THEMEN DER ZEIT
Psychoanalyse und Gestalttherapie: Die Öffnung zum „leeren Stuhl“


Die Gestalttherapie kann für einen klassischen Psychoanalytiker eine wichtige Erweiterung seiner Arbeit werden. Er muss vom Übertragungsobjekt in die Rolle des Regisseurs hinüberwechseln.
Seit über zwei Jahrzehnten arbeite ich nur mehr zur Hälfte als klassischer Psychoanalytiker, zur anderen Hälfte als Gestalt- und Körperpsychotherapeut. Hinsichtlich der Erweiterung meiner Praxis verdanke ich beiden sehr viel, auch den Patienten, die zum Teil mitten im Verlauf einer Analyse die Erweiterung zunächst skeptisch, dann aber dankbar mitgemacht haben.
Nach meiner Grundausbildung in Frankfurt war ich ein eingeschworener, orthodoxer Analytiker. Ich war ungeheuer stolz, weil ich jetzt weltweit einem Orden angehörte und verstand dies als Erwählung. Auch Fritz Perls, der Gründer der „Gestalt“, war früher ihr Anhänger und sogar Lehranalytiker, später hat er sich dann verächtlich vom „Mind fucking“ abgewandt und wurde selbst orthodox im neuen Fach. Heute versuche ich den Analytikern zu raten: „Macht doch einmal eine kleine Selbsterfahrung in Gestalt, dann versteht ihr, was sie überhaupt ist und euch bringen könnte.“ Meine Grundidentität ist ganz klar die Psychoanalyse, auf die ich einst sogar meinen religiösen Hintergrund übertragen hatte. Für mich war die menschliche, die wirkliche Erleuchtung die Psychoanalyse, während ich sehr lange brauchte, um mich vom realen religiösen Hintergrund und meinem Glauben zu lösen. Erst mit 40 Jahren kam dann die Wutexplosion mit der Anklageschrift „Gottesvergiftung“ (Moser, 1996). Wenige Jahre später trat ich aus der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung aus, als der Hüterin der Orthodoxie, die meine Bücher mit dem unausgesprochenen, fast kirchenähnlichen Tabu belegte: „Moser liest und zitiert man nicht“. So verlor ich den Kontakt zu den Kollegen.
Die Öffnung zum „leeren Stuhl“ der Gestalttherapie hin war für mich wirklich ein Abenteuer, da wir in der Psychoanalyse fast ausschließlich verbal mit Übertragung und Gegenübertragung arbeiten. Die Prozesse sind oft extrem zäh, vor allem bei frühen Störungen, da sich die archaischen, körperlich gespeicherten Gefühle überhaupt sehr schwer in der Übertragung abzeichnen außer durch Chaos und Stillstand. Es ist schwer, das Ausmaß einer bedrohlichen negativen Übertragung in die Beziehung einzubringen, weil Patienten enorme Angst haben, dass das schützende Bündnis in große Gefahr gerät. Insofern herrscht ein latentes Angstklima. Die Dauer mancher Analysen hängt auch damit zusammen, dass die Analytiker selbst sich schwer auf Gestaltarbeit einlassen können, bei der sie vom Übertragungsobjekt in die Rolle des Regisseurs hinüber wechseln können.
Berührungsscheue Mutter, unzugänglicher Vater
Meine berührungsscheue Mutter war gelernte Säuglingspflegerin. Sie konnte mit Säuglingen wunderbar umgehen, aber nicht mit unruhigen Söhnen. Der Vater war körperlich schwer behindert und damit ein leiblich kaum zugänglicher Mann. Diese Entbehrungen habe ich auf den sechs Jahren „auf der Couch“ der Lehranalyse natürlich nacherlebt, bis zur körperlichen Unbeweglichkeit und einem Gefühl des Verhungerns auf der Couch. Mein Lehr-Analytiker hat einmal ironisch gemeint: „Ah, da liegt er wieder, mein kleiner Zinnsoldat.“ Der Vater und die Mutter waren ein enormer Anreiz zu experimentieren, auch gegen die weitgehende Sprachlosigkeit und die Konfliktscheue in der Familie.
Von der Genauigkeit des Hinschauens
Nie konnte ich auf meinen Vater zurennen, nie konnte ich ihn kräftig umarmen – er war nie ein Baum, an dem ich hochklettern konnte, ebenso wenig ein Halt, der meine stürmischen Kräfte eingrenzen konnte. „Limitieren“ ist ein wichtiger Ausdruck von Albert Pesso (1929–2016), dem ich in der sechsjährigen Ausbildung am meisten verdanke, vor allem die Genauigkeit des Hinschauens auf die feinen und groben körperlichen Zeichen und Bewegungsimpulse. Viele Patienten klagen in der Therapie über grobe, verständnislose, abwesende, abweisende, unzuverlässige Eltern. Schon hier kann der Wechsel in eine neue Therapieform von der Couch eingeleitet werden: „Wollen Sie die oft wiederholten Klagen und Anklagen nicht einmal Vater oder Mutter, Großeltern oder enttäuschenden Lehrern direkt vorwerfen?“ An der Hemmung, in eine solche Begegnung hineinzugehen, lässt sich oft ablesen, wie viel Scheu und fehlendes kritische Gespräch die häusliche Beziehung bestimmt haben. Der Gestalttherapie verdanke ich auch das Ermutigen, nicht das Drängen, das wie eine Manipulation wirken kann. Oft herrschen magische Ängste vor zu viel Offenheit oder die Angst, eine wichtige Beziehung zu verlieren, so als könne der abwesende Beziehungspartner die konfrontativen Worte hören, sich innerlich zurückziehen, zu Strafen oder zu langen Rechtfertigungen greifen. Manche Patienten sind so aggressionsscheu, vor allem, wenn aufgestaute Wut sich zeigen will, dass es gut sein kann, eine symbolische Schutzbarriere vor den „Gegnern“ zu errichten, damit sie sicher sind, dass sie nicht direkt angegriffen werden. Man muss sie aber auch warnen vor der „Rache der Introjekte“, also der verinnerlichten bedrohlichen Bilder.
Mit 60 Jahren habe ich gemerkt, irgendwas stimmt noch nicht an meinem Umgang mit der Religion, trotz meines Buches „Gottesvergiftung“. Ich hatte ja im Freiburger Raum sehr viele Patienten mit bedrückender religiöser Erfahrung, und natürlich habe ich die Gestalttherapie auch angewandt auf die Beziehung zu Gott, Christus oder Maria. Ich ging selbst für eineinhalb Jahre noch einmal zu einem Gestalttherapeuten. Er war evangelischer Pfarrer gewesen und hatte eine gründliche Ausbildung bei Hilarion Petzold erhalten. Er erlaubte mir, auf dem leeren Stuhl oder auf dem leeren Thron die frommen Gottesbindungen zu inszenieren. Er hatte einen wunderbaren Meditationsteppich an der Wand, zu dem ich sprechen konnte als Gott und Christus. Also konnte ich alle meine Kümmernisse und Enttäuschungen, auch meine frühe Dankbarkeit Gott und Jesus gegenüber ausdrücken und dann durfte ich in den Rollenwechsel gehen. Also habe ich selbst Gottes Thron, erhöht auf einem Tisch, bestiegen, um seine Haltung zu mir zu erkunden und zu formulieren. Das war ein sehr merkwürdiges Erlebnis und aus der erhöhten Position in der Rolle des Gottes habe ich zu dieser Kreatur – zu mir selbst – da unten gesprochen. Dabei hat sich Folgendes ergeben: Mich, als Gott, hat diese Kreatur „gedauert“. Ich habe dann sagen können: „Es tut mir leid, wenn ich dich als schuldgeplagten, angstvollen Erdenwurm ansehe, entschuldige ich mich für die Schuld- und Sündengefühle – so war alles nicht gemeint von mir. Ich entschuldige mich für meine Diener, die dir das beigebracht oder angetan haben; auch deine Eltern haben eine gewisse Schuld“. Dieses Experiment war sehr hilfreich und hat mir sehr geholfen: Mich in der Rolle und aus der Sicht Gottes erlebt zu haben, einem Gott, der sich sogar entschuldigte. Das konnte ich vielen Patienten weiterschenken.
Man sieht nicht viel von den kleinen Körperregungen der Patienten aus der Perspektive hinter der Couch. Ich prägte deshalb einst den Ausdruck „Hintercouchler“. Darin schwingt eine gewisse Geringschätzung mit, weil sie das offene Hinsehen gar nicht gelernt haben. Man kann aber als klassischer Psychoanalytiker mit der Couch schon kleine Varianten anwenden, etwa das Sitzen neben der Couch, mit Augenkontakt und einer ganz anderen Form der direkten Interaktion, neben dem direkten Ansprechen der Personen oder Introjekte, von denen in der Übertragung gerade die Rede war. Und dann beginnt man zu zweifeln und ist erstaunt, dass die Affekte wirklich nur in der Übertragung durchzuarbeiten sein sollen, statt in der direkten Konfrontation mit den vorgestellten Eltern oder Introjekten.
Auch weiterhin starke Übertragungen
Die Gegner oder die Zweifler sagen: „Wie kannst du denn denken, dass sich Übertragungen plötzlich nach außen setzen lassen? Das hat nicht den gleichen Substanz- und Wirklichkeitswert wie eine massive negative Übertragung, die Wucht ist nicht die gleiche wie die gegenüber einer inszenierend auf einen Stuhl gesetzten realen Person oder einem konfrontierten Introjekt.“ Wenn ich einem Patienten den Vorschlag mache, seinem jähzornigen Trunkenbold von Vater tüchtig Bescheid zu geben, was er gefühlt hat in seiner Angst vor Geschrei und Prügeln, dann zeigt sich immer die Furcht, dass der Angegriffene zurückschlägt. Also braucht er emotionalen Schutz und die wiederholte „Deklaration“ (Fürstenau), jetzt in einer sicheren Umgebung und Atmosphäre zu sein. Dem Patienten muss bewusst werden, dass der Angriff nur hier stattfindet und der Stärkung und Entlastung eines überforderten angstvollen Ichs dient. Der Wechsel in die Rolle des Regisseurs verhindert aber nicht, dass den Psychotherapeuten weiterhin starke Übertragungen treffen können, mit denen er arbeiten muss, zum Teil auch wieder mit einer erklärenden Inszenierung, durchaus pendelnd zwischen den beiden Formen des Settings.
- Zitierweise dieses Beitrags:
PP 2017; 15 (10): 489–90
Anschrift des Verfassers:
Dr. phil. Tilmann Moser, Aumattenweg 3,
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