THEMEN DER ZEIT
Gesellschaftsarzt in der Privaten Krankenversicherung: Interne medizinische Beratung


Wenn private Krankenversicherungen eine medizinische Expertise benötigen, fragen sie ihren Gesellschaftsarzt. Die meisten Anfragen beziehen sich dabei auf die Notwendigkeit einer medikamentösen Therapie und auf Alternativmedizin.
Versicherungsunternehmen begannen in den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts damit, Ärzte für die Einschätzung von erhöhten Krankheits- und Todesfallrisiken zu konsultieren. Oftmals konsultierten sie dabei ihre Betriebsärzte. Auch heute ziehen private Versicherer bei medizinischen Fachfragen die Expertise von Ärzten heran, die oftmals bei dem Unternehmen angestellt sind: die Gesellschaftsärzte.
Die Aufgaben und Kompetenzen von Gesellschaftsärzten sind bis heute allerdings weitgehend unbekannt. Der Grund dafür ist, dass es in Deutschland nur eine sehr kleine Zahl von hauptberuflichen Gesellschaftsärzten gibt. Publikationen in medizinischen Fachzeitschriften, die die Aufgaben des Gesellschaftsarztes betreffen, sind immer noch dünn gesät und sie existieren erst seit wenigen Jahren [(1), (3), (4), (5), (6), (7)]. An den Universitäten steckt die Versicherungsmedizin bestenfalls in den Kinderschuhen. In ganz Deutschland gibt es keinen einzigen Lehrstuhl für Versicherungsmedizin. Unsere Nachbarländer Schweiz, Niederlande, Tschechien und Belgien sind hier schon viel weiter [(2), (7), (8), (9)].
Benötigen Mitarbeiter aus den Bereichen „Leistung“ oder „Risikoprüfung“ eines privaten Krankenversicherers eine medizinische Expertise, wenden sie sich an den Gesellschaftsarzt ihres Unternehmens. An dessen Einschätzung sind sie streng genommen nicht gebunden. Trotzdem folgen die Unternehmen dem Urteil des Gesellschaftsarztes in etwa 95 Prozent aller Fälle. Der Gesellschaftsarzt ist in medizinischen Fragen vollständig weisungsfrei. Seine Beurteilungen richten sich nach dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Medizin und den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). In Zweifelsfällen berät sich der Gesellschaftsarzt selbst bei Fachgutachtern.
Die vorliegende Arbeit ist eine Vollerhebung aller Anfragen, die die HALLESCHE Krankenversicherung im Jahr 2015 an den Gesellschaftsarzt gestellt hat. Bereits im Jahr 2012 hat der Autor im Deutschen Ärzteblatt eine entsprechende Vollerhebung aus dem Jahr 2009 veröffentlicht (DÄ, Heft 6/2012). Damals lag die Zahl der Anfragen bei 5 194. Im Jahr 2015 lag sie etwas darüber bei 5 717. In beiden Jahren entfielen mit Abstand die meisten Anfragen auf die medizinische Notwendigkeit von Medikamenten. Allerdings ist die Anzahl deutlich von 1 091 im Jahr 2009 auf 1 795 im Jahr 2015 angestiegen. Gesunken ist hingegen die Anzahl der Anfragen zu alternativmedizinischen Behandlungen: von 721 auf 468. Auch in fast allen anderen Bereichen ist die Zahl der Anfragen gesunken. Gestiegen ist sie unter anderem im Bereich der Logopädie (von 206 auf 227), bei kosmetischen Leistungen (von 162 auf 184) und bei der Begutachtung von Arbeitsunfähigkeit (von 15 auf 168).
Im Folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse der Vollerhebung im Einzelnen dargestellt.
- Medizinische Notwendigkeit von Medikamenten (1 795 Anfragen) Wie in den Vorjahren entfielen die meisten versicherungsmedizinischen Anfragen auf die Beratung zur medizinischen Notwendigkeit von Medikamenten. In der Regel geht es dabei um sehr teure Präparate wie Biologicals, antinukleare Antikörper, Interferone, Interleukine oder Wachstumshormone. Viele Fragestellungen betreffen Medikamente bei hämatologischen Erkrankungen, Multipler Sklerose und anderen neurologischen sowie rheumatologischen Erkrankungen. Es spielt aber auch die Einzelfallprüfung bei Off-Label-Use eine Rolle. Wie in den Vorjahren konnte die medizinische Notwendigkeit der geprüften Medikamente in den meisten Fällen bestätigt werden. In circa 15 Prozent der Fälle waren allerdings zusätzliche Begründungen zur Beurteilung erforderlich.
- Alternativmedizinische Behandlung (468 Anfragen) Der zweithäufigste Beratungsanlass ist die Alternativmedizin. Nahrungsergänzungsmittel, Vitamine und Spurenelemente stellen heutzutage die häufigste alternativmedizinische Behandlung dar. Es geht aber ebenso um umfangreiche Akupunkturleistungen zur Schmerztherapie oder zur Behandlung von Allergien, Übergewicht und Fertilitätsstörungen. Weitere Themen sind die Behandlung mit Organotherapeutika (vom Schwein, Rind oder Pferd), die orthomolekulare Therapie, die Thymustherapie sowie die Eigenblut- und die Eigenblutreinfusionstherapie.
- Kur-/Rehamaßnahmen versus stationäre Krankenhausbehandlung (412 Anfragen) Der dritthäufigste Beratungsbedarf betrifft die Abgrenzung von Kurmaßnahmen zu stationärer Krankenhausbehandlung im Bereich sogenannter gemischter Anstalten. Das sind medizinische Einrichtungen, die sowohl Kuren und Rehabilitationsmaßnahmen durchführen als auch Anschlussheilbehandlungen und stationäre Krankenhausbehandlungen. Träger von Kur- und Reha-Maßnahmen ist in erster Linie die Deutsche Rentenversicherung. Bei bestimmten Indikationen, zum Beispiel nach Bypass- oder Herzklappenoperationen sowie nach Hüft- und Knie-TEPs, kommt aber auch die private Krankenversicherung als Kostenträger infrage. Bei Kuren und Reha-Maßnahmen umfassen die Vollversicherungstarife in der Regel nur die ärztlichen Leistungen sowie physikalischen Anwendungen und sonstigen Therapien, nicht aber Unterbringung und Verpflegung.
- Neulandverfahren (400 Anfragen) Der vierthäufigste Beratungsblock betrifft neue Behandlungsmethoden, also neue diagnostische und therapeutische Verfahren, für die nur bei ganz bestimmten Indikationen ein Zusatznutzen belegt wurde, die aber zunehmend breiter eingesetzt werden. Dazu gehören neue Diagnose- und Behandlungsverfahren, die sich noch in wissenschaftlicher Erprobung befinden oder für die die Studienlage bisher dürftig ist. Beispiele sind die Pulsierende Signaltherapie, die Behandlung mit Orthokin bei Arthrosen oder die lichtoptische 3-D-Wirbelsäulenvermessung. Gemeinsam haben diese Verfahren, dass sie oftmals sehr teuer sind.
- Ambulant versus stationär (289 Anfragen) Hier geht es um die Fragestellung, ob ein Eingriff ambulant durchführbar ist oder stationär vorgenommen werden muss. Insbesondere geht es dabei um arthroskopische Operationen am Kniegelenk und Varizenoperationen, die heutzutage oftmals ambulant durchgeführt werden können.
- Dauer stationäre Krankenhausbehandlung (263 Anfragen) Bei dieser Fragestellung geht es um langwierige stationäre Aufenthalte in psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken, aber auch um Verlängerungsanträge für Anschlussheilbehandlungen und langwierige Frührehabilitation nach Hirnblutung oder Schlagfall.
- Lifestyle-Präparate (243 Anfragen) Der Beratungsbedarf in Bezug auf Lifestyle-Präparate hat sich in den letzten Jahren auf relativ hohem Niveau stabilisiert. Dabei geht es nicht nur um potenzsteigernde Medikamente wie Viagra, Cialis oder Levitra, welche bei einigen Indikationen als medizinisch notwendig und somit erstattungsfähig angesehen werden können. Es geht genauso um Testoste-ronpräparate, die seit einigen Jahren besonders häufig eingesetzt werden. Auch Botox fällt unter diese Rubrik.
- Logopädie (227 Anfragen) Der Beratungsbedarf war im Jahr 2015 deutlich höher als in den Vorjahren. Relativ selten geht es dabei um die früheren klassischen Indikationen wie Aphasie nach Schlaganfall oder funktionelle Dysphonie. Die meisten Anträge betreffen Kinder mit verschiedenen Formen einer Sprachentwicklungsverzögerung.
- Kosmetische Behandlungen und Operationen (184 Anfragen) Seit Jahren besteht ein großer Beratungsbedarf in Bezug auf die Abgrenzung von kosmetisch motivierten Operationen zu medizinisch notwendigen plastisch-chirurgischen Eingriffen. Die Differenzierung ist oftmals schwierig und zeitaufwendig und nur anhand guter Arzt- und Krankenhausberichte sowie Fotodokumentationen sachgerecht durchführbar. Der Beratungsbedarf zu dieser Beratungsrubrik ist in den letzten zehn Jahren um mehrere Hundert Prozent gestiegen.
- Ambulante Psychotherapie (173 Anfragen) Beurteilt werden die medizinische Notwendigkeit von tiefenpsychologisch fundierter und analytischer Psychotherapie und Verhaltenstherapie.
- Künstliche Befruchtung (171 Anfragen) Ebenfalls hoher Beratungsbedarf besteht bezüglich künstlicher Befruchtung. Auch in dieser Rubrik hat der Beratungsbedarf in den letzten zehn Jahren um mehrere Hundert Prozent zugenommen. Beurteilt werden soll in der Regel, welcher Partner Verursacher der Kinderlosigkeit ist, was eine besonders große Rolle spielt, wenn beide Partner bei unterschiedlichen Krankenversicherern versichert sind. Beurteilt werden sollen zudem die medizinische Notwendigkeit von In-vitro-Fertilisationen oder ICSI.
- Arbeitsunfähigkeit (168 Anfragen) Der Beratungsbedarf hat in diesem Bereich deutlich zugenommen. Bei langzeitiger Arbeits- oder Berufsunfähigkeit geht es oft um hohe Geldbeträge und langfristige Versicherungsleistungen. Eine genaue Beschreibung der beruflichen Tätigkeit und ausführliche haus- und fachärztliche Behandlungsberichte werden hierzu benötigt. Oft ist die Beurteilung außerordentlich schwierig, da die zu beurteilenden Sachverhalte zurückliegende Zeitabschnitte betreffen.
- Laboruntersuchungen (146 Anfragen) Hierbei geht es um die medizinische Notwendigkeit von Art und Umfang von Laboruntersuchungen, insbesondere von sogenannten Speziallaboruntersuchungen, die bei Privatpatienten zum Teil sehr umfangreich ausfallen können – auch wenn unspezifische Symptome vorliegen. Die Untersuchung auf eine große Zahl immunologischer, infektiologischer und umweltmedizinischer Parameter kann viele Hundert und im Einzelfall mehrere Tausend Euro kosten. Dies betrifft vor allem die Abklärung bei Chronischem Müdigkeitssyndrom (CFS) oder die Diagnostik von vermeintlichen Umweltkrankheiten und Immundefekten.
- Ergotherapie (141 Anfragen) Der Beratungsbedarf zur Ergotherapie ist weitgehend konstant. In circa 90 Prozent der Fälle geht es um Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit, Konzentrationsstörungen und visueller Wahrnehmungsstörung.
- Physikalische Therapie (118 Anfragen) Als prüfenswert werden in diesem Bereich insbesondere physikalische Therapien von hohem Gesamtumfang oder von hoher Frequenz angesehen. Auch MedX- und FPZ-Therapien sowie erweiterte ambulante Physiotherapien (EAP) spielen eine zunehmende Rolle.
- Ruhensleistungen/Notlagentarif (86 Anfragen) Seit Januar 2009 führt ein Zahlungsausfall in der privaten Krankenversicherung nicht mehr zur automatischen Beendigung des Versicherungsvertrags, sondern nur noch zur Absenkung der Leistungen auf ein sogenanntes Ruhensniveau. Dabei haftet der Versicherer ausschließlich für Aufwendungen, die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände sowie bei Schwangerschaft und Mutterschaft erforderlich sind. Inzwischen wurde der sogenannte Notlagentarif eingeführt, der Leistungen im entsprechend eingeschränkten Umfang anbietet. Kernfrage bei den Beratungen ist der Leistungsumfang der Krankenversicherung im Notlagentarif, der keine Chefarztbehandlung und auch kein Krankentagegeld beinhaltet.
- Hilfsmittel (51 Anfragen) Zur Debatte stehen hier hand- und motorbetriebene Rollstühle, Lupen, Hörgeräte, Körperersatzstücke, Gehhilfen sowie Pflegebetten.
- Schmerzbehandlung (42 Anfragen) Bei Privatpatienten wird oftmals eine ungewöhnliche, nicht etablierte und nicht leitliniengerechte Schmerztherapie durchgeführt. Dabei werden häufig Misch-injektionen aus pflanzlichen Mitteln, Homöopathika, Organotherapeutika, Lokalanästhetika und Cortison in verschiedenen Kombinationen eingesetzt. Pro Behandlungssitzung entstehen dabei oft Kosten von mehreren Hundert Euro.
- GOÄ (27 Anfragen) Da die HALLESCHE Krankenversicherung über einen eigenen Fachbereich für GOÄ-Fragen verfügt, gelangen nur relativ wenige versicherungsmedizinische Anfragen an den Gesellschaftsarzt. Dabei geht es meist um die Überschreitung des 3,5-fachen Höchstsatzes oder eine besonders intensive Anwendung desselben.
- Auslandsbehandlung (15 Anfragen) Auslandsbehandlungen bedeuten einen erheblichen versicherungsmedizinischen Beratungsaufwand. Dies gilt insbesondere, wenn die Behandlung in den USA oder der Schweiz erfolgt, wo die Kosten bis zu zehnmal so hoch liegen wie in Deutschland.
- Kausalität zwischen Erkrankungen (11 Anfragen) Hier geht es darum, ob eine Anzeigepflichtverletzung mit der zur Debatte stehenden Krankheit einen kausalen Zusammenhang aufweist.
- Behandlungsfehler (8 Anfragen) Bei den meisten Vorgängen konnte prima vista kein Behandlungsfehler gefunden werden. In einem Drittel der Fälle waren die vorliegenden Unterlagen nicht ausreichend, um über einen möglichen Behandlungsfehler zu befinden.
- Risikoprüfung (3 Anfragen) Die HALLESCHE Krankenversicherung führt eine computergestützte Risikoprüfung durch. Der Gesellschaftsarzt wird nur in wenigen, ausgesuchten Fällen mit der Risikoprüfung betraut.
Zusammenfassend konnte in 51 Prozent aller Beratungsfälle vollständig anerkannt werden, in zwölf Prozent der Fälle teilweise, und in 20 Prozent der Fälle wurde abgelehnt. Bei 17 Prozent wurden weitere Unterlagen angefordert.
Dr. med. Rainer Hakimi
Leitender Gesellschaftsarzt und Betriebsarzt
HALLESCHE Krankenversicherung a.G.
Reinsburgstraße 10, 70718 Stuttgart
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit5117
oder über QR-Code.
1. | Becher, S.: Alternative ärztliche Berufsfelder: Im Dienst der Privatassekuranz. Dtsch. Ärztebl. 2008; 105(23): 1305 VOLLTEXT |
2. | Gyr N, Bollag Y.: Versicherungsmedizin – ein universitäres Fachgebiet? Schweizerische Ärztezeitung 2005 (86): 140 CrossRef |
3. | Hakimi, R.: Über die Aufgaben des Gesellschaftsarztes in der privaten Krankenversicherung. Versicherungsmedizin 2003; 55(4): 17 MEDLINE |
4. | Hakimi, R.: Der Gesellschaftsarzt in der privaten Krankenversicherung – Traditionelle und neue Aufgaben. Arbeitsmed. Sozialmed. Umweltmed. 2002; 37(1): 41 |
5. | Hakimi, R.: Versicherungsmedizinische Beratung durch den Gesellschaftsarzt in der PKV. Versicherungsmedizin 2006; 58(2): 8 MEDLINE |
6. | Hakimi, R.: Bedeutung von Begutachtungsempfehlungen, antizipierten Sachverständigengutachten und Leitlinien – aus Sicht des Gesellschaftsarztes in der privaten Krankenversicherung. Der medizinische Sachverständige 2010; 106(2): 81 |
7. | Hakimi, R.: Die medizinische Instanz Gesellschaftsarzt in der Privaten Krankenversicherung. Dtsch. Ärztebl. 2012; 109(6) 251 VOLLTEXT |
8. | Raad voor Gezondheidsonderzoek: Advies Onderzoek Verzekeringsgeneeskunde. Den Haag 2004, S. 5 |
9. | Stöhr S.: ASIM – Academy of Swiss Insurance Medicine – ein Jahr später. Schweizerische Ärztezeitung 2006; (26): 121 CrossRef |
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