erhalten, etwa diese: Es wird eine eigenständige, stationsübergreifende Versorgungseinheit geben, die sich dem psychosozialen Wohlbefinden der Kinder, Jugendlichen und Eltern widmet. Es ist gesichert, dass Eltern Rückzugsräume bekommen, um sich der belastenden Situation des Klinikaufenthaltes mit ihrem Kind auch einmal entziehen zu können. Das Krankenhaus reagiert architektonisch darauf, dass dort nicht nur Kleinkinder behandelt werden, sondern auch Raum für die Autonomie von Teenagern vorhanden sein muss.
Läuft alles nach Plan, wird das neue Kinder- und Jugendklinikum im Jahr 2020 oder 2021 eröffnet. Vollmer wird auch dann noch dabei sein. Sie wird untersuchen, ob die architektonische Umsetzung tatsächlich erfüllt, was bei den Planungen angenommen wurde: dass ein architekturpsychologisch geplantes Gebäude das Verbleiben und Arbeiten im Krankenhaus grundlegend ändert und Stress, Druck und Belastung von den Familien und dem Personal nimmt.
Es verändert sich etwas
In den Niederlanden etwa ist diese „healing architecture“ bereits seit Jahren ein fest besetzter Begriff. Vollmer sagt: Es sei dort längst bekannt, dass Krankenhausarchitektur mehr sei als Farben auswählen und Deko-Elemente an die Wände hängen.
Auch in Großbritannien gibt es seit Jahren interessante Entwicklungen, die darauf abzielen, die Bedürfnisse der Patienten mehr in den Fokus der Versorgung zu stellen – schon in der Architektur. Ein Beispiel dafür sind sogenannte Maggie Center, benannt nach der Krebspatientin Maggie Keswick Jencks. Maggie Center sind in Krankenhäuser integrierte Entspannungs- und Begegnungs-
räume, die Krebspatienten Stress, Ängste und Unsicherheiten bei der Bewältigung ihrer Krankheit nehmen sollen. Seit Mitte der 90er-Jahre sind bereits mehr als 20 solcher Zentren an Krankenhäusern in Großbritannien entstanden. Auch die Modelle der TU-Studenten für das Comprehensive Cancer Center der Charité enthalten solche Maggie Center.
Mit Blick auf Deutschland stellt Vollmer eindeutig fest: Es verändert sich gerade etwas. In den Krankenhäusern steige der Wunsch danach, patienten- und personalorientiert zu arbeiten. Sie bemerke diesbezüglich besonders eine „zunehmende Offenheit der Ärzteschaft“. Immer häufiger kämen Mediziner auf sie zu, um etwas über die Möglichkeiten der psychologisch unterlegten Architektur zu erfahren.
Sicher ist: Krankenhausarchitektur muss nicht immer Schema F sein.
Nora Schmitt-Sausen
Kranke haben eine andere Raumwahrnehmung
Vollmer hat die Wahrnehmung chronisch oder schwer kranker Menschen schon vielfach untersucht. In den Niederlanden hat sie beispielsweise im Auftrag des niederländischen Ministeriums für Wissenschaft und Bildung erfasst, wie Krankenhausarchitektur auf Krebspatienten wirkt. Für die Erhebung haben Vollmer und ihre Koautorin und Büropartnerin Gemma Koppen 500 Patienten und deren Angehörige bei ihren Krankenhausbesuchen begleitet und sie nach Wahrnehmung und Stressempfinden befragt.
In der Studie „Architektur als zweiter Körper“ aus dem Jahr 2010 kam heraus: Kranke haben ein anderes Architekturempfinden als ihre gesunden Partner. Optik, Design, Geräusche, Gerüche – all das nehmen sie unterschiedlich wahr. Es bereitet den Patienten Unbehagen, wenn die Umgebung im Krankenhaus nicht zum Wohlfühlen ist. Wenn es etwa nur wenig Tageslicht gibt, Enge auf sie einwirkt, Warteräume im Durchgangsverkehr angesiedelt sind. Solche Defizite in der Krankenhausumgebung lösten „enorme Stressreaktionen bei den Patienten aus“, weiß Vollmer, sowohl akut als auch noch später in der Erinnerung an den Krankenhausaufenthalt. Dieser Stress kommt obendrauf auf die vielen belastenden Momente, mit denen chronisch und schwer Kranke konfrontiert sind. On top auf schwierige Arzt-Patienten-Gespräche, Untersuchungen, Wartezeiten, körperliches Unwohlsein, Existenzängste, Schmerzen.
Allein zum Thema Warten hat Vollmer eine klare Position: „Warten tut weh. Das ist messbar“, sagt sie. Und sagt deutlich: Am schlimmsten sei das Warten irgendwo auf dem Gang. Jeder wisse dies, doch es sei weiterhin Standard in deutschen Krankenhäusern und auch weltweit: „Dabei ist das Warten auf Gängen für die Patienten eigentlich unerträglich, das kommt bei unserer Arbeit immer wieder heraus.“
Vollmer und Koppen sind sich sicher: Schon wenige architektonische Eingriffe können die Patienten entlasten: getrennte Sprech- und Untersuchungsräume, um den Patienten mehr Intimsphäre und Sicherheit zu geben. Besprechungsecken ohne den „Schutzwall Schreibtisch“ zwischen Arzt und Patient. Die Möglichkeit, nach draußen zu blicken, wenn der Patient aus dem Arztzimmer tritt – der Blick in die Außenwelt ist laut Vollmer und Koppen die beste Möglichkeit, wieder Kontrolle über eine belastende Situation zu gewinnen und Stress abzubauen.