ArchivDeutsches Ärzteblatt25/2017Intensivmedizinische Rehabilitation: Der „Missing Link“

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Intensivmedizinische Rehabilitation: Der „Missing Link“

Manteuffel, Leonie von

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Oft geraten schwer kranke Patienten von der stationären Akutversorgung direkt in eine Langzeitpflege, da sie als nicht „rehafähig“ gelten. Eine interdisziplinäre, intensivmedizinische Rehabilitation könnte die Lücke in der Versorgungskette schließen.

Physiotherapie – hier mit einem Balancetrainer – spielt bei der interdisziplinären, intensivmedizinischen Rehabilitation eine große Rolle. Foto: Leonie von Manteuffel
Physiotherapie – hier mit einem Balancetrainer – spielt bei der interdisziplinären, intensivmedizinischen Rehabilitation eine große Rolle. Foto: Leonie von Manteuffel

Für Patientinnen und Patienten, die nach längerer Intensivbehandlung beispielsweise mit Schluckstörungen und Magensonde oder noch über Tracheostoma beatmet aus Intensivstationen entlassen werden, mangelt es in der herkömmlichen Rehabilitation an einer geeigneten Planung und Infrastruktur“, bedauert Prof. Dr. med. Paul-Walter Schönle. Auf dem Deutschen Kongress für Rehabilitationsforschung im Frühjahr in Frankfurt forderte der Ärztliche Direktor der Maternus-Klinik in Bad Oeynhausen, dass intensivpflichtige Patienten nahtlos weiterbehandelt werden, ähnlich wie es im neurologisch-neurochirurgischen Bereich bereits durch das Phasenmodell der Rehabilitation erfolgt.

Schönle stellte auf dem Kongress seine Abteilung für interdisziplinäre, intensivmedizinische Rehabilitation (IMR) vor, die 2010 mit zwölf Betten eröffnete: Dort kümmert sich ein Team von Intensivmedizinern, Fachpflegekräften und Therapeuten (für Physio- und Ergotherapie, Logopädie, Psychotherapie) um die Patienten, die zuvor durchschnittlich 33,5 Tage auf Intensivstationen gelegen haben und deren Primärbehandlung abgeschlossen ist.

Interdisziplinäre Versorgung von Beginn an

Meist handelt es sich um Patientinnen und Patienten mit Herz-Kreislauf- und Lungenkrankheiten sowie traumatologischen Schäden. Neben der Weiterbehandlung der Grunderkrankung und der Komorbiditäten erhalten die Patienten jeden Tag Therapien zur Stärkung der Vitalfunktionen, Erhöhung der Vigilanz, Kräftigung der Atemmuskulatur, zur Mobilisierung und zum Kommunikations- und Interaktionsaufbau sowie Atemtherapie und Sprech- und Schlucktrainings. Ergänzt wird dies durch Sozial- und Angehörigenarbeit.

Ein wichtiges Therapieziel sei die Beatmungs- und Trachealkanülenentwöhnung (Weaning), „um Patienten davor zu bewahren, lebenslang beatmet zu werden, eine Kanüle zu ertragen und an Monitore angeschlossen zu sein, obwohl sie es gar nicht brauchen“, erläuterte Schönle. Er stellte den Fall einer 64-jährigen Herzpatientin vor, die nach sechswöchiger Akutbehandlung mit postoperativen Komplikationen in somnolentem Zustand in die IMR eingeliefert wurde – nachdem ihr Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zunächst wegen „mangelnder Rehabilitationsfähigkeit“ vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen abgelehnt worden war. Nach gelungener Entwöhnung vom Respirator, Kreislaufstabilisierung, Dekanülierung und gebesserter Motorik habe die Herzpatientin vier Wochen später in eine weiterführende Rehabilitation entlassen werden können, berichtete Schönle.

Im Mittel bleiben die Patienten rund 15 Wochen in der IMR, wie eine retrospektive Auswertung von 362 Fällen zeigt. Therapieerfolge sind vor allem für Patienten mit Schluckstörungen zu verzeichnen (Rückgang auf 29 Prozent der Patienten gegenüber 89 Prozent bei Aufnahme). Deutliche Rückgänge sind aber auch bezüglich Beatmung (28 versus 81 Prozent) und des Vorhandenseins eines Tracheostomas (32 versus 80 Prozent) zu verzeichnen. Von den im Mittel 62-jährigen IMR-Patienten habe man 37 Prozent in eine weiterführende Rehabilitation entlassen können, erläuterte Schönle. „Für eine beträchtliche Anzahl von Patienten ließ sich die Lebensqualität wesentlich verbessern“, fasste er zusammen.

Ein dreifacher Anmeldeüberhang für die IMR gegenüber den möglichen Aufnahmezahlen zeigt exemplarisch, dass Rehaplätze mit Intensivbetten gefragt sind. Die Studie „Versorgung invasiv langzeitbeatmeter Patienten unter regionalen Gesichtspunkten – VELA-Regio“ untermauert das: Gesundheits- und Pflegewissenschaftler der Charité – Universitätsmedizin Berlin ließen dort Ärzte, Pflegekräfte und Sozialarbeiter ihre Erfahrungen schildern. Den Experteninterviews zufolge werden beatmete Patienten zum Teil auf Intensivstationen „geparkt“ oder gelangen vielfach in „eiligen Entlassungsprozessen“ direkt in eine außerklinische Langzeitpflege, „weil es an Plätzen in pneumologischen Weaningzentren sowie in der Frührehabilitation mangelt“, bringt es das Forscherteam um Prof. Dr. Michael Ewers auf den Punkt. Zugleich sähen sich neurologische Rehakliniken mit Abteilungen zur Frührehabilitation vermehrt mit einer großen Spannbreite an Patienten konfrontiert, die zwar an Komplikationen wie Critical Illness Polyneuropathie leiden, auf deren Grunderkrankung die neurologische Spezialisierung aber nicht ausgerichtet ist. Als Beispiele nannten die befragten Experten Lungenkrankheiten, Krebserkrankungen und Zustand nach Lebertransplantation. Insgesamt benannten die Wissenschaftler einen „erheblichen Problem-, Handlungs- und Innovationsdruck“, der sich von den Intensivstationen bis in die ambulante Versorgung erstrecke.

Erfolgreiches Weaning von langzeitbeatmeten Patienten

Fortschritte gibt es dennoch: Für das Entwöhnen von Beatmungsgeräten haben sich in den letzten Jahren pneumologische Weaningzentren zu einem eigenen Strukturelement entwickelt. So verzeichnet beispielsweise das 2009 gegründete Kompetenznetzwerk „WeanNet“ über 100 Einrichtungen, davon 40 zertifizierte. Dort gelingt es der S2-Leitlinie „Prolongiertes Weaning“ der Deutschen Gesellschaft für Pulmologie und Beatmungsmedizin zufolge selbst in Fällen mit langer Beatmungszeit, schweren postoperativen Komplikationen und hoher Komorbidität in etwa der Hälfte der Fälle, ein Weaningversagen abzuwenden. Kostenträger und MDK nutzen die Expertise der Zentren vermehrt, um auch für Patienten, die sich mit unzureichender medizinischer Indikation in häuslicher Intensivpflege befinden, einen Weaningversuch anzubahnen.

Doch der Versorgungsbedarf geht darüber hinaus. „Für Beatmungspatienten gibt es inzwischen in vielen Regionen Möglichkeiten der Weiterverlegung zur Entwöhnung“, sagte Prof. Dr. med. Reimer Riessen, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin. Er wies jedoch auf Engpässe bei Patienten hin, die an einem Nierenversagen leiden oder sich einen multiresistenten Erreger zugezogen haben. Für sie sei kaum ein Platz zu finden. Auch für Patienten mit schweren kognitiven Störungen aufgrund eines Delirs gebe es kein angemessenes Versorgungsangebot. „Sinnvoll wäre ein abgestuftes Setting für die Anschlussversorgung“, erläuterte der Kardiologe und Leiter einer Internistischen Intensivstation am Universitätsklinikum Tübingen.

Mit der Frührehabilitation (FR) nach § 39 SGB V verfügen die Krankenhäuser über ein Instrument, die akutmedizinische Weiterbehandlung mit früh ansetzenden Rehabilitationskonzepten zu verbinden. Ausgebaut wurde in den letzten Jahren vor allem die geriatrische FR, in der im Jahr 2015 in etwa 14 000 Fällen Personen mitbehandelt wurden, die das 70. Lebensjahr noch nicht erreicht hatten. Die fachübergreifende Frührehabilitation blieb dagegen auf niedrigem Niveau. Gerade hier sehen die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Frührehabilitation der Akutkrankenhäuser sowie Fachgesellschaften aus der Rehabilitationsmedizin jedoch die Perspektiven für eine bedarfsgerechte Frührehabilitation. Sie fordern, die fachübergreifende FR entscheidend zu stärken und dabei vor allem eigenständige bettenführende Stationen (Acute Rehabilitation – Units ARU) aufzubauen. „Sie sollten indikations- und altersunabhängig belegt werden können, um keine Patienten ausschließen zu müssen“, erläutert das Autorenteam um Prof. Dr. med. Christoph Gutenbrunner (Hannover) und Dr. med. Joachim Beyer (Meppen). Im Blickpunkt stehen kritisch-kranke Patienten mit komplexen Krankheitsbildern und absehbar langem akutmedizinischem Behandlungsbedarf, jedoch ohne fortgesetzte intensivmedizinische Behandlungsbedürftigkeit.

Bundesweiter Bedarf an intensivmedizinischer Reha

Der Bedarf an einer Frührehabilitation wird für schätzungsweise zwei bis drei Prozent aller Krankenhauspatienten angenommen. Für die intensivmedizinische Rehabilitation beziffert das IMR-Team um Schönle einen bundesweiten Bedarf für 10 270 Patienten. Die intensivpflichtigen Rehabilitanden rekrutieren sich aus drei Gruppen: Patienten mit schwerster Akuterkrankung (beispielsweise schweres Polytrauma, viral bedingte Herzinsuffizienz), Patienten mit zusätzlichen Komplikationen (wie rezidivierende Sepsen, Multiorgandysfunktion) und chronisch kranke Patienten, zum Beispiel mit Multipler Sklerose, die eine Akuterkrankung und zusätzliche Komplikationen erleiden können. Diese Heterogenität stellt hohe Ansprüche an die Strukturen und Prozesse einer multidisziplinären, intensivmedizinischen Rehabilitation.

Leonie von Manteuffel

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