ArchivDeutsches Ärzteblatt16/2017HIV-Hepatitis-Blutskandal: Bund übernimmt Entschädigung

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HIV-Hepatitis-Blutskandal: Bund übernimmt Entschädigung

Gießelmann, Kathrin

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Das HIV-Hilfegesetz soll HIV-Infizierten des Blutskandals eine lebenslange finanzielle Unterstützung zusichern. Keine Entschädigung erhalten weiterhin Hepatitis-C-infizierte Hämophile – trotz identischer Infektionsursache.

„Ja, wir leben noch“ – mit diesem Slogan machen Betroffene des HIV-Hepatitis-Blutskandals aus den 1980er-Jahren bei einer Demonstration am 1. April 2017 in Berlin auf sich aufmerksam. Foto: Jürgen Möller-Nehring
„Ja, wir leben noch“ – mit diesem Slogan machen Betroffene des HIV-Hepatitis-Blutskandals aus den 1980er-Jahren bei einer Demonstration am 1. April 2017 in Berlin auf sich aufmerksam. Foto: Jürgen Möller-Nehring

Der Blutskandal aus den 1980er-Jahren steht wieder auf der Agenda der Gesundheitspolitik. Etwa 30 Jahre nachdem sich mehr als 4 000 Bluter durch verunreinigte Gerinnungspräparate mit HIV, Hepatitis B und C (HCV) infiziert haben, will der Bund die monatlichen Entschädigungszahlungen dauerhaft übernehmen – zumindest für jene, die sich damals mit HIV infiziert haben. Für die bisherigen Geldgeber, Pharmaunternehmen, Länder und Deutsches Rotes Kreuz (DRK), besteht keine Zahlungspflicht. Sie sollen aus dem Stiftungsrat „Humanitäre Hilfe“ austreten. So sieht es das HIV-Hilfe-Gesetz (HIVHG) vor, das aller Voraussicht noch in dieser Legislaturperiode zusammen mit dem Blut- und Gewebegesetz verabschiedet werden wird, verkündete die gesundheitspolitische Sprecherin Maria Michalk (CDU/CSU) Ende März bei einer Informationsveranstaltung für Betroffene im Café Ulrichs der Berliner Aidshilfe. Über die neun Änderungsanträge sei man sich in der Koalition einig, sagte Michalk (siehe Kasten).

Schuldhaftes Versäumnis

Anfang der 1980er-Jahre hatte das Bundesgesundheitsamt versäumt zu prüfen, ob nach Deutschland importiertes Blut und Medikamente gemäß dem aktuellen Stand der Forschung sicher waren. Dieses schuldhafte Versäumnis hatte zur Folge, dass sich in Deutschland rund 4 500 Bluter mit HCV, HBV und HIV infizierten. Rund 1 250 der Infizierten sind inzwischen an den auf sie übertragenen Viren gestorben, 1 100 davon an Aids.

Angeschoben wurde der politische Einsatz durch die Initiative der Blutskandal-Kampagne. Auch Vertreter der Deutschen Aidshilfe, der Stiftung „Humanitäre Hilfe“ sowie der Deutschen Hämophiliegesellschaft (DHG) zeigten sich äußerst zufrieden mit der plötzlichen Wende und hoffen, dass die Gesetzesänderung ohne Widerstand der Opposition durchgeht: „Ich bin froh, dass wir mit dem Bund nur noch einen Ansprechpartner haben. In der Vergangenheit wurden wir immer wieder von den Geldgebern hingehalten, wenn es um die Zukunft der Stiftung ging“, erklärt Jürgen Möller-Nehring, einer von etwa 300 HIV-Infizierten, die überlebt haben. Dabei schien vor allem ein Stiftungsmitglied zu bremsen: „Das Argument lautete meist, die Pharmaindustrie müsse noch verhandeln“, berichtete der Psychiater und Psychologe aus Lübeck. Betroffene und Verbände erwarten vor allem von der Pharmaindustrie, dass sich diese als Mitverursacher des Blutskandals weiterhin finanziell einbringt. „Rechtsansprüche wurden damals bereits aufgegeben. Jetzt können wir nur noch an die ethisch-moralische Verpflichtung der Pharmafirmen appellieren, Entschädigungszahlungen zu leisten“, sagte Holger Wicht, Pressesprecher der Deutschen Aidshilfe. Für manch einen Betroffenen ist das aber längst nicht genug. Sie wünschen sich, dass die verantwortlichen Pharmafirmen auch rechtlich zu Zahlungen verpflichtet werden.

Am 26. April nehmen Sachverständige bei einer Anhörung im Bundestag zu den Änderungsvorschlägen Stellung. Erste Kritikpunkte wurden bereits im Café Ulrichs geäußert:

  • Die monatlichen Entschädigungszahlungen sollen ab 2019 mit der Rente steigen. Wicht bedauerte, dass kein rückwirkender Inflationsausgleich im jetzigen Entwurf geplant sei.
  • Die monatlichen Zahlungen sind weiterhin zwischen HIV-positiven Menschen, an Aids Erkrankten und Angehörigen unterschiedlich. Das Gesetz sieht vor, das ausschließlich Menschen mit Aids den Höchstsatz von etwa 1 500 Euro pro Monat erhalten. Wicht stellte klar, dass Aids nicht mehr das richtige Kriterium sei, um eine besondere Härte der Erkrankung zu definieren. „Viele leiden heute dank neuer Medikamente nicht mehr an Aids, sondern an anderen Folgeerkrankungen der HIV-Infektion“, erklärte der Pressesprecher der Deutschen Aidshilfe.
  • Weiterhin keine Entschädigung erhalten Menschen, die sich im Zuge des Blutskandals mit Hepatitis C infiziert hatten, trotz identischer Infektionsursache. Die SPD-Bundestagsabgeordnete Mechthild Rawert stellt aber in Aussicht, dass man diese bereits länger bekannte Forderung in der kommenden Legislaturperiode erneut aufgreifen wolle.

Der Kampf geht weiter

„So sehr wir uns über die lebenslange finanzielle Zusage des Bunds freuen, wir werden jetzt nicht aufgeben und weiterkämpfen für alle anderen Opfer des Blutskandals“, sagte Möller-Nehring, der am 1. April zum Vorsitzenden des neu gegründeten „Verbands der Opfer des Blutskandals“ (VOB) gewählt wurde. Dieser vertritt Personen, die durch Blut, Serum oder Blutprodukte geschädigt wurden (www.nochleben.de). „Was bei den Contergan-Betroffenen schon lange funktioniert, wollen wir auch für die Opfer des Blutskandals möglich machen“, lautet das Ziel des Psychiaters und Psychotherapeuten aus Lübeck. Denn im Gegensatz zu Deutschland zahlen viele andere Länder Entschädigungen an HCV-infizierte Bluter. Es erfolgten einmalige oder monatliche Zahlungen, teils abhängig vom Schweregrad der Folgeerkrankungen. Als erstes Land übernahm Irland 1996 Verantwortung. Es folgten Kanada, Ungarn und Italien, Schweden und Spanien, Großbritannien, Neuseeland und zuletzt im Jahr 2009 Frankreich und der Iran. Dennoch lehnen die Bundesregierung und das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) die Petition der DHG, in der eine zum Hilfefond analoge Lösung für HCV-Betroffene gefordert wird, bisher ab. Das BMG begründet dies in einer Stellungnahme vom 16. Februar 2017 unter anderem wie folgt: Bei den meisten chronisch Infizierten sei der Ursprung der HCV-Infektion nicht mehr sicher zu ermitteln. Sie beleuchten darüber hinaus auch die finanzielle Tragweite. „Bei einer geschätzten Anzahl von 3 000 Betroffenen wäre ein Betrag von 27,6 bis 55,4 Millionen Euro jährlich zu erbringen.“ Bereits 2013 hatte der Petitionsausschuss erklärt, dass der Bund allein die finanzielle Hilfe nicht aufbringen könne. Daher hatte sich das BMG wiederholt bei den Bundesländern, der pharmazeutischen Industrie und dem DRK für eine gemeinsame Initiative für die HCV-Infizierten eingesetzt, jedoch ohne Erfolg. Aus Sicht der Bundesregierung handle es sich darüber hinaus um „tragische, aber unvermeidbare Ereignisse.“ Verschiedene Gerichtsentscheidungen hätten bestätigt, dass eine staatliche Verpflichtung auf Entschädigung oder humanitärer Hilfe nicht bestehe. Ein erweitertes Berichterstattergespräch zur Petition soll am 27. April stattfinden.

Kathrin Gießelmann

Änderungsvorschläge HIVHG

Das HIV-Hilfegesetz (HIVHG) soll Betroffenen eine lebenslange Planungssicherheit geben. Dafür stellt der Bund ab 2019 neun bis zehn Millionen Euro jährlich zur Verfügung. Diese Änderungsvorschläge stehen am 26. April im Bundestag zur Debatte:

  • Die Leistungen der HIV-Stiftung werden lebenslang zugesagt.
  • Die Mittel für die finanzielle Hilfe werden einzig vom Bund aufgebracht.
  • Die Leistungen berechnen sich dynamisch in Abhängigkeit der Rentenentwicklung.
  • Ab 2019 sind etwa neun bis zehn Millionen Euro jährlich vorgesehen.
  • Nicht mehr zum Stifterkreis gehören: Bayer, Immuno, Baxter Deutschland, Behringwerke, Armour Pharma, Alpha Therapeutic. Ebenso werden zukünftig keine Vertreter der Länder und des Deutschen Roten Kreuzes vertreten sein.

bis Mitte 1980er
Ausländische Plasmen werden nicht mit dem von der Bundesärztekammer empfohlenen Alaninaminotransferase-Test überprüft. Der Surrogattest erfasst Hepatitis nonA/nonB (später HCV).

1981
Die Aufsichtsbehörden versäumen, für das neu zugelassene Faktor-VIII-Produkt der Firma Behring Virusinaktivierungsverfahren vorzuschreiben.

1994
Als Folge des Blutskandals löst Horst Seehofer das Bundesgesundheitsamt auf. Es sollen sich rund 4 500 Hämophile über Gerinnungspräparate mit HIV und/oder HCV infiziert haben.

1995
Die Bundesregierung veranlasst, dass das HIV-Hilfegesetz für die durch Blut und Blutprodukte HIV-Infizierten in Kraft tritt – ohne das Vorliegen eines verpflichtenden Gerichtsurteils.

2013
Die Bundesregierung lehnt die Forderung nach einer Entschädigung für HCV-infizierte Hämophile ab. Am 27. April 2017 soll ein erweitertes Berichterstattergespräch zur Petition stattfinden.

2017
Neun Änderungen im HIV-HIlfegesetz sollen bis Juni 2017 verabschiedet werden: Der Bund verpflichtet sich ab 2019, die Entschädigungszahlungen für HIV-Infizierte allein zu übernehmen.

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