THEMEN DER ZEIT
Irreversibler Hirnfunktionsausfall: Derzeit keine Novellierung der Richtlinie


Die erste Aktualitätsprüfung der vor zwei Jahren umfassend novellierten Richtlinie zur Feststellung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls ergab momentan keinen Überarbeitungsbedarf.
Die Publikation der Richtlinie zur Feststellung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls vor exakt zwei Jahren stellte einen Meilenstein dar: Nach fast 20 Jahren war im Juli 2015 eine (die vierte) Fortschreibung der Richtlinie gemäß § 16 Abs. 1 Transplantationsgesetz (TPG) für „die Regeln zur Feststellung des Todes und die Verfahrensregeln zur Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms“ vorgelegt worden (http://daebl.de/WC16). Erstellt hatte sie der Arbeitskreis „Fortschreibung der Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes“ des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer (BÄK) unter dem Vorsitz von Prof. Dr. med. Jörg-Christian Tonn, Direktor der Neurochirurgischen Klinik am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Keine neuen Erkenntnisse
Jetzt, nach zwei Jahren zeigt sich: Die Richtlinie ist aktuell und bedarf momentan keiner Überarbeitung. Diese Entscheidung hat sich die Redaktionsgruppe des Wissenschaftlichen Beirats der BÄK alles andere als leicht gemacht. „Die erste turnusgemäße Aktualitätsprüfung war allen Beteiligten besonders wichtig, um eventuelle Anwendungsprobleme frühzeitig erkennen und die Richtlinie auf der Basis des Standes der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft im Sinne eines lernenden Systems weiterentwickeln zu können“, erläutert Tonn dem Deutschen Ärzteblatt. Deshalb habe die Gruppe über das übliche Verfahren hinaus Betroffene einbezogen. „Die Rückmeldungen im Rahmen unserer dreimonatigen schriftlichen Anhörung hat die vom Vorstand der Bundesärztekammer eingesetzte Redaktionsgruppe zunächst systematisch fachlich bewertet“, berichtet er. Die Vorschläge und inhaltlichen Prüfaufträge seien dann im Umlaufverfahren mit dem Arbeitskreis „Fortschreibung der Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes“ abgestimmt worden. „Auf dieser Basis erfolgte in einer zweiten Sitzung der Redaktionsgruppe die abschließende fachliche Bewertung“, so Tonn weiter.
Besonderes Augenmerk legte die Redaktionsgruppe auf die Kriterien für die Diagnostik des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls mittels Computertomographie-Angiographie (CTA). Fachkreise hatten angeregt, diese weniger restriktiv zu gestalten. „Nach Auswertung der aktuellen wissenschaftlichen Daten bestätigte sich, dass mit der CTA jetzt ein zusätzliches und zuverlässiges Verfahren zu Verfügung steht, mit dem ein zerebraler Zirkulationsstillstand festgestellt werden kann“, konstatiert Tonn. Geändert würden die Kriterien momentan allerdings nicht, da die CTA erst vor zwei Jahren neben dem in der klinischen Praxis ebenfalls neu etablierten Verfahren der Duplexsonographie als neue apparative Methode für den Nachweis des zerebralen Zirkulationsstillstandes Eingang in die Richtlinie gefunden hätte und zunächst vollständig bundesweit implementiert und evaluiert werden solle. „Auch die Altersgrenze von 18 Jahren für die Anwendung der CTA entspricht unverändert dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft“, ergänzt Tonn.
Rückmeldungen von den Fach- und Verkehrskreisen erhielt die Redaktionsgruppe aber nicht nur bezüglich der CTA. Auffällig sei vielmehr gewesen, dass ein beträchtlicher Teil der Anmerkungen keine inhaltlichen Prüfpunkte, sondern Verständnisfragen darstellte, berichtet Prof. Dr. med. Stephan A. Brandt, stellvertretender Direktor der Klinik für Neurologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin, dem Deutschen Ärzteblatt. Um diesen Verständnisfragen zu begegnen, habe die Redaktionsgruppe insgesamt zehn redaktionelle Anpassungen vorgeschlagen. So könnte beispielsweise durch die Ergänzung „je Untersuchungsgang“ in Kapitel 3.1. der Richtlinie verdeutlicht werden, dass die Irreversibilität des Hirnfunktionsausfalls, und damit der Tod, erst dann nachgewiesen ist, wenn die klinischen Ausfallsymptome nach den vorgesehenen Wartezeiten erneut übereinstimmend von mindestens zwei qualifizierten Ärzten je Untersuchungsgang nachgewiesen worden sind.
Anpassungen erfolgen später
Wie die anderen Anpassungen auch sei diese redaktionelle Änderung aber nicht dringlich, betonte Brandt. Denn die Vorgabe, dass die einzelnen Untersuchungsgänge „von (mindestens) zwei dafür qualifizierten Ärzten unabhängig voneinander und übereinstimmend“ durchzuführen sind, sei nicht nur bereits bei den Verfahrensregeln zur Feststellung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls dargestellt, sondern entspreche auch der gesetzlichen Regelung gemäß § 5 Abs. 1 TPG. Weitere – ebenfalls für einen späteren Zeitpunkt vorgesehene – Anpassungen betreffen beispielsweise die Protokollbögen, die künftig unter anderem für die Doppler-/Duplexuntersuchung schon optisch abbilden sollen, dass zwei Untersuchungen im Abstand von mindestens 30 Minuten durchzuführen sind.
„Es gibt ein breites Angebot von Fortbildungen der Ärztekammern und Fachgesellschaften, das die prozedurale Anwendung der Diagnostik und Dokumentation in diesem Sinne gemäß der Richtlinie bekannt macht und erläutert“, betont Brandt. Generell gelte aber: „Die Richtlinie kann nicht punktuell gelesen werden. Das Gesamtkonzept erschließt sich erst bei vollständiger Lektüre des Richtlinientextes samt des ausführlichen Begründungstextes. Es entspricht weiterhin dem aktuellen Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft“, stellt der Neurologe klar.
Für jede – auch noch so minimale – Änderung der Richtlinie muss komplett das gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 TPG im Statut des Wissenschaftlichen Beirats festgelegte Verfahren für die Erarbeitung und Überarbeitung von Richtlinien zwingend eingehalten werden, wie das zuständige Bundesgesundheitsministerium mitteilte. „Die Redaktionsgruppe hat sich daher dafür ausgesprochen, die als nicht dringlich bewerteten redaktionellen Änderungen zunächst vorzumerken“, erläutert Tonn.
Sofern sich zu einem späteren Zeitpunkt die Notwendigkeit für eine Fortschreibung der Richtlinie aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse ergebe, sollen auch die redaktionellen Änderungen umgesetzt werden. Nun gilt es, den in der vierten Fortschreibung der Richtlinie festgestellten Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft weiter vollständig bundesweit zu implementieren: „Die erste turnusgemäße Aktualitätsprüfung ist abgeschlossen und wir können sagen: Die Qualität der Richtlinie spricht für sich“, so Prof. Dr. med. Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer. Aus seiner Sicht muss es auch weiterhin das gemeinsame Anliegen aller Beteiligten sein, die Richtlinie im Interesse einer qualitativ hochwertigen, dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechenden Versorgung der Patientinnen und Patienten einerseits und der Handlungssicherheit für ihre behandelnden Ärztinnen und Ärzte andererseits konsequent anzuwenden. „Denn es liegt in unserer gemeinsamen Verantwortung, das Vertrauen in die richtlinienkonforme Feststellung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls weiter zu stärken,“ mahnt Montgomery.
Im Kern hatte sich die Richtlinie auch bei ihrer Fortschreibung vor zwei Jahren kaum geändert. „Die Grundlagen der Feststellung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls sind eigentlich immer die gleichen“, erläutert Tonn. Obligat sei weiterhin ein dreistufiges Vorgehen: Feststellung der Voraussetzungen, also des zweifelsfreien Nachweises einer akuten schweren primären oder sekundären Hirnschädigung sowie der Ausschluss reversibler Ursachen, in einem weiteren Schritt die Feststellung der Bewusstlosigkeit (Koma), der Hirnstamm-Areflexie und der Apnoe sowie abschließend der Nachweis der Irreversibilität durch klinische Verlaufsuntersuchungen nach den vorgeschriebenen Wartezeiten und/oder durch ergänzende Untersuchungen.
Präzisiert wurden vor zwei Jahren die formalen und praktischen Anforderungen an die Qualifikation der durchführenden Ärzte: Die den irreversiblen Hirnfunktionsausfall feststellenden und dokumentierenden Ärztinnen und Ärzte müssen über eine mehrjährige Erfahrung in der Intensivbehandlung von Patienten mit akuten schweren Hirnschädigungen und die Facharztanerkennung verfügen. Mindestens einer der Ärzte muss dabei Facharzt für Neurologie oder Neurochirurgie sein. Bei der Diagnostik bei Kindern bis zum vollendeten 14. Lebensjahr muss zudem mindestens ein Arzt oder eine Ärztin die Weiterbildung zum Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin abgeschlossen haben. Tonn: „Die Diagnostik des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls ist eine der sichersten Diagnosen in der Medizin, erfordert aber eine hohe medizinische Fachkompetenz der untersuchenden Ärzte.“
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann
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