MEDIZINREPORT
Psychopharmaka: Unerwartete Nebenwirkungen
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Ergebnisse einer explorativen Querschnittbefragung von Zahnärzten und Nervenärzten zur Bewertung von zahnmedizinisch relevanten Nebenwirkungen unter Psychopharmakotherapie.
Psychopharmaka nehmen bei der Behandlung zahlreicher psychischer Störungen eine zentrale Stellung ein (1) und gehören zu den international häufig eingesetzten Medikamenten. Ihre Verordnungszahlen sind in den westlichen Industrienationen in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegen (2–8). Im Rahmen einer Psychopharmakotherapie können Nebenwirkungen mit erheblicher klinischer Relevanz auftreten.
Zu diesen zählen Beeinträchtigungen der kognitiven Funktion (9), extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen (10), sexuelle Dysfunktionen (11), ungünstige Effekte auf die kardiale Reizleitung (12) und metabolische Veränderungen bis hin zum metabolischen Syndrom (13).
Häufig wird nicht ausreichend berücksichtigt, dass Psychopharmaka auch zahnmedizinisch relevante Nebenwirkungen verursachen können. Hierzu gehören insbesondere:
- Xerostomie/Hyposalivation mit erhöhtem Risiko für Karies,
- Gingivitis, Parodontitis und Stomatitis (14–17),
- Bruxismus (18),
- Gingivawucherungen (19),
- Geschmacksstörungen (20),
- Schleimhautveränderungen (21).
Ungünstige Effekte der Psychopharmakotherapie auf zahnmedizinische Gesundheitsaspekte verdienen besondere Beachtung, da Erkrankungen wie Schizophrenien oder depressive Störungen mit einer eingeschränkten Mundhygiene und einem erhöhtem Risiko für Zahn-, Mund- und Kiefererkrankungen assoziiert sind (16, 22, 23).
Der Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich steht nicht im Fokus einer nervenärztlichen/psychiatrischen Behandlung; im Rahmen einer zahnmedizinischen Behandlung mag die Bewertung eines möglichen Zusammenhangs zwischen einer zahnmedizinischen Pathologie und einer Psychopharmakotherapie erschwert sein. Daher ist es möglich, dass zahnmedizinisch relevante Nebenwirkungen einer Psychopharmakotherapie nicht erkannt werden und eine adäquate Therapie ausbleibt – insbesondere wenn Patienten diese nicht selbst bemerken oder nicht berichten.
Pharmakoepidemiologische Studien zu Prävalenz und Inzidenz von zahnmedizinisch relevanten Nebenwirkungen von Psychopharmaka fehlen. Es existieren lediglich publizierte Fallberichte über Verdachtsfälle sowie wenige klinische Studien im Zusammenhang dieser Nebenwirkungen.
Querschnittbefragung
Das eingeschränkte Wissen über zahnmedizinisch relevante Nebenwirkungen von Psychopharmaka (21) kann auch Folge einer eingeschränkten Bereitschaft von Ärzten sein, Verdachtsfälle von derartigen Nebenwirkungen an regulative Behörden (wie das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) zu melden. Unklar ist gegenwärtig auch, ob es in der Bewertung der Relevanz von und im Umgang mit zahnmedizinisch relevanten Nebenwirkungen von Psychopharmaka Unterschiede zwischen den involvierten Berufsgruppen gibt.
Vor diesem Hintergrund wurde eine explorative Querschnittbefragung von Zahnärzten und Nervenärzten durchgeführt zu:
- Sensibilität gegenüber zahnmedizinisch relevanten Nebenwirkungen sowie
- Bewertung der Relevanz und Häufigkeit von zahnmedizinisch relevanten Nebenwirkungen von Psychopharmaka.
Die semistrukturierten Interviews erfolgten telefonisch und fragebogengestützt im Zeitraum Juni bis August 2016 (Zahnärzte) beziehungsweise Oktober bis Dezember 2016 (Nervenärzte) bei Nerven- und Zahnärzten, die in Baden-Württemberg an der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen.
Die Stichprobe der Nervenärzte umfasste n = 134 (Teilnahmequote 25,9 %) und die Stichprobe der Zahnärzte n = 236 (Teilnahmequote 35,5 %) Teilnehmer. Die Tabelle zeigt die Merkmale der beiden Stichproben.
In beiden Gruppen gab die Mehrheit der Teilnehmer an, zu glauben, dass manche Psychopharmaka zahnmedizinisch relevante Nebenwirkungen verursachen können (79,7 % Nervenärzte, 76,5 % Zahnärzte); verneint wurde dies von 20,3 % der Nervenärzte und 23,5 % der Zahnärzte. Als ein ernst zu nehmendes Gesundheitsproblem wurde dies von 35,9 % der Nervenärzte und 35,9 % der Zahnärzte eingeschätzt. Die Mehrheit beider Gruppen (56,8 % der Nervenärzte, 48,7 % der Zahnärzte) gab an, Patienten zu kennen, die über zahnmedizinische Auffälligkeiten im Zusammenhang mit Psychopharmaka berichtet hatten.
Ebenfalls eine Mehrheit in beiden Gruppen (55,6 % der Nervenärzte, 63,1 % der Zahnärzte) führte an, schon einmal zahnmedizinische Auffälligkeiten beobachtet zu haben, bei denen sie einen Zusammenhang mit Psychopharmaka vermutet hatte.
Auf die Frage, wie häufig die Ärzte zahnmedizinische Auffälligkeiten mit einem vermuteten Zusammenhang mit Psychopharmaka beobachten, gab die Mehrheit in beiden Gruppen (87,3 % Nervenärzte, 71,6 % Zahnärzte) selten, sehr selten oder nie an. Fast niemand hatte einen Verdachtsfall jemals gemeldet (97,8 % Nervenärzte, 97,5 % der Zahnärzte).
Insgesamt ergaben sich in der Häufigkeitsverteilung der Antworten keine wesentlichen Unterschiede zwischen beiden Gruppen, was für eine bei Nerven- und Zahnärzten vergleichbare Sensibilität gegenüber und subjektive Bewertung der Relevanz und Häufigkeit zahnmedizinischer Auffälligkeiten von Psychopharmaka spricht. Allerdings fand sich in beiden Gruppen ein nicht unerheblicher Anteil von Ärzten (20,3 % der Nervenärzte und 23,5 % der Zahnärzte), der nicht an zahnmedizinisch relevante Nebenwirkungen durch Psychopharmaka glaubte.
Dieses Ergebnis legt nahe, dass für eine Optimierung der Psychopharmakotherapie sowie für eine optimale Differenzialdiagnostik von Erkrankungen des Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereichs bei einigen Ärzten Informations- und Fortbildungsbedarf zum Nebenwirkungsprofil von Psychopharmaka besteht.
Es kann spekuliert werden, dass die geringe Beachtung respektive Auffälligkeit dieser Nebenwirkung Ausdruck einer tatsächlich geringen Prävalenz und Inzidenz ist und/oder meist nur zu einer geringen (Funktions-)Beeinträchtigung der Betroffenen führt. Infolge der erschwerten Erkennung zahnmedizinischer Nebenwirkungen von Psychopharmaka sowie der meist multifaktoriellen Ätiopathogenese wird bei Erkrankungen des Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereichs jedoch möglicherweise sehr häufig ein Zusammenhang mit Psychopharmaka nicht ausreichend berücksichtigt. Insofern könnten zahnmedizinische Nebenwirkungen von Psychopharmaka eine größere Relevanz haben, als in beiden Stichproben eingeschätzt wurde beziehungsweise es die fehlende Beachtung im medizinischen Kontext suggeriert.
Grenzen durch Underreporting
Falsch-zu-niedrige Meldequoten von Nebenwirkungen beziehungsweise das Ausbleiben von Meldungen bei Auftreten einer Nebenwirkung werden mit dem Begriff Underreporting (24) bezeichnet. Underreporting beeinträchtigt die Funktion von Spontanmeldesystemen, die ein wichtiges Instrument für eine kontinuierliche Bewertung von arzneimittelassoziierten Risiken sind, erheblich (25, 26). In beiden Gruppen gab die Mehrheit an, noch nie eine zahnmedizinisch relevante Nebenwirkung eines Psychopharmakons gemeldet zu haben.
Es kann dabei im Einzelfall nicht bewertet werden, ob dies eher Ausdruck einer tatsächlich so niedrigen Prävalenz oder von Underreporting ist. Unter Berücksichtigung zahlreicher Studien (27–29) muss jedoch in beiden Stichproben von Under-reporting ausgegangen werden. Dies kann einer der Gründe für die gegenwärtig sehr eingeschränkte pharmakoepidemiologische Datenlage zu zahnmedizinisch relevanten Nebenwirkungen von Psychopharmaka sein.
Fazit
- Eine größere Meldebereitschaft sowie höhere Sensitivität in Bezug auf zahnmedizinisch relevante Nebenwirkungen von Psychopharmaka können zu einer Verbesserung der aktuell insuffizienten epidemiologischen Datenlage bei dieser Nebenwirkung beitragen.
- Hierbei ist eine gezielte Informationsvermittlung nützlich.
- Zahnmedizinisch relevante Nebenwirkungen von Psychopharmaka stellen ein Problem dar, das einen interdisziplinären Lösungsansatz erfordert.
Priv.-Doz. Dr. med. Maximilian Gahr, MA,
Prof. Dr. med. Bernhard J. Connemann,
Prof. Dr. med. Carlos Schönfeldt-Lecuona,
Prof. Dr. med. Roland W. Freudenmann,
Prof. Dr. med. dent. Jamal M. Stein*,
Anna-Katharina Hawlik
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III, Universitätsklinikum Ulm;
*Klinik für Zahnerhaltung, Parodontologie und Präventive Zahnheilkunde, Universitätsklinikum der RWTH Aachen.
Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
Dieser Artikel unterliegt nicht dem Peer-Review-Verfahren.
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/5117
oder über QR-Code.
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