THEMEN DER ZEIT
Alfred Adler: Ein unabhängiger Kopf


Vor 80 Jahren starb der Psychoanalytiker Alfred Adler. Theorie und Praxis seiner Individualpsychologie werden auch heute diskutiert und weiterentwickelt.
Als Alfred Adler am 28. Mai 1937 in Aberdeen im Alter von 68 Jahren an einem akuten Herzversagen starb, zogen bereits dunkle Wolken über Europa und bedrohten, ja unterbanden die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der tiefenpsychologischen Theorie und Praxis. Die Individualpsychologie Adlers war hiervon in besonderem Ausmaß betroffen, da sie weder in England noch in Amerika vergleichbar erfolgreich weiterbetrieben wurde wie die Psychoanalyse. Diese erzwungene Unterbrechung erschwerte die Weiterentwicklung und den Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg beträchtlich. Heute existieren wieder sechs Ausbildungs- beziehungsweise Weiterbildungsinstitute (Aachen-Köln, Berlin, Delmenhorst, Düsseldorf, Mainz und München). Außerdem gibt es die Deutsche Gesellschaft für Individualpsychologie in Gotha, die unter anderem die „Zeitschrift für Individualpsychologie“ herausgibt und über ein umfangreiches Archiv verfügt (www.dgip.de).
Doch wodurch zeichnen sich individualpsychologische Konzepte besonders aus, was ist ihr spezieller Beitrag zum psychoanalytischen Mainstream? Obwohl Adler von 1902 bis 1911 regelmäßig an den Mittwochsgesprächen der „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“ teilnahm, dort Vorträge hielt, wichtige Funktionen übernahm und anregende Diskussionsbeiträge lieferte, blieb er immer ein unabhängiger Kopf, der in dieser Zeit in zunehmender Abgrenzung von Freud die Grundlagen seiner eigenen Theorie entwickelte. Sie war geprägt von der Überzeugung einer sozialen Pathogenese neurotischen Verhaltens und der Bedeutung von Minderwertigkeitsgefühlen, die es zu kompensieren gilt. Adler stellt das bedrohte Selbstwertgefühl in den Mittelpunkt des dynamischen Geschehens. Die frühen emotionalen Bindungen und Beziehungen in der Familie und sozialen Gruppe tragen entscheidend dazu bei, welche finale Ausrichtung und Ziele das Kind entwickelt. Insbesondere die Erfahrungen der ersten fünf Lebensjahre prägen entscheidend seinen individuellen Lebensstil, den er mithilfe seiner schöpferischen Kraft aktiv gestaltet. Ein wichtiges Element stellt hierbei das angeborene Zärtlichkeitsbedürfnis dar, das nach Befriedigung sucht, jedoch häufig auch enttäuscht wird und auf solche Erfahrungen mit erhöhter Aggressivität und seinem Willen zur Macht und Überlegenheit reagiert. Aufgrund dieser Betonung sozialer Erfahrungen und Einflüsse legte Adler besonderen Wert auf Erziehungsberatung und Prävention. Entsprechend gründeten die Individualpsychologen der ersten Stunde Kindergärten, Versuchsschulen und Beratungsstellen, um dazu beizutragen, Fehlentwicklungen möglichst früh zu vermeiden. Für Adler ist das individuelle Verhalten weniger durch Triebe determiniert, sondern jeder Einzelne ist herausgefordert, mithilfe der schöpferischen Kraft und seiner Aktivität den eigenen Lebensplan und -stil zu schaffen.
Aktuelle Publikationen belegen die anhaltende Auseinandersetzung und Beschäftigung mit der Theorie und Praxis der Individualpsychologie. Eine siebenbändige kommentierte und textkritische Studienausgabe enthält die wichtigsten Schriften Adlers (1). Im vergangenen Jahr erschien ein erster Band mit Briefen von Adler an Kollegen, Freunde und Bekannte. Inhaltlich sind die Briefe nicht spektakulär, aber sie erlauben Einblicke in Adlers Aktivitäten (2). Gisela Eife ging es in ihrem 2016 publizierten Buch um Fragen (3), die Therapeuten sich bei Patienten stellen, deren Existenz durch untergründige Ängste und Aussichtslosigkeit bedroht ist. Sie arbeitet den existenziellen Ansatz und die Besonderheiten der Theorie Adlers heraus und stellt sie in einen Zusammenhang mit anderen psychoanalytischen Konzepten.
Die jüngsten Publikationen sind Ausdruck einer lebendigen Diskussion und Weiterentwicklung individualpsychologischer Theorie und Praxis. Sie belegen, dass es sich lohnt und nicht überholt ist, sich mit den Wurzeln der eigenen psychotherapeutischen Identität zu beschäftigen und hierüber in einen konstruktiven Dialog mit Fortentwicklungen und Konvergenzen schulenübergreifend zu treten.
Gerd Lehmkuhl
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