THEMEN DER ZEIT
Ethikberatung: Gemeinsam zur Entscheidung


Interdisziplinäre Klinische Ethikkomitees haben sich als Konsequenz der vielfältigen moralischen Konflikte im Krankenhaus mittlerweile weit verbreitet. Herausforderungen bestehen jedoch noch viele.
Ein 85-jähriger, verwirrter Patient wird aus einer stationären Pflegeeinrichtung in ein Krankenhaus verlegt. Es soll eine Ernährungssonde (PEG-Sonde) gelegt werden, da er angebotene Nahrung und Flüssigkeit häufig verweigert und sich bereits bedrohliche Situationen mit deutlicher Exsikkose sowie einer Gewichtsreduktion ergeben haben. Persönlich kann seine Zustimmung nicht eingeholt werden, da er nicht einwilligungsfähig ist. Für die Ärzte und Pflegende stellen sich die Fragen: Ist es indiziert, eine PEG-Sonde zu legen? Entspricht das Legen der Sonde dem Willen des Patienten?
Situationen wie diese sind Alltag in vielen deutschen Kliniken. Um gute Entscheidungen zu treffen, werden sie seit Jahren auch in Form von moderierten Ethikfallberatungen interdisziplinär besprochen. Dabei werden an vielen Kliniken unter Einbeziehung der aktuellen medizinischen und pflegerischen Situation sowie teilweise gemeinsam mit Angehörigen ethische Fragen der konkreten Behandlungssituation diskutiert. Damit unterscheiden sich die Klinischen Ethikkomitees deutlich von an den Landesärztekammern oder Universitäten angesiedelten Ethikkommissionen zur Begutachtung von Forschungsanträgen, die Forscher, die klinische Studien planen, in ethischer und rechtlicher Hinsicht beraten und beaufsichtigen.
Erste Impulse durch konfessionelle Verbände
Klinische Ethikkomitees etablierten sich seit den 1990ern in Krankenhäusern unterschiedlicher Trägerschaft. Ein wesentlicher Anlass für ihre Etablierung in Deutschland waren Impulse der konfessionellen Krankenhausverbände. Diese hatten 1997 ihre Krankenhäuser dazu aufgerufen, klinische Ethikkomitees nach dem Vorbild der US-amerikanischen Health Care Ethics Committees einzurichten.
Häufigste Struktur: Das Klinische Ethikkomitee
Dass sich eine klinische Ethikberatung mittlerweile bundesweit etabliert hat, geht beispielsweise aus einer Studie unter der Leitung von Prof. Dr. Florian Steger, Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universität Ulm, hervor: Ende 2014 hatten ihr zufolge die befragten deutschen Krankenhäuser bereits häufig Strukturen klinischer Ethikberatung implementiert. „Konkret haben wir 1 825 Krankenhäuser in Deutschland angesprochen, von denen 912 Häuser über eine bestimmte Form Klinischer Ethikberatung verfügen“, erläutert Steger dem Deutschen Ärzteblatt. „Am häufigsten wurde dabei das Klinische Ethikkomitee (KEK) als Struktur implementiert.“
Am höchsten ist die Implementierungsquote von klinischer Ethikberatung an großen Krankenhäusern, wie Untersuchungen zeigen. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Strukturen (beispielsweise Ethikkomitees oder Ethikvisiten) inzwischen deutschlandweit als Mittel zur Lösung ethischer Konflikte im klinischen Alltag anerkannt sind.
Die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) begrüßte die Entwicklung der Ethikberatung in der klinischen Medizin. In ihrer Stellungnahme aus dem Jahr 2006 (Deutsches Ärzteblatt, Heft 24/2006) würdigte sie die zunehmende Gründung von Klinischen Ethikkomitees als einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Patientenversorgung. Für eine gute klinische Ethikberatung seien Glaubwürdigkeit und Ernsthaftigkeit der Beteiligten, Unabhängigkeit der Berater, Freiwilligkeit der Beratung, interdisziplinärer Austausch und Einhaltung der Schweigepflicht erforderlich, heißt es darin. Ethische Fallberatungen dürften aber die Entscheidungsbefugnis und die Verantwortung des behandelnden Arztes nicht aufheben.
Unumstritten war die Tätigkeit der Ethikkomitees in den vergangenen Jahren jedoch nicht. Kritiker bezeichneten sie teilweise als „schwerfällig, kostenintensiv und hinsichtlich ihrer Kapazitäten als überfordert“. Einige hielten sie häufig nur „zum Schein implementiert“, um den Zertifizierungserfordernissen der Krankenhausträger und Zertifizierungsorganisationen zu genügen.
„Zur Qualifizierung der Ethikberater und Ethikberaterinnen werden vielerorts Fortbildungen angeboten“, erläutert die Direktorin des Zentrums für Gesundheitsethik (ZfG), Hannover, Dr. med. Andrea Dörries, dem Deutschen Ärzteblatt. Die Grundlage dafür ist in Deutschland ein Curriculum der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM). „Dieses Curriculum sieht einen Grundkurs sowie unterschiedliche thematische und Methodik-Aufbaukurse vor“, berichtet Dörries.
Freiwillige dreistufige Zertifizierung möglich
Seit Herbst 2014 bietet die AEM auch die Möglichkeit einer freiwilligen dreistufigen Zertifizierung an. Hierbei handelt es sich um Kompetenzstufen, die aufeinander aufbauen. Ziel der ersten Kompetenzstufe („Ethikberater/-in im Gesundheitswesen“) ist es, „qualifiziert, eigenständig und eigenverantwortlich ethische Fallbesprechungen (Ethikfallberatungen) in Einrichtungen des Gesundheitswesens durchzuführen“. Es geht hauptsächlich darum, „ein ethisches Problem zu erkennen und zu reflektieren, den Prozess der Entscheidungsfindung zu moderieren und praktische Hilfestellung bei der Lösung zu leisten“.
Bei der Stufe II, die die AEM „Koordinator/-in für Ethikberatung im Gesundheitswesen“ genannt hat, geht es um die „eigenständige und eigenverantwortliche Koordination der verschiedenen Aufgaben der Ethikberatung“. Der Koordinator oder die Koordinatorin soll vertiefte Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten in den Bereichen Ethik, Organisation und Beratung besitzen und fähig sein, Methoden der Qualitätssicherung und Evaluation von Ethikberatung anzuwenden.
In der Stufe III werden „Trainer und Trainerinnen für Ethikberatung im Gesundheitswesen“ dazu qualifiziert, Ethikberater und Koordinatoren/-innen für Ethikberatung auszubilden sowie die Implementierung von Ethikberatung in Einrichtungen des Gesundheitswesens beratend zu begleiten und zu evaluieren. „Während Ethikberater und Ethikberaterinnen zunehmend besser qualifiziert sind, bestehen – aus unterschiedlichen Gründen – weiterhin Probleme bei der Umsetzung der gewonnenen Kenntnisse in den Krankenhäusern“, erklärt Dörries. Wünschenswert sei eine regelmäßige Evaluation der ethischen Fallbesprechungen (dazu der folgende Beitrag).
Initiativen zur Beratung bei ethischen Konflikten existieren mittlerweile auch in der ambulanten Versorgung: Beispielsweise gründete die Landesärztekammer Hessen zusammen mit anderen Partnern im vergangenen Sommer den Verein „Ambulante Ethikberatung in Hessen“, der eine Anlaufstelle für ethische Fragestellungen in der ambulanten Versorgung sein soll. Denn gerade in der ambulanten häuslichen Betreuung Schwerstkranker kann es immer wieder zu Konflikten zwischen Ärzten, Patienten sowie Betreuern und Angehörigen kommen. Alle Beteiligten können sich von multiprofessionellen Teams beraten lassen. Bereits im Herbst 2015 hatte gemeinsam mit der Universitätsmedizin Göttingen sowie der AEM die Ärztekammer Niedersachsen eine Beratungsstelle für niedergelassene Mediziner („Netzwerk ambulante Ethikberatung Göttingen“) gegründet, um Ärzten Unterstützung in schwierigen Entscheidungssituationen zu bieten.
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann
3 Fragen an . . .
Prof. Dr. Florian Steger, Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. Universität Ulm
Was können ethische Fallbesprechungen leisten?
Eine Fallbesprechung im Rahmen einer Ethikberatung auf Station soll die konkrete klinisch-ethische Fragestellung beantworten und dem Behandlungsteam ein Votum für die weitere Versorgung des Patienten geben. Sie kann helfen, die konkrete klinisch-ethische Fragestellung herauszuarbeiten und Handlungsmöglichkeiten für Entscheidungen gemeinsam zu diskutieren und aufzuzeigen. Dabei sollte auch der bestehende Rechtsrahmen deutlich werden.
Wo sind die Grenzen der Ethikberatung?
Die Handlungsentscheidung bleibt beim behandelnden Arzt. Eine Fallberatung kann aber hilfreich sein, um zu einer wohlüberlegten Entscheidung zu kommen. Es soll bei einer Fallberatung konkret um den klinisch-ethischen Handlungskonflikt gehen und nicht um eine organisationsethische Frage oder Fragen, für die eine Supervision angemessen wäre.
Welche Kompetenzen brauchen Personen, die in der Ethikberatung arbeiten?
Klinisch-ethische Fragestellungen müssen erst einmal als solche erkannt werden können. Ethische Theorien und Instrumente der Beratung müssen ferner in der Praxis angewendet werden können. Die Berater müssen in der Lage sein, eine Fallberatung so zu moderieren, dass am Ende ein Votum über den Handlungskonflikt gegeben werden kann. Die Akademie für Ethik in der Medizin sieht deshalb für die Ethikberatung eine Zertifizierung vor. Wünschenswert ist zudem eine Begleitforschung über die konkrete Fallarbeit.
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