ArchivDeutsches Ärzteblatt PP8/2017Literarische Orte: Männerfrei

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Literarische Orte: Männerfrei

Jachertz, Norbert

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Während die Männer im Ruhrgebiet malochen, überbrücken die Frauen von Eifelschmitt die Zeit auf ihre Weise. Clara Viebigs Skandalroman „Das Weiberdorf“.

Wie im Bilderbuch: Eisenschmitt im Tal der Salm bildet die Kulisse für Clara Viebigs „Das Weiberdorf“, eine Mischung aus Heimatroman und Sozialreportage. Foto: Gary Retterbush
Wie im Bilderbuch: Eisenschmitt im Tal der Salm bildet die Kulisse für Clara Viebigs „Das Weiberdorf“, eine Mischung aus Heimatroman und Sozialreportage. Foto: Gary Retterbush

Wie in einem Nest liegt Eisenschmitt im Tal der Salm. Auf den ersten Blick ein Dorf wie aus dem Bilderbuch, mit eilendem Bach, spitztürmiger Kirche und Wirtshaus. Doch es fehlen die Bauernhöfe, die Kirche ist viel zu groß für das kleine Dorf und das Wirtshaus gegenüber hat kürzlich dichtgemacht. Niemand ist unterwegs. Ein Springbrunnen auf dem Dorfplätzchen erzählt von der Dorfgeschichte: Die oberen Etagen handeln von Eisengewinnung und -verarbeitung, die unterste vom „Weiberdorf“ der Clara Viebig. Die Eisenschmitter haben mit der Viebig offenbar ihren Frieden gemacht.

Clara Viebig (1860–1952) war um 1900 eine Bestsellerautorin. Sie war in Trier als Tochter eines hohen preußischen Beamten geboren worden und bereits 37, als ihre schriftstellerische Karriere begann. Dann aber produzierte sie fast 40 Jahre lang. Ihr Erfolgsrezept war eine Mischung aus eingängig erzähltem Heimatroman – wobei „Heimat“ durchaus auch die Großstadt sein konnte – und sorgfältig recherchierter Sozialreportage. Die gesellschaftlichen Umbrüche, die Industrialisierung und „Gründerzeit“ nach dem Krieg von 1870/71 mit sich brachten, boten Viebig Stoff genug.

Die Eifeler waren empört

Beide Aspekte, Heimat wie Sozialreportage, finden sich bereits in ihrem „ersten historischen Roman“ (Viebig) „Das Weiberdorf“. Er spielt an einem realen Ort, dem Dorf Eisenschmitt in der Eifel. Hauptthema sind die durch Armut erzwungene Binnenwanderung und die damit verbundenen familiären Probleme. Diese beschreibt Viebig so drastisch, dass sich die Eifeler schmerzhaft getroffen fühlten. „Als ich wieder eine Reise in die Eifel machte,“ erinnert sich Clara Viebig Jahrzehnte später, „bedrohte man mich, lauerte mir auf. Frauen bewaffneten sich mit Stöcken, Hacken, Rechen, Mistgabeln und machten sich auf den Weg, sich meiner zu bemächtigen.“ Noch während das „Weiberdorf“ in Fortsetzungen in der Frankfurter Zeitung erschien, benannte sie Eisenschmitt in Eisendorf um, in der Buchauflage dann in Eifelschmitt. Verhüllend war das nicht. Weitere Konzessionen machte die Viebig nicht.

Die Story: Zweimal im Jahr kommen die Männer nach Hause, zu „Peter und Paul“ am 29. Juni und zu Weihnachten. Sie arbeiten an Rhein und Ruhr, wo die Eisenindustrie boomt. Mit Eisen kennen sie sich aus. In ihrem Dorf wurde 500 Jahre lang Eisen erzeugt und verarbeitet. Doch 1868 musste die letzte Hütte schließen. Sie konnte mit der Großindustrie nicht mehr mithalten. Die Eisenbahn, die die Preußen ab 1865 durch die Eifel legen, befördert zugleich auch die Binnenwanderung. Die Männer von Eisenschmitt gelangen nun schneller aus ihrer abgelegenen Heimat ins Rhein-Ruhr-Gebiet. Und zurück, für ein paar Tage Heimaturlaub.

Hier nun setzt Viebigs Roman ein. Um zu ihren Frauen nach Eifelschmitt zu gelangen, steigen die Männer im benachbarten Kylltal aus und hasten den Berg hoch. Der einsame Busch auf dem kahlen Scheitel zeigt die Heimat an, hier eröffnet sich der erste Blick in das vertraute Tal. Die klare Salm schlängelt sich als Silberband. Die Männer reißen die Hüte vom Kopf, schreien: „Hurrah! Helao! Derhäm!“ Die Ehemänner denken an ihre Frauen, die Ledigen an die Mädchen, die sie beim letzten Besuch am heißesten geküsst hatten. Und nun schießen sie wie Pfeile bergunter, eine plötzliche Ungeduld hat sie ergriffen, das Blut fließt nicht mehr träge in den Adern, es kreist unruhig und steigt ihnen zu Kopf (frei zitiert nach Viebig).

„Die Männer von Eifelschmitt hatten nie viel Zeit; rasch wurde geliebt, rasch wurde gefreit,“ vermerkt Viebig lakonisch im „Weiberdorf“. Und schon waren sie wieder fort. Die Frauen blieben zurück. Zurück blieb auch das Pittchen, ein liebenswürdiger Faulpelz, der den Frauen nie widerstehen konnte. Dann waren da noch der stramme preußische Gendarm und hin und wieder ein lüsterner Handlungsreisender. Sie alle nutzten die Gelegenheiten.

Viebig erweitert den Reigen um einen Kriminalfall. Das Pittchen nämlich versucht sich als Falschmünzer und hat zunächst Erfolg, sein plötzlicher Reichtum wird wenig hinterfragt, sondern genossen – von den Frauen wie den Zechkumpanen. Doch schließlich wird er geschnappt. Als Pittchen abgeführt wird, halten ihn die vielgeliebten Weiber zunächst fest, plötzlich aber lassen sie los: Vom Berg herab kommt nämlich jubelnd der Ruf ihrer Männer. Sie sind wieder mal zurück. Die Frauen antworten. „Wie aus einem Mund kamʼs, nur ein einziger Schrei. Das waren nicht der Weiber viele mehr, das war nur ein Weib noch – das Weib! Jählings wandte es sich, alles vergessend, und stürzte in rasendem Lauf dem Mann entgegen.

Bestsellerautorin: Clara Viebig war bereits 37, als ihre schriftstellerische Karriere begann. Foto: dpa
Bestsellerautorin: Clara Viebig war bereits 37, als ihre schriftstellerische Karriere begann. Foto: dpa

An soviel ungehemmter Leidenschaft störten sich nicht nur die Eifeler, sie fühlten sich verkannt, sondern vor allem die katholische Kirche. Deren Gegnerschaft soll derart ausgeprägt gewesen sein, dass das „Weiberdorf“ auf den Index der verbotenen Bücher kam. Das wird neuerdings allerdings bestritten. Hinzu kam, dass die protestantische Viebig den Pfarrer im „Weiberdorf“ als behäbigen Trottel beschreibt, von den Vorgängen im Dorf merkt er rein gar nichts.

Die Schrecknisse des Lebens

Die Story des „Weiberdorfes“ mag zugespitzt sein, doch die von Viebig beschriebenen Verhältnisse dürften der Realität entsprochen haben. Diese hatte sie als 16-Jährige auf Fahrten mit „Onkel Mathieu“, einem guten Freund der Familie, „zu den Schrecknissen des Lebens“ (Viebig, 1930) kennengelernt. Karl Mathieu amtierte beim Landgericht Trier als Untersuchungsrichter. Während er seinen Ermittlungen nachging, wartete die junge Clara in der Nachbarschaft und hörte sich Geschichten aus dem wahren Leben an.

Das „Weiberdorf“ erschien zunächst 1899 als Fortsetzungsroman, ein Jahr später als Buch bei F. Fontane & Co, vermittelt wahrscheinlich vom alten Theodor Fontane (1819–1898). Denn hinter dem „F“ verbirgt sich Friedrich, der jüngste Sohn des berühmten Vaters. Hinter dem „Co“ steckt Fritz Cohn (1864–1936), der später einen eigenen Verlag aufmachte, Clara Viebig heiratete (1895) und alsbald deren Bücher verlegte. Zu beider Nutzen.

Auf Max Liebermanns erstem Titelentwurf für „Das Weiberdorf“ rutschten der vorderen Eisenschmitterin noch die Brüste aus dem Mieder. Das war dem Verlag zu freizügig. Foto: Archiv Heimer
Auf Max Liebermanns erstem Titelentwurf für „Das Weiberdorf“ rutschten der vorderen Eisenschmitterin noch die Brüste aus dem Mieder. Das war dem Verlag zu freizügig. Foto: Archiv Heimer

In Berlin, wo Viebig ab 1883 wohnte, lernte sie das „Chaos von Menschen und Schicksalen“ (Viebig, 1930) selbst kennen. Die Cohns unterhielten in der Königstraße 3 in Berlin-Zehlendorf ein offenes Haus. Clara lernte Käthe Kollwitz kennen, die mit ihr das Mitleid mit den Zukurzgekommenen teilte, Heinrich Zille, der Viebig-Bücher illustrierte, oder Max Liebermann, der ein Titelbild zum „Weiberdorf“ beisteuerte. Dieses entspricht so gar nicht dem üblichen Liebermann. Zu sehen ist eine Illustration, auf der die Weiber das Pittchen umgarnen und dabei mit ihren Reizen nicht geizen.

Heute würde sich niemand über die freizügige Titelei aufregen, genauso wenig wie über den Inhalt des „Weiberdorfes“. Und Eifelschmitt hat Clara Viebig, die man einst mit Mistgabeln vertreiben wollte, quasi eingemeindet. Im Clara-Viebig-Zentrum sitzt bei unserem Besuch ein freundlicher Mann, der bei einer Tasse Kaffee gern über das Dorf informiert. Zum Beispiel, dass Eisenschmitt nie ein Bauerndorf sondern nimmer eine Arbeitersiedlung war. Dass im Dorf mal über Tausend Einwohner lebten. Dass Eisenschmitter heute täglich bis nach Trier und Luxemburg pendeln. Und dass einer der größten Auftraggeber des lokalen Handwerks die US-Basis in Spangdahlem ist. Sie sei fast so groß wie die Kreisstadt Wittlich.

Der Gesprächspartner entpuppt sich als der Ortsbürgermeister des 331-Einwohner-Dorfes. Er betreibt in Eisenschmitt eine mechanische Kokosweberei auf museumswürdigen Maschinen, gleichwohl weltbekannt. Die roten Kokosteppiche nämlich, auf denen Angela Merkel mit Staatsbesuchern über die Rollbahnen schreitet, kommen aus Eisenschmitt.

Norbert Jachertz

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Clara Viebig: Das Weiberdorf. Roman aus der Eifel. Berlin 1900, als Taschenbuch bei Rhein-Mosel-Verlag, neu aufgelegt 2016, 176 Seiten, 10,90 Euro
1.Clara Viebig: Das Weiberdorf. Roman aus der Eifel. Berlin 1900, als Taschenbuch bei Rhein-Mosel-Verlag, neu aufgelegt 2016, 176 Seiten, 10,90 Euro

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