THEMEN DER ZEIT
Indien: Nur wenige können in Würde altern


120 Millionen Menschen auf dem Subkontinent sind älter als 60 Jahre. Dabei mangelt es an Altersheimen und Pflegediensten. Viele Alte leben im Elend.
Man findet sie in jeder dunklen Ecke in den Millionenmollochen Indiens. Sie kauern in jedem Winkel, auf jedem dreckigen Bordstein. Manchmal liegen sie sogar schmerzverkrümmt vor den Toiletten größerer Krankenhäuser. Eingehüllt in den Geruch von Kot und Urin. In einem Land wie Indien, sagt Father Thomas, sind sie unerwünscht, aussortiert. Die Rede ist von alten Menschen, die zum Teil krank und noch dazu bettelarm sind, Menschen ohne Rechte, ohne ein Dach über dem Kopf. Sie sind die Vergessenen.
Father Thomas ist einer der wenigen, die nicht vergessen möchten. Der Pfarrer ist Ende 60. Er hat überall auf der Welt gelebt und dort den Menschen gedient. Doch irgendwann, erzählt er, sei ihm klar geworden, dass er in seinem eigenen Land, seinem eigenen Staat, Tamil Nadu, helfen müsse. Fünf Hospize hat er mithilfe von Spendengeldern in den letzten Jahren aufgebaut. Sie sind Oasen der Ruhe für derzeit 750 mittellose, meist alte Menschen, um die sich die Regierung nicht kümmern will. An Orten wie dem in der Nähe von Chingleput, dem derzeit größten Hospiz, erhalten sie eine Liege, Essen, Medikamente.
Arbeiten bis ins hohe Alter
Alt werden in Indien hat wenig mit Würde zu tun. „Wer alt ist, sollte sterben“, lautet die gängige Denkweise. 120 Millionen Menschen sind derzeit in Indien älter als 60 Jahre. Bis 2050, konstatiert Prof. AB Dey vom All India Institute for Medical Sciences (AIIMS) in Delhi, werden es 320 Millionen sein. Die Mehrzahl dieser Menschen muss bis ins hohe Alter hinein körperlich arbeiten. Auf dem Land sind es 66 Prozent der Männer und beinahe 30 Prozent aller Frauen. Ob sie krank seien, spiele dabei keine Rolle, sagt Matthew Cherian, Geschäftsführer von Help-AgeIndia, der größten Nichtregierungsorganisation (NGO) Indiens, die sich für alte Menschen einsetzt. Nur 1,6 Prozent dieser älteren Menschen kommen Cherian zufolge in den Genuss der einzigen Form einer Altersrente, die es in Indien gibt, des „Indira Gandhi National Old Age Pension Scheme“. Sie erhalten rund fünf US-Dollar im Monat. Als besonders schlimm stellt sich nach Umfragen der NGO häufig die familiäre Situation alter Menschen dar: 50 Prozent werden missbraucht, sie werden geschlagen, beschimpft, mit Essensentzug bestraft. Depressionen sind daher keine Seltenheit. „Das hier ist kein Land für alte Menschen, es ist ein Land für die Jungen und Smarten“, sagt Cherian.
Um wenigstens einen Teil des Leids zu mildern, engagiert sich die NGO in allen indischen Bundesstaaten für das Wohl und die Rechte der Vergessenen. 142 mobile medizinische Einheiten sind im Einsatz. Seit der Gründung von HelpAgeIndia 1978 behandelten freiwillig für die NGO tätige Ärzte 23 Millionen Menschen. Die meisten von ihnen litten unter chronischen Erkrankungen. Darüber hinaus gibt die NGO Essen, Kleidung und Geld aus, veranstaltet Health Camps für alte Menschen und schickt Einsatzkräfte zur Hilfe aufs Land. Auf Drängen von HelpAgeIndia wurde auch der Umfang des Krankenversicherungsschutzes für Arme in Indien (Rashtriya Swasthya Bima Yojana, RSBY) 2016 speziell auf alte Menschen erweitert. „Wir möchten, dass sich endlich mehr ältere Menschen um die Versicherungskarte bewerben“, sagt Jain Nishant von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Delhi. Die GIZ hat RSBY gemeinsam mit der indischen Regierung vor rund zehn Jahren im Land eingeführt.
Großfamilien zerbrechen
Shri Shreenath Hegde wusste ähnlich wie Father Thomas, dass er etwas tun muss gegen das Leid der Alten. Auch deshalb, weil er einen Trend zu erkennen glaubte, der in westlichen Industrienationen schon lange zu beobachten war: das Auseinanderbrechen der erweiterten Großfamilie. 1982 eröffnete er ein Altenheim im Zentrum Mangalores. Über ganz Indien verteilt sind lediglich 214 000 Menschen in Heimen wie diesem untergebracht. Die Mehrzahl der insgesamt 50 Betten wird an Menschen vergeben, die nichts haben. Eine Handvoll Betten geht an Menschen, die selbst oder deren Familie für die Unterbringung zahlen können. Die meisten der Frauen, die hier anzutreffen sind, machen einen halbwegs zufriedenen Eindruck. Die Räume wirken sauber, viele der Betten stehen aber leer. Das Problem: Es gibt kaum Personal. „Keiner will die Arbeit hier machen“, sagt Hegde.
Dr. Mohanraj Raj hat dasselbe Problem. Raj betreibt einen ambulanten privaten Pflegedienst. Eine Neuheit in Indien. „Der Beruf des Pflegers ist nicht gut angesehen. Keiner will sich um ältere fremde Menschen kümmern“, berichtet Raj. Er muss bis an die Grenzen Karnatakas fahren, weit weg von Mangalore, um Personal zu finden. Hier ist die Arbeitslosigkeit besonders hoch. Daher seien vor allem die Frauen noch gewillt, sich um Alte zu kümmern. Raj zahlt seinen Pflegekräften 14 000 Rupees im Monat. Hinzu kommen verschiedene Versicherungen, die er für sie abschließt. Sie erhalten ein einwöchiges Training zur Einführung in die Altenpflege. Danach seien sie einsatzbereit. Sie müssten sieben Tage die Woche arbeiten. Einen Tag im Monat hätten sie frei. Das sei normal, sagt Raj.
Menschen zu finden, die gewillt und ausgebildet sind, um in der Altenpflege zu arbeiten, stellt eine der größten Herausforderungen für den Subkontinent dar. „Wir haben schlicht nicht genug Fachkräfte, um der wachsenden Zahl alter und kranker alter Menschen Herr zu werden“, sagt Prabha Adhikari, Professorin für Innere Medizin und Geriatrie am Yenepova Medical College Hospital in Mangalore. Pro Jahr werden nur acht Ärzte in ganz Indien zum Facharzt für Geriatrie weitergebildet. Das Fach wird nur an vier Universitäten gelehrt. Viele Ärzte wollen sich Adhikari zufolge nicht spezialisieren, da sie als Fachärzte für Innere Medizin weitaus mehr verdienen. In Altersheimen sieht die Geriaterin keine Lösung: „Alte Menschen sind nicht glücklich dort.“
Irgendwann in Würde sterben
Als Father Thomas die Tür seines Notarztwagens letztmals schließt, ist es 16 Uhr. Seit sieben Uhr morgens war er auf den Straßen Chennais unterwegs. Er hat alle dunklen Winkel abgefahren, ist alle Toiletten an Krankenhäusern abgegangen. Acht Menschen hat er aufsammeln und in seiner notdürftigen Ambulanz unterbringen können. Einer hat eine Wunde am Bein, aus der Eiter fließt, ein anderer ist kotverschmiert, eine Frau ist geistig verwirrt und murmelt fortwährend, sie werde bald erlöst. Der Geruch, der aus dem Krankenwagen dringt, ist kaum auszuhalten. Die Sonne geht unter, als Father Thomas die letzte unbefestigte Straße zum Welcome House nimmt. Gleich werden er und seine zwei Mitarbeiter die neuen Bewohner waschen, ihnen die Haare abrasieren, ihnen Medikamente gegen die Schmerzen verabreichen. Danach werden sie schlafen. Etwas essen. Und dann wieder schlafen. Und irgendwann in Würde sterben.
Martina Merten
Die Recherche der Autorin wurde ermöglicht durch ein Global Health Reporting Grant des European Center for Journalism und der Bill and Melinda Gates Foundation.
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