MEDIZIN: Klinische Leitlinie
Methamphetamin-bezogene Störungen
Clinical practice guideline: Methamphetamine-related disorders
; ; ; ; ;
Hintergrund: Im Vergleich zu anderen Stimulanzien wird Methamphetamin als besonders kritisch im Hinblick auf Akutkomplikationen, das langfristige neurotoxische Potenzial und die Abhängigkeitsentwicklung eingeschätzt. Bislang gab es weder in Deutschland noch international evidenzbasierte Handlungsempfehlungen.
Methode: Es wurde eine systematische Recherche zur Therapie Methamphetamin-bezogener Störungen durchgeführt. Eine multidisziplinäre Expertengruppe entwickelte davon abgeleitet in einem nominalen Gruppenprozess Empfehlungen.
Ergebnisse: Die Evidenzbasis zur Therapie Methamphetamin-bezogener Störungen ist insgesamt schwach. Die Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren, beispielsweise kognitiver Verhaltenstherapie oder Kontingenzmanagement, sowie komplexer, störungsspezifischer Programme ist in den vorliegenden randomisierten kontrollierten Studien gut belegt. Dabei ist nicht geklärt, welche Methode besonders geeignet ist. Betroffene mit Substanzkonsumdiagnose sollen prinzipiell ein Psychotherapie-Angebot erhalten. Sowohl angeleitete als auch selbstständige strukturierte Sportprogramme können suchtspezifische Endpunkte wie komorbide Störungen verbessern und sollen deshalb angeboten werden. Medikamentöse Interventionen zeigten in vergleichsweise schwachen Studien mit kleinen Fallzahlen und hohen Drop-out-Raten geringe bis keine Effekte und werden deshalb sehr eingeschränkt empfohlen – in erster Linie Tranquilizer zur kurzfristigen Behandlung von Agitiertheit, notfalls auch atypische Antipsychotika. Substitutionsversuche wie mit Methylphenidat oder Dexamphetamin haben bislang keine belastbaren Ergebnisse gezeigt. Sertralin soll wegen erheblicher unerwünschter Arzneimittelwirkungen nicht eingesetzt werden.
Schlussfolgerung: Wegen der schwachen Evidenzbasis und teils geringer Effekte haben viele Empfehlungen einen schwachen Empfehlungsgrad erhalten. In der Akutsituation wird ein symptomorientiertes Vorgehen empfohlen. Psychotherapie und Sport sollen angeboten werden.


Ärzte und Personal von Kliniken, Praxen und Einrichtungen der Suchthilfe sehen sich zunehmend mit einem verstärkten Methamphetamin-Konsum konfrontiert („meth“, „crystal meth“). Dieser ist in einigen Regionen von Sachsen, Thüringen und Bayern, die nahe an der tschechischen Grenze liegen, besonders verbreitet. Darüber hinaus scheint Methamphetamin auch in speziellen Szenen, wie zum Beispiel MSM (Männer, die Sex mit Männern haben) verbreitet zu sein. Der sogenannte „Chemsex“, also Geschlechtsverkehr unter Drogeneinfluss, steht in Verbindung mit der besonders riskanten intravenösen Konsumform (1). Im Vergleich zu anderen Stimulanzien ist Methamphetamin vor allem kritisch im Hinblick auf Akutkomplikationen, das langfristige neurotoxische Potenzial und die Entwicklung einer Abhängigkeit. Für die multidisziplinäre Suchthilfe, aber auch für Ersthelfer und Krankenhauspersonal ist die Behandlung Methamphetamin-bezogener Störungen eine Herausforderung. Diesbezüglich besteht Unterstützungsbedarf, zumal verfügbare Leitlinien aus Deutschland und dem Ausland sich nicht spezifisch auf die Substanz Methamphetamin beziehen und größtenteils veraltet sind (2).
Auf Initiative der Bundesdrogenbeauftragten, finanziert durch das Bundesgesundheitsministerium und beauftragt von der Bundesärztekammer entwickelte ein Expertenpanel nach den Kriterien der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) diese S3-Leitlinie von April 2015 bis September 2016. Methodische Unterstützung erfolgte durch das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin. Zu den 21 beteiligten Experten gehörten klinisch tätige und niedergelassene Ärzte verschiedener Fachrichtungen, Psychotherapeuten, Krankenpfleger, Sozialarbeiter und Vertreter der Selbsthilfe (eTabelle 1, eTabelle 2). Weitere Experten wurden bei spezifischen Fragestellungen hinzugezogen.
Methodik
Die S3-Leitlinie wurde gemäß AWMF-Regelwerk erstellt (3). Eine systematische Literaturrecherche erfolgte im Juni 2015 in der Cochrane Database, Medline, PSYNDEX und PsycINFO. Ergänzend wurde eine Handsuche durchgeführt. Eingeschlossen wurden alle Studien und systematischen Reviews zu therapeutischen Interventionen bei Menschen mit Methamphetamin-bezogener Störung ab dem Jahr 2000 (Grafik, eTabelle 3 und 4, eKasten). Die Evidenz wurde nach dem Schema des Oxford Centre for Evidence-Based Medicine 2011 graduiert und systematische Reviews wurden zusätzlich entsprechend AMSTAR (Assessing the Methodological Quality of Systematic Reviews) bewertet. Eine systematische Suche nach Leitlinien erfolgte im April 2015. Identifizierte Leitlinien wurden mit dem deutschen Leitlinien-Bewertungsinstrument (DELBI) bewertet. Eine Update-Recherche erfolgte nicht. Die Experten brachten im Entwicklungsprozess keine weiteren Studien ein.
Empfehlungen wurden in drei Konsensuskonferenzen im nominalen Gruppenprozess konsentiert. Dabei war eine Konsensstärke von mindestens 75 % erforderlich. Von Mai bis Juni 2016 erfolgte eine öffentliche Konsultation.
Mögliche Interessenkonflikte aller Beteiligten wurden nach den Vorgaben der AWMF erfasst und diskutiert (3). Ausschlüsse wurden als nicht erforderlich angesehen, in Einzelfällen Enthaltung beschlossen.
Das methodische Vorgehen, die Evidenztabellen, Kommentare aus der Konsultation sowie die Erhebungen der Interessenkonflikte sind im zugehörigen Leitlinienreport publiziert (2).
Ergebnisse
Evidenzgrundlage
Es wurden 348 Volltexte gesichtet und 103 Studien eingeschlossen, davon 58 zu medikamentösen Interventionen. Trotz randomisierter kontrollierter Studien (RCT) wiesen die meisten Publikationen erhebliche Limitationen auf, darunter kleine Fallzahlen und hohe Drop-out-Raten. Selten wurde Abstinenz als primärer Endpunkt untersucht, häufiger Konsummenge und -häufigkeit, Haltequote (Verbleiben in der Therapie) oder Suchtdruck. Zusammenfassend gibt es bislang wenige und eher schwache Wirksamkeitshinweise für medikamentöse Interventionen in der Akut- und Postakuttherapie. In Psychotherapie-Studien ist vor allem die Übertragbarkeit einiger angloamerikanischer Konzepte wie zum Beispiel dem belohnungsbasierten Kontingenzmanagement auf Deutschland fraglich, da die Akzeptanz der eingesetzten materiellen Verstärker durch Patienten von soziokulturellen Einstellungen und sozioökonomischen Lebensverhältnissen abhängig ist.
Empfehlungen
Dennoch wurden 135 Empfehlungen zu den Themen Diagnostik, Awareness und Frühintervention, Akuttherapie, Postakuttherapie, Komorbidität, besondere Personengruppen, Rückfallprophylaxe und Schadensminimierung konsentiert, davon mehr als zwei Drittel einstimmig. Wegen der eingeschränkten Aussagesicherheit der Evidenz und geringer Effekte sind viele Empfehlungen schwach. Nur bei relativer Sicherheit bezüglich der Therapieeffekte, relevanten ethischen Überlegungen oder Beschreibung etablierter guter klinischer Praxis sprechen die Experten starke Empfehlungen aus. Im Folgenden werden ausgewählte Empfehlungen zur Therapie vorgestellt. Empfehlungen zur Behandlungsplanung finden sich in Tabelle 1.
Akuttherapie
Notfallbehandlung
In der Literaturrecherche zur Notfallbehandlung einer Methamphetamin-Intoxikation wurden keine Primärstudien, aber eine ältere, konsensbasierte Leitlinie mäßiger methodischer Qualität gefunden (4). Darauf und auf klinischer Erfahrung beruhen die Empfehlungen.
Die Versorgung einer Methamphetamin-intoxikierten Person sollte in einer möglichst ruhigen, reizabschirmenden Umgebung mit kontinuierlicher personeller Begleitung erfolgen. Da bei Methamphetamin-Intoxikation häufig ein Mischkonsum vorliegt, sollte ohne ausreichende Überwachungsmöglichkeit auf die Gabe von Medikamenten so weit wie möglich verzichtet werden. Besteht wegen starker Agitiertheit, Aggressivität oder psychotischer Symptome dringende Behandlungsbedürftigkeit, sollen als Mittel der ersten Wahl Benzodiazepine eingesetzt werden. Lässt sich mit diesen allein keine ausreichende Sedierung erzielen, kann ergänzend ein Antipsychotikum erwogen werden, insbesondere bei Wahnvorstellungen und Halluzinationen.
Nach einer Intoxikation soll eine weiterführende psychiatrische/suchtmedizinische Diagnostik und gegebenenfalls Behandlung empfohlen werden. Bei festgestellter Methamphetamin-Abhängigkeit soll eine stationäre qualifizierte Entzugsbehandlung von mindestens 3 Wochen angeboten werden.
Qualifizierte Entzugsbehandlung
Zur Wirksamkeit von Interventionen in der qualifizierten Entzugsbehandlung wurden nur wenige Studien identifiziert. Die Empfehlungen beruhen vor allem auf Extrapolationen von Studien zur Postakutbehandlung sowie Expertenmeinung.
Bei einer Methamphetamin-bezogenen Störung sollen im Rahmen einer stationären qualifizierten multimodalen Entzugsbehandlung psychotherapeutische Methoden wie Psychoedukation und Motivational Interviewing angeboten werden. Zum Vergleich der einzelnen psychotherapeutischen Methoden im Rahmen der Akuttherapie liegen keine gesicherten Studienergebnisse vor. Im Längsschnitt sind vermutlich komplexe, aufeinander abgestimmte Interventionspakete erfolgversprechender als die Summe von Einzelinterventionen (5). Deshalb können im Sinne einer engen Verzahnung der Akut- und Postakutbehandlung auch andere psychotherapeutische Methoden wie Verhaltenstherapie oder Kontingenzmanagement bereits in der qualifizierten Entzugsbehandlung Anwendung finden.
Bezüglich einer medikamentösen Therapie haben vorhandene RCT sehr kleine Fallzahlen und hohe Drop-out-Raten. Effekte zeigten sich nur bei sekundären Endpunkten wie Suchtdruck oder Haltequote. Die Experten empfehlen daher – und auch vor dem Hintergrund des grundsätzlichen Off-Label-Use – einen zurückhaltenden Einsatz von Medikamenten, wobei je nach Zielsyndrom Tranquilizer, antriebssteigernde Antidepressiva oder Antipsychotika in Frage kommen können (symptomorientiertes Vorgehen, Tabelle 2). Wegen der Gefahr eines serotonergen Syndroms und der häufig beschriebenen erhöhten Rate an Nebenwirkungen rät die Leitlinie von selektiven Serotoninwiederaufnahme-Hemmern (SSRI) auch bei depressiver Symptomatik dezidiert ab. Als „Kann“-Empfehlungen werden Dexamphetamin (bei mehrfachen erfolglosen Entzugsversuchen in der Vorgeschichte, zeitlich befristet und ausschließlich im stationären Setting) und Acetylcystein (bei ausgeprägtem Craving) genannt. In zwei kleinen RCT zeigte Dexamphetamin keinen Effekt auf die Konsumreduktion, aber wirkte sich positiver auf sekundäre Endpunkte im Vergleich zu Placebo aus (Haltequote: 86,3 ± 52,2 Tage versus 48,6 ± 45,4 Tage; p = 0,014). Im Placebovergleich verbesserte Acetylcystein bei einer sehr kleinen Patientenzahl Craving signifikant (4,57 versus 3,2; p < 0,001). Hier war unter anderem das günstige Nebenwirkungsprofil ausschlaggebend für die Berücksichtigung.
Postakuttherapie
Postakute Interventionsformen sollen nach Expertenmeinung im Anschluss an die Entzugsphase als nahtlose weiterführende Behandlung angeboten werden, um Betroffene im Suchthilfesystem zu halten und zu stabilisieren.
Psychotherapeutische Beratungs- und Behandlungsangebote
Im Rahmen der Recherche wurden 26 RCT zu psychotherapeutischen Verfahren identifiziert, die eine Reduktion des Methamphetamin-Konsums als primären Endpunkt hatten. Abstinenzorientierte Therapieziele wurden in keiner Studie explizit verfolgt, sondern (temporäre) Abstinenz lediglich als sekundärer Endpunkt erhoben. Ob die Interventionen geeignet sind, Abstinenz zu fördern, lässt sich auf Basis der vorliegenden Daten daher nicht abschließend beurteilen. Belegt sind positive Effekte zum Beispiel auf die Konsumfrequenz, die Anzahl negativer Urinproben oder Suchtdruck.
Wirksamkeitsstudien zu folgenden Interventionsmethoden wurden ermittelt:
- Psychoedukation
- motivierende Gesprächsführung
- Motivationsförderung
- Kontingenzmanagement
- kognitive Verhaltenstherapie
- Akzeptanz- und Commitment-Therapie
- Matrix und FAST („Family Alternative treatment activities, Self-help and Therapeutic community“)
- Stepped-Care-Ansätze (ein bedarfsgerecht abgestuftes System an Interventionsangeboten von niederschwelligen Edukations- bis hin zu komplexen und stationären Therapieansätzen)
- gemeindenahe Ansätze.
Bei allen Interventionen verbesserten sich suchtspezifische Endpunkte wie Reduktion des Methamphetamin-Konsums signifikant im Vergleich zu Baseline und zur Kontrollgruppe. Im Vergleich zwischen verschiedenen Methoden ergaben sich selten signifikante Vorteile eines spezifischen Vorgehens. Ein RCT mit 229 Patienten verglich ein Psychotherapieverfahren und eine medikamentöse Entzugsbehandlung mit Sertralin (6). Kontingenzmanagement, das angewendete Psychotherapieverfahren, ist eine Interventionsmethode der klassischen Verhaltenstherapie, bei der das Erreichen vereinbarten Verhaltens wie die Konsumreduktion durch Belohnungen, zum Beispiel einen Gutschein, verstärkt wird. Hier wiesen die mit Sertralin behandelten Patienten eine signifikant geringere Haltequote auf und besuchten signifikant seltener die Rückfallprophylaxe. Unter Kontingenzmanagement zeigte sich eine signifikant höhere Rate an Patienten mit drei aufeinanderfolgenden Abstinenz-Wochen (Sertralin [25,4 %] versus Sertralin + Kontingenzmanagement [42,6 %] versus Kontingenzmanagement [51,9 %] versus Placebo [41,8 %], p = 0,035). Hinsichtlich Craving, Depression und Adhärenz zeigte sich kein Unterschied. Allerdings wurden unter Sertralin signifikant mehr Nebenwirkungen (Übelkeit, sexuelle Dysfunktion, gastrointestinale und anticholinerge unerwünschte Arzneimittelwirkungen) berichtet.
Die Leitlinienautoren schlussfolgern, dass die untersuchten psychotherapeutischen Angebote wirksam sind. Jedoch lässt sich aufgrund der Studiendesigns nicht ableiten, ob bestimmte Ansätze überlegen sind. Möglicherweise sind komplexe, störungsspezifische Ansätze wie Matrix besonders wirksam. Im RCT zur Wirksamkeit von Matrix (7) kann es zu einer Unterschätzung des Therapieeffekts gekommen sein, da dort das „treatment as usual“ der Kontrollgruppe in höherer Dosierung und Intensität erfolgte.
Daher soll jedem Methamphetamin-Konsumierenden mit oder ohne Abhängigkeitsdiagnose ein bedarfs-/motivationsgerechtes psychotherapeutisches Beratungs- oder Therapieangebot gemacht werden. Dieses sollte nach dem Stepped-Care-Ansatz von niederschwelligen Aufklärungs-, Psychoedukations- und Beratungsangeboten bis zu multimodalen Konsumreduktions- beziehungsweise Entwöhnungstherapieprogrammen reichen. Methamphetamin-Konsumierenden, die die Diagnosekriterien für eine substanzbezogene Störung erfüllen, sollten je nach Bereitschaft und Verfügbarkeit zur Konsumreduktion oder Entwöhnung eine Verhaltenstherapie beziehungsweise Methamphetamin-spezifische komplexe Programme angeboten und vermittelt werden.
Medikamentöse Therapie
Die Recherche erbrachte 58 Studien zu medikamentösen Interventionen, überwiegend RCT, von denen jedoch nur wenige von ausreichender methodischer Qualität waren. Viele Studien wurden zudem in Kombination mit kognitiver Verhaltenstherapie durchgeführt (8). Untersucht wurden Acetylcystein, Antidepressiva, Antiepileptika, atypische Neuroleptika, Kalzium-Antagonisten, Muskelrelaxanzien, Opioidantagonisten, Psychostimulanzien, Vareniclin, Cholinesterase-Hemmer und Citicolin. Keines der untersuchten Präparate hat in Deutschland eine Zulassung zur Behandlung bei Methamphetamin-Abhängigkeit.
Nach Abwägung der Studienlimitationen, der beobachteten Effekte und möglicher Schäden sprechen die Experten nur für die antriebssteigernden Antidepressiva Bupropion und Imipramin eine schwache, eingeschränkte „Kann“-Empfehlung aus. Eine Post-Hoc-Analyse eines methodisch hinreichenden RCT (n = 151) zeigte einen leichten Vorteil von Bupropion im Vergleich zu Placebo für die Abstinenzdauer bei Patienten, die bereits zum Zeitpunkt Baseline einen mäßig starken Konsum (weniger als 18 Tage pro Monat) hatten. Die Abstinenz ≥ 2 Wochen betrug absolut 20 % versus 7 %, ≥ 6 Wochen 14 % versus 4 %, 12 Wochen 6 % versus 1 % (p = 0,0176) (9, 10). Obwohl ein weiterer, kleinerer RCT (n = 94) diese Ergebnisse nicht bestätigen konnte (11), sehen die Experten hier zumindest die Möglichkeit einer Therapieunterstützung für Menschen mit geringem bis moderatem Konsum. Für 150 mg Imipramin täglich ergab ein kleines RCT (n = 32) eine signifikant höhere Haltequote im Vergleich zu 10 mg täglich (median 33 Tage versus 10,5 Tage) (12, 13).
Sertralin soll nicht bei Methamphetamin-bezogener Störung gegeben werden. Hier ergab sich in einem methodisch hinreichenden RCT kein Nutzen im Placebovergleich und zudem eine signifikant schlechtere Haltequote (38 % versus 60 %, p = 0,036) sowie eine starke Tendenz zu schlechteren Abstinenzergebnissen, gemessen als 3 aufeinanderfolgende Wochen ohne positiven Urintest (34,2 % versus 46,8 %, p = 0,052) (6).
Die Experten halten Substitutionsversuche mit Psychostimulanzien, obwohl sie pharmakologisch plausibel sind, für nicht hinreichend belegt, beispielsweise retardiertes D-Amphetamin oder retardiertes Methylphenidat. Die wenigen RCT wiesen erhebliche Mängel auf, die Effekte waren nicht konsistent und bezogen sich meist auf sekundäre Endpunkte. Solche Behandlungsversuche sollen nur im Rahmen hochwertiger klinischer Studien (eher im stationären Setting) erfolgen. Darüber hinaus sollte Modafinil nicht eingesetzt werden. Hier konnte ein RCT (n = 210, hohe Drop-out-Rate, geringe Compliance) (14) keine Vorteile gegenüber Placebo zeigen bei gleichzeitig hoher Gefahr von Wechselwirkungen (Wirkungsverstärkung).
Auch eine medikamentöse Kombinationsbehandlung mit Flumazenil, Gabapentin und Hydroxyzin zeigte in einem RCT (15) keine Wirksamkeit bei gleichzeitiger Gefahr gravierender Nebenwirkungen wie epileptischen Anfällen. Sie soll daher nicht eingesetzt werden.
Die Experten halten die Evidenz für alle weiteren getesteten Substanzen für nicht aussagekräftig genug, um überhaupt Empfehlungen auszusprechen. Hier wird dringender Forschungsbedarf gesehen.
Weitere Therapien
In drei methodisch belastbaren RCT hatte die Sporttherapie einen signifikant positiven Effekt auf Methamphetamin-Abstinenzsymptome wie Suchtdruck, aber auch auf Begleitsymptome wie Angst und Depressivität (16–18). Untersucht wurden sowohl angeleitete strukturierte Sportprogramme mehrmals pro Woche mit unterschiedlicher Intensität als auch ein durch die Patienten selbst gesteuertes Sportprogramm. Deshalb soll Sporttherapie unterstützend angeboten und vermittelt werden.
Auch Neurofeedback verbesserte in einem RCT suchtspezifische Endpunkte und Lebensqualität im Vergleich zu einer alleinigen Pharmakotherapie (19). Da es sich aber um ein aufwendiges Verfahren handelt, sprechen die Experten eine schwache „Kann“-Empfehlung aus.
Zum Einsatz der Ohrakupunktur nach dem Protokoll der National Accupuncture Detoxification Association (NADA) bei Methamphetamin-Konsumierenden liegen zwar keine Studien vor, aber positive Einzelfallberichte existieren. Da sie als ausgesprochen risikoarm gilt, geben die Experten trotz fehlender Evidenz eine schwache „Kann“-Empfehlung.
Komorbide Erkrankungen
Komorbide psychische Störungen sind bei Methamphetamin-bezogenen Störungen häufig, wobei die Zusammenhänge komplex und keineswegs unidirektional sind. Hinweise auf eine Selbstmedikation ergeben sich, wenn Methamphetamin beispielsweise zur Linderung von Symptomen depressiver Störungen sowie von Angst oder Traumafolgestörungen genutzt wird (1). Auf der anderen Seite können durch den Konsum von Metamphetamin selbst psychische Symptome und Störungen hervorgerufen werden.
Methamphetamin-bezogene Störung und komorbide Störungen sollten nach Expertenmeinung vorzugsweise integriert behandelt oder, wenn dies nicht möglich ist, angemessen koordiniert werden. Betroffenen mit einer komorbiden psychischen Störung soll ein störungsspezifisches Psychotherapieangebot gemacht werden.
Im Folgenden werden nur Besonderheiten der Therapie komorbider Erkrankungen bei bestehender Methamphetamin-bezogener Störung adressiert, soweit sie sich aus der vorhandenen Literatur ableiten lassen.
Depression und bipolare Störung
Die bisher verfügbaren Studien haben keine Wirksamkeit von Antidepressiva bei komorbider Depression gezeigt. Schwache Wirksamkeitshinweise von begrenzter methodischer Qualität bei depressiver Symptomatik liegen für das Antipsychotikum Quetiapin, sehr schwache für die Nahrungsergänzungsmittel Citicolin oder Kreatin vor. Sie können als Therapieversuch bei Depression oder bipolarer Störung ergänzend angeboten werden (20–22). Bei bipolarer Störung gibt es zusätzlich schwache Nutzenhinweise für Risperidon, auch dies kann angeboten werden (20). Bei den Nahrungsergänzungsmitteln spricht neben einem nicht sehr belastbaren Hinweis auf einen Nutzen vor allem das geringe Schadenspotenzial für die Empfehlung: In einem Placebo-kontrollierten RCT (n = 60) verbesserte sich die depressive Symptomatik nach Inventory of Depressive Symptomatology-Clinician Rating (IDS-C) von 38,8 versus 37,8 zum Zeitpunkt Baseline auf 26,2 versus 33,1 (p = 0,05) am Studienende (21). Psychoedukation und Sporttherapie haben sich als wirksam erwiesen und sollen angeboten werden (17, 23).
Angststörungen
Sporttherapie konnte in einem methodisch guten RCT auch Angstsymptomatik reduzieren und soll daher angeboten werden (17).
Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung
Die allgemeine Behandlungsempfehlung der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung zu Methylphenidat ist auf Patienten mit komorbider Methamphetamin-bezogener Störung nicht übertragbar. Neben einer möglichen Toleranz gegenüber Methylphenidat aufgrund der Ähnlichkeit der chemischen Struktur birgt die Therapie ein Missbrauchspotenzial. Deshalb sollten, wenn die Indikation für eine Pharmakotherapie besteht, in erster Linie Atomoxetin oder Antidepressiva wie zum Beispiel Bupropion, Venlafaxin oder Duloxetin gegeben werden.
Rückfallprophylaxe
Auf Basis klinischer Erfahrung und Fallberichten empfiehlt die Leitlinie, dass zeitnah nach der Postakutbehandlung eine suchtbezogene Versorgung von mindestens einem Jahr folgen sollte. Diese ist idealerweise individuell auf die Bedürfnisse der Betroffenen abgestimmt und kann psychotherapeutische Gruppen- oder Einzeltherapien, soziotherapeutische Angebote sowie Selbsthilfe oder Sportangebote umfassen.
Schadensminimierung
Die Leitlinie empfiehlt zwar als primäres Therapieziel die Abstinenz. Viele Betroffene können oder wollen dieses Ziel jedoch (noch) nicht erreichen. Ihnen sollen geeignete Maßnahmen zur Schadensminimierung empfohlen werden:
- Konsumreduktion
- weniger schädliche Konsumformen, vor allem kein intravenöser Konsum
- Vermeidung von gefährlichen Wechselwirkungen wie dem Serotonin-Syndrom
- regelmäßige Ernährung
- Wahrung der Zahngesundheit
- geschützter Sex.
Diskussion
Die systematische Recherche zur Therapie der Methamphetamin-bezogenen Störung hat Evidenz zu vielen psychotherapeutischen, medikamentösen und weiteren Interventionen identifiziert. Die Experten schätzen die meisten vorliegenden Studien jedoch als methodisch unzureichend ein, sodass sie viele Empfehlungen als Expertenkonsens aussprechen. Psychotherapiemethoden sind trotz weniger Studien (26 RCT) im Vergleich zur medikamentösen Studienlage (58 RCT) besser im Nutzen, das heißt in der Reduktion des Konsums, belegt: Verhaltenstherapeutische Interventionen, Kontingenzmanagement und Kombinationsprogramme haben sich als wirksam erwiesen, wobei allerdings die Übertragbarkeit einiger angloamerikanischer Konzepte auf Deutschland fraglich ist. Ob Psychotherapie das Ziel, eine Abstinenz zu erreichen, verbessern kann, ist empirisch unbeantwortet. Für medikamentöse Verfahren fanden sich trotz einer höheren Anzahl an RCT wenige positive Effekte auf die verschiedenen Aspekte Methamphetamin-bezogener Störungen. Die Autoren der Leitlinie sehen dringenden Forschungsbedarf.
Danksagung
Wir bedanken uns bei allen Autoren und externen Experten der S3-Leitlinie „Methamphetamin-bezogene Störungen“: Wolf-Dietrich Braunwarth, Michael Christ, Jürgen Dinger, Henrike Dirks, Janina Dyba, Timo Harfst, Heribert Fleischmann, Peter Jeschke, Marco R. Kesting, Antje Kettner, Michael Klein, Benjamin Löhner, Winfried Looser, Sascha Milin, Josef Mischo, Bernd Mühlbauer, Jeanine Paulick, Niklas Rommel, Ingo Schäfer, Norbert Scherbaum, Katharina Schoett, Frank Schulte-Derne, Jan-Peter Siedentopf, Frank Vilsmeier, Norbert Wittmann, Anne Krampe-Scheidler.
Interessenkonflikt
Prof. Gouzouli-Mayfrank erhielt Honorare für Buchprojekte mit Bezug zum Thema der vorliegenden Arbeit von den Verlagen Springer, Kohlhammer, Steinkopff und Thieme.
Die übrigen Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 14. 3. 2017, revidierte Fassung angenommen: 7. 4. 2017
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank
Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ)
TiergartenTower
Straße des 17. Juni 106–108
10623 Berlin
euphrosyne.gouzoulis-mayfrank@lvr.de
Zitierweise
Gouzoulis-Mayfrank E, Härtel-Petri R, Hamdorf W, Havemann-Reinecke U,
Mühlig S, Wodarz N: Clinical practice guideline: Methamphetamine-related disorders.
Dtsch Arztebl Int 2017; 114: 455–61. DOI: 10.3238/arztebl.2017.0455
The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
Zusatzmaterial
eTabellen, eKasten:
www.aerzteblatt.de/17m0455 oder über QR-Code
Landschaftsverband Rheinland (LVR)-Klinik Köln: Prof. Dr. med. Gouzoulis-Mayfrank
Psychotherapeutische Praxis Bayreuth: Dr. med. Härtel-Petri
Allgemeine Hospitalgesellschaft (AHG) Klinik Mecklenburg: Dr. med. Hamdorf
Universitätsmedizin Göttingen: Prof. Dr. med. Havemann-Reinecke
Technische Universität Chemnitz: Prof. Dr. phil. Mühlig
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität am Bezirksklinikum Regensburg: Prof. Dr. med. Wodarz
1. | Milin S, Lotzin A, Degkwitz P, et al.: Amphetamin und Methamphetamin – Personengruppen mit missbräuchlichem Konsum und Ansatzpunkte für präventive Maßnahmen. Sachbericht. 2014. www.methstudie.de/ats-bericht.pdf (last accessed 2 June 2017). |
2. | Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Bundesministerium für Gesundheit (BMG), Bundesärztekammer (BÄK), Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN): S3-Leitlinie Methamphetamin-bezogene Störungen. Leitlinienreport. 1st Edition. Version 1. doi.org/10.6101/AZQ/000337 (last accessed on 21 November 2016). |
3. | Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF): Das AWMF-Regelwerk Leitlinien. München: Zuckschwerdt 2012. |
4. | Guidelines Development Working Party, Jenner J, Spain D, et al.: Management of patients with psychostimulant toxicity: guidelines for emergency departments. Canberra: Australian Government Department of Health and Ageing 2006. |
5. | Turning Point Alcohol and Drug Centre, Lee N, Johns L, et al.: No 14: Methamphetamine dependence and treatment. Fitzroy, Victoria: Turning Point Alcohol and Drug Centre 2007. |
6. | Shoptaw S, Huber A, Peck J, et al.: Randomized, placebo-controlled trial of sertraline and contingency management for the treatment of methamphetamine dependence. Drug Alcohol Depend 2006; 85: 12–8 CrossRef MEDLINE |
7. | Rawson RA, Marinelli-Casey P, Anglin MD, et al.: A multi-site comparison of psychosocial approaches for the treatment of methamphetamine dependence. Addiction 2004; 99: 708–17 CrossRef MEDLINE |
8. | Substance Abuse and Mental Health Services Administration (SAMHSA): Counselor‘s treatment manual: matrix intensive outpatient treatment for people with stimulant use disorders. Reprinted 2007. Rockville, MD: SAMHSA 2006. |
9. | Elkashef A, Vocci F, Hanson G, White J, Wickes W, Tiihonen J: Pharmacotherapy of methamphetamine addiction: an update. Subst Abus 2008; 29: 31–49 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
10. | McCann DJ, Li SH: A novel, nonbinary evaluation of success and failure reveals bupropion efficacy versus methamphetamine dependence: reanalysis of a multisite trial. CNS Neurosci Ther 2012; 18: 414–8 CrossRef MEDLINE |
11. | Anderson AL, Li SH, Markova D, et al.: Bupropion for the treatment of methamphetamine dependence in non-daily users: a randomized, double-blind, placebo-controlled trial. Drug Alcohol Depend 2015; 150: 170–4 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
12. | Galloway GP, Newmeyer J, Knapp T, Stalcup SA, Smith D: Imipramine for the treatment of cocaine and methamphetamine dependence. J Addict Dis 1994; 13: 201–16 CrossRef MEDLINE |
13. | Galloway GP, Newmeyer J, Knapp T, Stalcup SA, Smith D: A controlled trial of imipramine for the treatment of methamphetamine dependence. J Subst Abuse Treat 1996; 13: 493–7 CrossRef |
14. | Anderson AL, Li SH, Biswas K, et al.: Modafinil for the treatment of methamphetamine dependence. Drug Alcohol Depend 2012; 120: 135–41 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
15. | Ling W, Shoptaw S, Hillhouse M, et al.: Double-blind placebo-controlled evaluation of the PROMETA protocol for methamphetamine dependence. Addiction 2012; 107: 361–9 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
16. | Wang T, Shen B, Shi Y, Xiang P, Yu Z: Chiral separation and determination of R/S-methamphetamine and its metabolite R/S-amphetamine in urine using LC-MS/MS. Forensic Sci Int 2015; 246: 72–8 CrossRef MEDLINE |
17. | Rawson RA, Chudzynski J, Gonzales R, et al.: The impact of exercise on depression and anxiety symptoms among abstinent methamphetamine-dependent individuals in a residential treatment setting. J Subst Abuse Treat 2015; 57: 36–40 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
18. | Dolezal BA, Chudzynski J, Storer TW, et al.: Eight weeks of exercise training improves fitness measures in methamphetamine-dependent individuals in residential treatment. J Addict Med 2013; 7: 122–8 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
19. | Rostami R, Dehghani-Arani F: Neurofeedback training as a new method in treatment of crystal methamphetamine dependent patients: a preliminary study. Appl Psychophysiol Biofeedback 2015; 40: 151–61 CrossRef MEDLINE |
20. | Nejtek VA, Avila M, Chen LA, et al.: Do atypical antipsychotics effectively treat co-occurring bipolar disorder and stimulant dependence? A randomized double-blind trial. J Clin Psychiatry 2008; 69: 1257–66 CrossRef MEDLINE |
21. | Brown ES, Gabrielson B: A randomized, double-blind, placebo-controlled trial of citicoline for bipolar and unipolar depression and methamphetamine dependence. J Affect Disord 2012; 143: 257–60 CrossRef MEDLINE |
22. | Hellem TL, Lundberg KJ, Renshaw PF: A review of treatment options for co-occurring methamphetamine use disorders and depression. J Addict Nurs 2015; 26: 14–23 CrossRef MEDLINE |
23. | Sherman SG, Sutcliffe C, Srirojn B, Latkin CA, Aramratanna A, Celentano DD: Evaluation of a peer network intervention trial among young methamphetamine users in Chiang Mai, Thailand. Soc Sci Med 2009; 68: 69–79 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
-
Book, 201910.1007/978-3-662-57334-1_7
-
Frontiers in Psychiatry, 202110.3389/fpsyt.2021.658205
-
ACS Chemical Neuroscience, 202010.1021/acschemneuro.9b00559
-
Frontiers in Cellular Neuroscience, 201910.3389/fncel.2019.00366
-
Journal of Psychoactive Drugs, 201910.1080/02791072.2019.1578445
-
Frontiers in Psychiatry, 202010.3389/fpsyt.2020.00581
-
Molecular Biology Reports, 202110.1007/s11033-021-06741-y
-
Issues in Mental Health Nursing, 201910.1080/01612840.2018.1553003
-
Frontiers in Cellular Neuroscience, 202210.3389/fncel.2022.958437
-
Deutsches Ärzteblatt international, 201810.3238/arztebl.2018.0049
Kommentare
Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.