POLITIK
Neue Geschäftsmodelle in der Psychotherapie: Bedarf auf beiden Seiten


Gesetzliche Krankenkassen verweigern zunehmend Anträge auf Kostenerstattung einer Psychotherapie. Das stellt privat tätige Psychotherapeuten vor existenzielle Fragen. Zwei junge Unternehmen bieten Alternativen.
Die Wartezeiten auf einen Platz bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten sind auch nach der Strukturreform der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung am 1. April vergangenen Jahres lang. Zwar bekommen Patienten seitdem schneller einen Termin für die neu eingerichtete Sprechstunde und Akutbehandlung, doch das Warten auf eine Richtlinientherapie bleibt. Viele Psychotherapeuten berichten, dass sie durch diese beiden neuen Elemente noch weniger Zeit für Letztere haben.
Gleichzeitig scheinen die gesetzlichen Krankenkassen hilfesuchenden Patienten seit dem 1. April zunehmend Psychotherapien im Wege der Kostenerstattung (§ 13 Abs. 3 SGB V, Kasten) zu verweigern. „Wir beobachten das veränderte Verhalten der Krankenkassen mit Sorge, denn es trifft psychisch kranke Menschen, die auf der Suche nach einem Therapieplatz von ihrer Kasse im Stich gelassen werden“, sagt Barbara Lubisch, Bundesvorsitzende der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung (DPtV). Die Kassen begründeten die zunehmende Ablehnung der Anträge auf Kostenerstattung mit der Einführung der Terminservicestellen und der Strukturreform der ambulanten Versorgung. Die Leistungen approbierter Psychologischer Psychotherapeuten ohne Kassenzulassung in Privatpraxen haben nach Angaben der DPtV in den letzten Jahren zur Behebung von Versorgungsmängeln beigetragen, und zwar in zunehmendem Maße: Betrugen die Ausgaben der GKV für die Kostenerstattung 2012 noch rund 45 Millionen Euro pro Jahr, wird die Summe inzwischen auf 200 Millionen Euro im Jahr geschätzt. Der Berufsverband geht dabei von bundesweit etwa 8 000 Privatpraxen aus, die mindestens teilweise über die Kostenerstattung abgerechnet haben. Bei einem durchschnittlichen Umsatz von 25 000 Euro kommt die DPtV auf eben geschätzte 200 Millionen Euro. Genaue Zahlen gibt es nicht mehr. Eine Anfrage von PP beim GKV-Spitzenverband nach den Gründen hierfür wurde mit der Antwort beschieden, dass „die amtliche Statistik die Fälle einer Kostenerstattung seit 2013 nicht mehr erfasst“.
Erste Privatpraxen schließen
Doch nicht nur scheint es für psychisch kranke Hilfesuchende schwieriger geworden zu sein, einen Antrag genehmigt zu bekommen. Auch Psychologische Psychotherapeuten, die ihre berufliche Existenz auf einer Privatpraxis aufgebaut haben, weil sie keine Zulassung zum kassenärztlichen System bekommen haben, müssen sich Gedanken über ihre berufliche Zukunft machen. In Berlin würden bereits die ersten Privatpraxen schließen, berichtete beispielsweise eine Delegierte der Psychotherapeutenkammer Berlin beim 31. Deutschen Psychotherapeutentag (DPT) im November. Der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, Dr. Dietrich Munz, riet jungen Psychotherapeuten bei demselben DPT, sich auch nach anderen Verdienstmöglichkeiten umzusehen.
Kurze Wartezeiten für privat
Hier kommen nun neue Geschäftsmodelle ins Spiel, die in den letzten Jahren in Berlin und Hamburg entstanden sind beziehungsweise entstehen: „Novus Via“ und „Vivelia“, so die klingenden Namen von zwei Unternehmen, die einerseits ein Angebot für kurze Wartezeiten auf einen Therapieplatz für privat Versicherte und Selbstzahler vorhalten. Gleichzeitig bieten sie gesetzlich Krankenversicherten bei den aufwendigen Anträgen auf Kostenerstattung für Psychotherapie Unterstützung an. Darüber hinaus ermöglichen sie approbierten Psychotherapeuten, Therapiestunden zu geben, ohne das unternehmerische Risiko zu tragen: Geboten wird ein „Co-working-space“, das heißt die Psychotherapeuten arbeiten selbstständig und zahlen an das Unternehmen einen Anteil ihrer Einnahmen für die Serviceleistungen.
„Die Psychotherapeuten können sich hier ganz auf das Wesentliche ihrer Arbeit konzentrieren – alles Administrative und Kaufmännische übernehmen wir“, sagt Ralf Reibiger, Geschäftsführer von „Novus Via – Zentrum für Psychotherapie, mentale Gesundheit und Coaching GmbH“ in Berlin-Wilmersdorf. Aktuell arbeiten 15 Psychotherapeuten unterschiedlicher Therapierichtungen in den acht Altbau-Praxisräumen: Psychotherapeuten jeglichen Alters, manche haben gleichzeitig eine Festanstellung, andere wollen nach der Elternzeit mit wenigen Stunden wieder einsteigen. Die meisten arbeiten an ein bis drei Tagen in der Woche, mindestens fünf Stunden, niemand Vollzeit. Für die Räume und den administrativen Service (Sekretariat, Terminservice, Abrechnung, Marketing) zahlen sie knapp 40 Prozent ihrer Honorarsumme.
„Wichtig ist uns, dass jede Therapieschule vertreten ist“, betont die Leiterin des Unternehmens, Kora Korbien. Die tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapeutin hat Novus Via vor einem Jahr mit Reibiger zusammen gegründet, unter anderem, „weil ich die Idee der integrativen Therapie nach Klaus Grawe gut finde, also jedem Patienten die passende Therapie zukommen zu lassen“. Den schulenübergreifenden Austausch im Team findet sie sehr hilfreich. Kommt ein neuer Patient, führt sie oder ein anderer Psychotherapeut ein diagnostisches Erstgespräch durch. „In den meisten Fällen gelingt die Passung, wenn nicht vermitteln wir in unser Netzwerk“, berichtet Korbien, beispielsweise für eine spezielle ergänzende Diagnostik, Traumatherapie oder für fremdsprachige Psychotherapie.
Etwa 70 Prozent der Patienten von Novus Via sind Privatversicherte, Beihilfeberechtigte oder Selbstzahler. Die private Krankenversicherung übernimmt regelhaft auch die Kosten für Psychotherapie bei Approbierten ohne Kassenarztsitz. Den gesetzlich Krankenversicherten helfen die beiden Unternehmer von Novus Via bei den Anträgen auf Kostenerstattung. Auch sie stellen fest, dass die Krankenkassen seit dem 1. April 2017 vermehrt Anträge ablehnen, „vor allem die großen Kassen wie AOK, Barmer, DAK und Techniker Krankenkasse“, berichtet Reibiger. Ob ein Antrag bewilligt wird, hänge aber auch oft vom Engagement und der Durchsetzungskraft des Patienten ab, der den Antrag stellen muss, erklärt Korbien. So muss er dafür unter anderem Absagen auf einen Therapieplatz bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten vorweisen. „Gerade die schwereren Fälle schaffen das nicht, weshalb sie meist aufgeben.“ Novus Via begleitet und unterstützt diejenigen im dem aufwendigen Antragsprozess.
Mit einem vergleichbaren Konzept arbeitet „Vivelia – Psychotherapie und Coaching GmbH“ bereits seit 2014 in Berlin und Hamburg. Aktuell sind vierzig ärztliche und Psychologische Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten in Berlin-Mitte beschäftigt sowie zwanzig Therapeuten in Hamburg in unmittelbarer Nähe zum Hauptbahnhof. Auf der Homepage von Vivelia sind alle Therapeuten mit Bild und Lebenslauf aufgelistet. Sie gehören verschiedenen Therapieschulen an. Manche arbeiten parallel an einer Klinik oder forschen an der Universität. „Der Bedarf ist riesig – und das auf beiden Seiten“, sagt Geschäftsführer Daniel Kollmann. Auf der Warteliste für einen Co-Working-Space bei Vivelia hat Kollman inzwischen rund 30 Namen stehen. Der Politik- und Wirtschaftswissenschaftler hat das Unternehmen vor vier Jahren zusammen mit einer Verhaltenstherapeutin ins Leben gerufen. „Am Anfang war es schwierig, aber inzwischen funktioniert die Mundpropaganda sehr gut“, sagt er.
Ein psychotherapeutisches Leitungsteam berät bei Vivelia die Patienten, welches Psychotherapieverfahren und welche Behandlungsform für sie richtig ist. Geschulte Mitarbeiter helfen gesetzlich Krankenversicherten zudem zu ihrem Recht auf Kostenerstattung der Psychotherapie. Auch Kollmann bestätigt die zunehmende Ablehnungspraxis der gesetzlichen Krankenkassen. Mehr als hundert interne und externe Experten kümmern sich nach Angaben des Unternehmens in beiden Städten um die Patienten und Psychotherapeuten.
Auch bei Vivelia liegt der Fokus auf privat Versicherten und Selbstzahlern. Das drückt sich schon darin aus, dass das Unternehmen damit wirbt, dass Letztere einen Therapieplatz innerhalb von 24 Stunden bekommen können. Gesetzlich Versicherte müssten hingegen durchschnittlich „nur“ 13 Wochen warten, im Gegensatz zu den oft üblichen sechs Monaten in Berlin oder Hamburg. „Die Professionalisierung der Rahmenbedingungen fängt gerade an“, sagt Geschäftsführer Kollmann, „und wir sind dabei Vorreiter.“
Petra Bühring
www.novus-via.de, www.vivelia.de
Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.