MEDIZINREPORT
Infektionsschutz für Neugeborene: Impfen in der Schwangerschaft


Das Immunsystem Neugeborener ist noch nicht voll entwickelt, Säuglinge haben Lücken im Immunschutz. Impfungen in der Schwangerschaft können helfen, diese zu überbrücken. Aber maternale Antikörper interferieren mit Impfungen beim Kind.
Wenn der Immunschutz des Neugeborenen durch Verschwinden der mütterlichen Antikörper nachlässt, steigt ihr Infektionsrisiko. Die oberste Priorität internationaler Impfprogramme ist, Kinder vor Infektionen zu schützen. In den Industrienationen und auch in Deutschland wird empfohlen, mit den Grundimmunisierungen ab dem vollendeten 2. Lebensmonat zu beginnen. Ausnahme ist die Immunisierung gegen Rotaviren: Die Ständige Impfkommission (STIKO) beim Robert Koch-Institut in Berlin empfiehlt hier die erste Impfung ab einem Alter von 6 Wochen und eine rechtzeitige Komplettierung der Impfserie (1).
Neugeborene haben zwar Immunfunktionen, aber diese laufen gewissermaßen auf Sparflamme. Schon gegen Ende des ersten Trimesters finden sich zum Beispiel reife Granulozyten (2). Ihre bakterizide Funktion und Reaktionsfähigkeit auf inflammatorische Stimuli sind im Vergleich zum voll ausgebildeten Immunsystem allerdings schwach. Das Immunsystem des Kindes hat im Mutterleib auch andere Aufgaben als nach der Geburt.
Während der intrauterinen Entwicklung muss der Fetus immun-tolerant sein gegenüber Alloantigenen der Mutter, Antigene der extrauterinen Umgebung haben untergeordnete Bedeutung. Kommt das Kind auf die Welt, wird sein Immunsystem plötzlich mit einer großen Zahl neuer Stimuli und Antigene konfrontiert. Sie könnten überschießende Entzündungsreaktionen mit den Symptomen einer Sepsis auslösen, und davor muss sich das Kind schützen.
Immunsystem entwickelt sich mit angezogener Handbremse
Außerdem sind viele der dem Immunsystem unbekannten Mikroorganismen keine Krankheitserreger, sondern besiedeln den Darm und ermöglichen dessen normale Funktion. Es ist daher sinnvoll für das Kind, dass sich das Immunsystem langsam entwickelt. Neugeborene bilden zum Beispiel sogenannte S100-Alarmine, um die Abwehr herunterzuregulieren und eine Entwicklung mit „angezogener Handbremse“ zu ermöglichen (3). Die adaptive Immunität und Diversität der Antikörper entwickeln sich erst über längere Zeiträume nach der Geburt optimal.
Vor allem im Säuglingsalter entsteht dadurch eine Lücke im Immunschutz. Zwar erhält der Fetus ab dem 2. Trimester etwa IgG-Antikörper über die Plazenta der Mutter und nach der Geburt IgA-Antikörper über die Muttermilch, aber der passive Immunschutz ist nur vorübergehend. International wird in der Ärzteschaft derzeit intensiv darüber diskutiert, wie sich der Vulnerabilität von Neugeborenen, die zu jung sind für eine Impfung, mithilfe der Immunisierung der schwangeren Frau entgegenwirken lässt (4).
Aber auch die Schwangerschaft verändert die immunologische Reaktivität, damit der semi-allogene Fetus nicht abgestoßen wird. Konzentrationsveränderungen der Sexualhormone lösen diese Dynamik aus. Sie muss bei der Vakzinierung in der Schwangerschaft berücksichtigt werden. Trotz teilweise geringerer Immunogenität von Impfstoffen gegen Hepatitis B, Influenza und Pertussis bei Schwangeren, haben sich entsprechende Impfstoffe als klinisch vergleichbar effektiv erwiesen wie außerhalb der Schwangerschaft (4).
Für die entsprechenden Totimpfstoffe ist Schwangerschaft keine Kontraindikation. Impfungen mit einem Lebendimpfstoff wie gegen Masern-Mumps-Röteln (MMR) oder Varizellen sind in der Schwangerschaft aus theoretischen Überlegungen kontraindiziert, eine Impfung gegen Gelbfieber sollte laut STIKO in der Schwangerschaft nur bei eindeutiger Indikation und nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen (1).
Die Influenzaimpfung (Totimpfstoff) wird in den USA und Deutschland allen Schwangeren ausdrücklich empfohlen: wegen des erhöhten Risikos für schwere Verläufe und assoziierten Pneumokokkeninfektionen zum Schutz der Frau und ihres Kindes. Länder wie die USA, Großbritannien, Australien, Belgien und die Schweiz raten Schwangeren auch zur Pertussisimpfung. Denn bei 10 Prozent der Neugeborenen und Säuglinge verläuft eine Keuchhustenerkrankung kompliziert, 75 % der Pertussistodesfälle sind Säuglinge im Alter bis zu 3 Monaten (5).
Im Schweizerischen Impfplan hat es dazu 2017 eine Aktualisierung gegeben: Frauen wird in jeder Schwangerschaft eine Pertussisimpfung empfohlen, unabhängig davon, wann die letzte Impfung oder Erkrankung war (6). Die Frage nach dem besten Zeitpunkt wird von Behörden und Expertenkommissionen allerdings unterschiedlich beantwortet: In der Schweiz ist die Empfehlung, ab der 13. Gestationswoche zu impfen, in Großbritannien zwischen Woche 20 und 32 und in den USA ab Woche 26.
Beobachtungs- und Fallkontrollstudien, unter anderem aus dem britischen Impfprogramm, belegen eine starke Schutzwirkung für das Neugeborene vor Pertussis bei einer Vakzinierung der schwangeren Mutter mit einem Kombinationsimpfstoff gegen Tetanus, Diphtherie und Pertussis (Pertussis azelluläre Komponente; TdaP): Die Vakzineeffektivität lag bei mindestens 90 % in den ersten 3 Lebensmonaten (7, 8).
Pertussisimpfung in der Schwangerschaft sehr effektiv
Eine aktuelle retrospektive Kohortenstudie aus den USA mit fast 149 000 Neugeborenen hat eine vergleichbar protektive Wirkung ergeben: Eine TdaP-Auffrischungsimpfung während der Schwangerschaft vermittelt dem Kind in den ersten beiden Lebensmonaten einen Schutz vor der Pertussisinfektion von 91,4 % und von 69 % für das gesamte 1. Lebensjahr (9). Wurde die Frau vor, nicht aber während der Schwangerschaft mit TdaP geimpft, betrug der Schutzeffekt für das Kind vor Pertussis in den ersten beiden Lebensmonaten 68,6 %.
„Der Pertussisimpfstoff steht nur als Kombination TdaP zur Verfügung“, erläutert Dr. med. Marianne Röbl-Mathieu, Gynäkologin in München und Mitglied der STIKO. „TdaP war bisher in Deutschland für Schwangere nicht zugelassen, das hat sich erst kürzlich geändert.“ Die STIKO habe eine Arbeitsgruppe gebildet zur Frage, ob die Impfung mit TdaP für Schwangere empfohlen werden sollte. Zum Zeitrahmen und zum Ergebnis gebe es aber noch keine Prognose.
„Das Thema ‚Impfen in der Schwangerschaft‘ ist grundsätzlich interessant“, so der STIKO-Vorsitzende Prof. Dr. med. Thomas Mertens, Leiter des Instituts für Virologie des Universitätsklinikums Ulm, im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt. Die STIKO habe engen Kontakt zu Impfkommissionen anderer Länder, darunter der Schweiz. Sie müsse aber die Frage, ob Empfehlungen für Deutschland gegeben werden sollten, nach einer eigenen umfassenden Bewertung beantworten. Für das Prozedere gebe es eine Standardvorgehensweise der STIKO (10).
Danach würden nicht nur die wissenschaftliche Evidenz zur Wirksamkeit und Verträglichkeit des Impfstoffs bewertet, sondern auch Fragen zum Erreger berücksichtigt wie die Epidemiologie in Deutschland, zu Morbidität und Mortalität der Zielkrankheit, aber auch zu Fragen der Impfstrategie und der erwarteten Akzeptanz der Impfung oder Impfempfehlung in Ärzteschaft und Bevölkerung.
„Impfungen in der Schwangerschaft werden generell schlechter akzeptiert als Impfungen für Kinder“, erläuterte Mertens. Das belege unter anderem die vergleichsweise geringe Akzeptanz der für Schwangere empfohlenen Influenzaimpfung. „Und natürlich wird eine Impfung auch eher angenommen, wenn das medizinische Problem bei einer Erkrankung groß ist.“
Maternale Antikörper hemmen Immunantwort des Kindes
In der wissenschaftlichen Diskussion ist derzeit die Frage, ob eine Impfung in der Schwangerschaft mit dem Ansprechen von Kindern auf Grundimmunisierungen interferiert. IgG-Antikörper zum Beispiel haben eine Halbwertszeit von 25–43 Tagen, je nach Antigen (zit. nach [2, 11]). Solange die von der Mutter übertragenen Antikörper im Kind wirksam sind, könnten sie die Impfviren der Lebendimpfstoffe, Vakzineantigene oder Carrierproteine für Antigene neutralisieren und die Entwicklung einer aktiven Immunantwort des Kindes auf die Grundimmunisierung abschwächen oder verzögern. Dies wiederum könnte bedeuten, dass das Kind nach einer Immunisierung vor entsprechenden Erkrankungen schlechter geschützt ist als erwartet.
In einer aktuellen umfangreichen Metaanalyse von Studien ist untersucht worden, wie groß der Einfluss präexistierender maternaler Antikörper auf die Höhe des Immunglobulintiters beim Kind nach Erstimmunisierung und weiteren Teilimpfungen ist (11). Verfügbar waren die Daten von 7 630 Säuglingen aus 32 Studien in 17 Ländern, darunter Deutschland. In den Studien waren die Titer der Antikörper gegen 21 Antigene vor und nach Grundimmunisierung der Kinder bestimmt worden, und zwar nach der 1. Teilimpfung und weiteren 2 folgenden Teilimpfungen. Die Kinder waren zu Beginn der Studien 5–20 Wochen alt (durchschnittlich 9 Wochen bei Bestimmung der Basiswerte, Antikörpertiterbestimmung in monatlichen Abständen nach Impfungen).
Das Ergebnis: Sowohl die maternalen Antikörperkonzentrationen im Kind, als auch das Alter des Kindes bei der ersten Impfung beeinflussten die Höhe der Immunantwort, und zwar für alle Impfstoffe. Der größte Effekt präexistierender maternaler Antikörper ergab sich für inaktivierte Poliovakzine: Eine Verdoppelung der Konzentration maternaler Antikörper reduzierte die Antikörperkonzentration des Kindes nach einer Impfung um 20 bis 28 %, bei azellulären Pertussisantigenen betrug die Reduktion 11 bis 22 %, je nach Pertussisantigen, für Diphtherie lag der Wert bei 13 % und für Tetanus bei 24 %.
Eine spätere erste Impfung des Kindes wirkte den hemmenden Effekten der mütterlichen Antikörper entgegen. Eine Verzögerung der Pertussisimpfung zum Beispiel um 2½ bis 5 Wochen erhöhte die Antikörperkonzentrationen beim Kind um das 2- bis 5-fache, ähnlich wie auch bei Diphtherie und Tetanus. Am ausgeprägtesten war der Effekt für das PRP-Antigen von Hämophilus influenzae: pro Monat Verzögerung der Impfung erhöhten sich die Antikörpertiter des Kindes um jeweils 71 Prozent.
Anpassungen des Impfalters des Kindes eventuell sinnvoll
„Die beobachteten Effekte maternaler Antikörper sind nicht erstaunlich, sie sind auch bei Lebendimpfstoffen wie der MMR-Vakzine beobachtet worden“, erläuterte Mertens. „Die Erkenntnisse weisen darauf hin, dass es notwendig sein könnte, in Abhängigkeit vom Antikörpergehalt des mütterlichen Serums, das Impfalter des Kindes anzupassen und die daraus folgenden Implikationen bei Empfehlungen zu bedenken.“
Während Influenza- und TdaP-Impfstoffe in der Schwangerschaft routinemäßig angewendet werden können, sind Vakzine gegen das humane Respiratory Syncytial Virus (hRSV) und gegen Gruppe-B-Streptokokken in fortgeschrittener klinischer Entwicklung (12). Infektionen mit beiden Erregern können zu lebensbedrohlichen Verläufen bei Neugeborenen führen.
Aber auch wenn sich die Forschung daran erfolgreich weiterentwickelt, könnte es Probleme bei der Umsetzung von Empfehlungen in die Praxis geben. Die Akzeptanz werde zum Beispiel auch davon beeinflusst, wieviele Empfehlungen es bereits gebe. „Eine ‚Inflation‘ von Impfempfehlungen wäre kontraproduktiv“, meint Mertens. „Impfakzeptanz ist ein gesellschaftlicher Prozess, und die STIKO hat auch die Aufgabe abzuschätzen, ob und wie sich eine Empfehlung in den bestehenden Impfkalender einbetten lässt.“
Dr. rer. nat. Nicola Siegmund-Schultze
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit2417
oder über QR-Code.
1. | Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut – 2016/2017. Epi Bull 2016; 34: 301–40. |
2. | Simon AK, Hollander GA, McMichael A: Evolution of the immune system in humans from infancy to old age. Proc R Soc B 2015; 282: 20143085 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
3. | Ulas T, Pirr S, Fehlhaber B, et al.: S100 alarmin-induced innate immune programming protects newborn infants from sepsis; Nature Immunology 2017; DOI: 10.1038/ni.3745 CrossRef |
4. | Omer SB: Maternal Immunization. N Engl J Med 2017; 376: 1256–1267 CrossRef MEDLINE |
5. | Centers for Disease C Prevention. Notice to readers: final 2012 reports of nationally notifiable infectious diseases. MMWR Morbidity and mortality weekly report 2013; 62: 669–82 MEDLINE |
6. | https://www.guidelines.ch/page/1056/aktueller-impfplan-impfempfehlungen-schweiz |
7. | Amirthalingam G, Andrews N, Campbell H, et al.: Effectiveness of maternal pertussis vaccination in England: an observational study. Lancet 2014; 384: 1521–1528 CrossRef |
8. | Dabrera G, Amirthalingam G, Andrews N, et al.: A case-control study to estimate the effectiveness of maternal pertussis vaccination in protecting newborn infants in England and Wales, 2012–2013. Clin Infect Dis 2015; 60: 333–337 CrossRef MEDLINE |
9. | Baxter R, Bartlett J, Fireman B et al.: Effectiveness of vaccination during pregnancy to prevent infant pertussis. Pediatrics 2017; 139: e20164091 CrossRef MEDLINE |
10. | STIKO (2016), Standardvorgehensweise (SOP) der Ständigen Impfkommission (STIKO) für die systematische Entwicklung von Impfempfehlungen Version 3.0 (Stand: 16. März2016), Berlin; https://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/STIKO/Aufgaben_Methoden/SOP.pdf |
11. | Voysey M, Kelly DF, Fanshawe DR, et al.: The influence of maternally derived antibody and infant age at vaccination on infant vaccine responses. An individual participant meta-analysis. JAMA Pediatrics 2017; DOI: 10.1001/jamapedia trics.2017.0638 CrossRef |
12. | Rey-Jurado E, Kalergis AM: Immunological features of respiratory syncytial virus-caused pneumonia—implications for vaccine design. Int J Mol Sci 2017; 18: 556; DOI: 10.3390/ijms18030556 CrossRef |