THEMEN DER ZEIT
Kinder von suchtkranken und psychisch kranken Eltern: Sucht ist eine Familienerkrankung


Suchtkranke erhalten, wenn sie wollen, alle notwendigen Hilfen. Die Probleme ihrer Kinder bleiben jedoch häufig im Dunkeln. Bei der Jahrestagung der Bundesdrogenbeauftragten wurde gefordert, das ganze System Familie in den Blick zu nehmen.
Natalie war stark genug. Jahrelang lebte sie mit ihrer alkoholkranken Mutter und zwei deutlich jüngeren Geschwistern zusammen. Mit zwölf versorgte sie alleine die Kleinen, machte den Haushalt und räumte die leeren Flaschen weg, während die Mutter auf dem Sofa ihren Rausch ausschlief. Immer schlimmer wurden die aggressiven Ausbrüche der Mutter, die die Kinder für ihr Elend verantwortlich machte: „Hätte ich euch bloß nicht bekommen, dann wäre euer Vater nicht weg, dann müsste ich nicht trinken, dann . . .“ Irgendwann rief Natalie die Polizei, die das Hilfesystem in Gang setzte: Die Kinder kamen in die Obhut der Kinder- und Jugendhilfe. „Ich war so unglücklich und wusste lange keinen Ausweg – im Heim konnte ich mich dann endlich nur um mich kümmern“, sagt die heute 19-Jährige, die gerade in eine betreute Wohngemeinschaft gezogen ist. Verdeckt mit Kapuze, Schirmmütze und Sonnenbrille sitzt sie auf dem Podium der Jahrestagung der Bundesdrogenbeauftragten zum Thema „Kinder aus suchtbelasteten Familien“ Mitte Juni in Berlin – und berührt die Anwesenden mit ihrer Geschichte.*
Dysfunktionale Familien
„Nur ein Drittel der Kinder aus Familien mit suchtkranken Eltern kommen – wie Natalie – mit heiler Haut und Psyche davon“, betont die Drogenbeauftragte Marlene Mortler (CSU). Zu den Risikofaktoren, selbst zu erkranken, zählen unter anderem die Parentifizierung der Kinder, Konflikte, Aggressivität und Gewalt in der Familie, Vernachlässigung, instabiles Erziehungsverhalten und wenig Verlässlichkeit der Eltern, unsichere Bindung und soziale Ausgrenzung. „Der Suchtmittelkonsum ist nur vordergründig das Problem – es ist eher die Dysfunktionalität der Familie, die dauerhaft als Stress auf alle Mitglieder einwirkt“, erklärt Prof. Dr. phil. Michael Klein, Klinische Psychologie und Suchtforschung, Katholische Fachhochschule Köln. Sucht trete in mehr als 50 Prozent der Fälle komorbid mit Depressionen auf – mit den entsprechenden Auswirkungen auf die Familie. Klein übt Kritik am Versorgungssystem: „Sucht ist eine Familienerkrankung, aber versorgungspolitisch lassen wir die Kinder im Regen stehen, denn das Gesundheitssystem berücksichtigt nur Individuen, keine Systeme.“ Anders ausgedrückt: Die suchtkranken Eltern erhalten die Hilfe, die sie brauchen – die Kinder müssen erst erkranken, um therapeutische Hilfe zu bekommen. Ideal wären nach Ansicht des Wissenschaftlers, neben einer möglichst frühen Behandlung des suchtkranken Elternteils, selektive Präventionsmaßnahmen für die Kinder sowie koordinierte Eltern-Kind-Therapien.
Bleiben die Kinder unbemerkt und unberücksichtigt, begleiten sie die Folgen des Suchtmittelkonsums der Eltern meist ein Leben lang, wie Prof. Dr. med. Rainer Thomasius, Deutsches Zentrum für Suchtfragen des Kinder- und Jugendalters am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, erklärt: Angsterkrankungen, Bindungsstörungen, Depressivität, Hyperaktivität, Posttraumatische Belastungsstörungen, Selbstverletzungen, somatische Störungen, Selbstwertstörungen und eigene Suchterkrankungen. Auch Thomasius hält Maßnahmen, die die ganze Familie einschließen, für notwendig. Er sieht auch die Ärzte, die die Eltern behandeln, in der Verantwortung: „Jeder Arzt, der weiß, dass ein hochrisikokonsumierender Patient Kinder zu Hause hat, muss sich kümmern.“ Das gilt auch bei psychisch kranken Eltern. Ein aktueller Beschluss des diesjährigen Deutschen Ärztetags in Freiburg fordert jetzt: „Ärzte, insbesondere Hausärzte, Psychiater und Psychotherapeuten, die psychisch erkrankte Eltern behandeln, sollten auch an deren Kinder denken, diese in ihr Behandlungskonzept miteinbeziehen oder sie gegebenenfalls in entsprechende Hilfesysteme weiterleiten.“
„Wir wollen so viele Kinder wie möglich aus dem Schatten holen“, ist das Anliegen der Drogenbeauftragten Mortler. „Viele betroffene Kinder fallen auch durch die Maschen unseres Hilfesystems“, kritisierte sie. Die Suchthilfe sorge sich in erster Linie um die erkrankten Eltern: Nur fünf Prozent aller Suchtberatungsstellen kümmerten sich auch um die Kinder ihrer Klientel. Die oftmals überlasteten Jugendämter würden häufig erst bei massiver Kindeswohlgefährdung aktiv.
„Der Suchtkranke ist durch die Sozialgesetzbücher gut abgesichert – ihre Kinder aber nicht“, kritisierte auch Henning Mielke, von der Interessenvertretung NACOA (National Association for Children of Alcoholics) e.V. Zwar gebe es bundesweit rund 200 000 Angebote für betroffene Kinder, doch es fehle eine Übersicht. Viele betroffene Kinder würden von langfristigen Gruppenangeboten profitieren, wie beispielsweise von dem evaluierten Präventionsprogramm „Trampolin“ (www.projekt-trampolin.de), das zudem auch von den Krankenkassen übernommen wird.
Karen Zimmer von der Cornelius-Stiftung in Köln, die sich für Kinder aus suchtbelasteten Familien einsetzt, stellte ein weiteres herausragendes Angebot vor: das Projekt kidkit, ein Internetportal, das für Kinder ab zehn Jahren Informationen und Beratung bei „Problemeltern“ anbietet, die suchtkrank, psychisch krank oder gewalttätig sind. Anonym können Betroffene in einem Online-Chat mit den Beratern in Kontakt treten oder sich auch telefonisch helfen lassen. Mithilfe von kidkit networks, eines bundesweiten Datenbankprojekts, das 2018 abgeschlossen sein soll, können betroffene Kinder und Jugendliche dort auch für sie geeignete Beratungsstellen suchen (www.kidkit.de).
„Wenn ein Kind erkennbar Hilfe braucht, müssen alle an einem Strang ziehen. Entscheidend ist, dass Jugendämter, Suchthilfe, öffentlicher Gesundheitsdienst vor Ort miteinander und nicht nebeneinander arbeiten“, mahnt die Drogenbeauftragte weiter. Zudem müssten die Kommunen klare Ansprechpartner in den Jugendämtern benennen, an die sich Ärzte, Psychotherapeuten, Erzieher oder Lehrer bei Bedarf wenden könnten, wenn sie einen Verdacht haben. Dass ein kontinuierlicher Ansprechpartner aus der Jugendhilfe immer noch fehlt, darauf wies auch Dr. med. Franziska Diel, Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), hin. Dabei gebe es durchaus vielversprechende Ansätze: „Es gibt gute Erfahrungen aus Qualitätszirkeln im Rahmen der vernetzten Versorgung psychisch kranker Kinder, die wir in der KBV-Vertragswerkstatt initiiert haben: Ein Arzt oder Psychotherapeut und ein Jugendamtsmitarbeiter bilden dabei jeweils ein Tandem.“
Doch leider sind solche Kooperationen noch viel zu selten. Oftmals scheitern Hilfen für Kinder suchtkranker und psychisch kranker Eltern auch an unterschiedlichen Zuständigkeiten und Kostenträgern beziehungsweise der Koordination derselben. So können in einer betroffenen Familie bis zu sechs Sozialgesetzbücher (SGB II, III, V, VI, IX und XII) zuständig sein. Ein Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis90/Die Grünen, der am 20. Juni vom Bundestag angenommen wurde, fordert deshalb den Einsatz einer interdisziplinären Arbeitsgruppe, die die Probleme der Schnittstellen beleuchtet und Vorschläge zur Verbesserung der Situation von Kindern von suchtkranken und psychisch kranken Eltern macht (Drucksache 18/12780). Notwendig ist schließlich eine multiprofessionelle Versorgung betroffener Familien aus einer Hand.
Petra Bühring
*Natalies Geschichte wurde verfilmt: „Glück ist eine Illusion“, heißt der Spielfilm, der auch an Schulen gezeigt werden kann (www.schizoproductions.de).
Geschätzte betroffene Kinder
Die Bundesregierung geht davon aus, dass bei rund 3,8 Millionen Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren im Laufe eines Jahres ein Elternteil psychisch krank ist. Bei 2,65 Millionen Kindern davon haben die Eltern die Diagnose Alkoholmissbrauch oder -abhängigkeit. Schätzungsweise 6,6 Millionen Kinder leben bei einem Elternteil mit riskantem Alkoholkonsum.
Rund 60 000 Kinder haben nach Schätzungen einen opiatabhängigen Elternteil und leben teilweise mit diesem zusammen. Das Dunkelfeld wird als sehr hoch angesehen.
Etwa 37 500 bis 150 000 Kinder haben pathologisch glücksspielsüchtige Eltern, wobei in den meisten Fällen der Vater betroffen ist. Zahlen über Kinder von Eltern, die unter anderen Verhaltenssüchten wie Kaufsucht oder Onlinesucht leiden, liegen nicht vor. Ebenso wenig gibt es in Deutschland Zahlen über Kinder aus Familien, in denen Cannabis, Kokain, Methamphetamin, Neue Psychoaktive Substanzen oder Medikamente konsumiert werden.
„Es ist kritisch zu bewerten, dass die bisherigen Statistiken zu Kindern aus suchtbelasteten Familien häufig auf Schätzungen oder Hochrechnungen beruhen, sofern Information vorhanden sind“, heißt es in der Broschüre „Kinder aus suchtbelasteten Familien“, die die Drogenbeauftragte eigens zu ihrer Jahrestagung herausgegeben hat. Die 70-seitige Broschüre gibt nach ihren Angaben erstmalig einen komprimierten Überblick der Studienlage zu dem Thema. Anzufordern über: publikationen@bundesregierung.de