MEDIZINREPORT
Check-up 35: Wenn Früherkennung, dann richtig


Manche Präventionsmaßnahme ist eher gut gemeint als gut. Mit dem Check-up 35 wird bislang die Chance vertan, bei noch jungen Erwachsenen die Weichen anders zu stellen. Die Untersuchung wird in ihrer konkreten Ausgestaltung von vielen Experten schon lange kritisiert.
Krankenkassen bewerben den Check-up 35 als „Kontrolltermin für Ihre Gesundheit“ (1). Aber prüft die seit rund 30 Jahren nahezu unverändert angebotene Früherkennungsmaßnahme tatsächlich „auf Herz und Nieren“? Oder geht sie nicht vielmehr längst an der wissenschaftlichen Evidenz vorbei und ist nur noch „ein Fall von Systemlähmung“, wie es schon vor Jahren hieß (2).
Der Check-up 35 umfasst Anamnese, Untersuchung, Blutdruckmessung, Bestimmung von Gesamtcholesterin und Nüchternglukose sowie im Urin Eiweiß, Glukose, Erythrozyten, Leukozyten und Nitrit. Hinzu kommt eine kurze Beratung. Mehrere Fachgesellschaften kritisieren, dass dieser Check zur Früherkennung nicht wirklich taugt, etwa weil die Bestimmung der Leberwerte fehlt, die einen Fingerzeig auf eine alkohol- oder virusbedingte Hepatitis geben könnten (3). Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin spricht sich in einem umfangreichen Diskussionspapier für die Beibehaltung des Check-up 35 aus, empfiehlt allerdings eine deutliche Erweiterung (4).
Die Deutsche Akademie für Präventivmedizin (DAPM) hat jetzt die Kritik in einem Positionspapier erneut zugespitzt und gleichzeitig Verbesserungsvorschläge präsentiert (5). Dr. med. Johannes Scholl, Internist in Rüdesheim und Vorsitzender der DAPM, hält fest: „Aus unserer Sicht entspricht der Check-up 35, den die Krankenkassen anbieten, nicht mehr dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand.“ Bisher wird beim Check-up 35 das Gesamtcholesterin untersucht. „Dieser Parameter hat bekanntlich bei Frauen nahezu keine und bei Männern nur eine sehr begrenzte Aussagekraft“, so Scholl. Besser geeignet zur Risikoeinstufung sei das Non-HDL-Cholesterin.
Non-HDL-Cholesterin als Maß
Das Non-HDL-Cholesterin erfasst als Differenz zwischen Gesamt- und HDL-Cholesterin auch die triglyzeridreichen Lipoproteine und Chylomikronen-Remnants, die ebenfalls für die Entwicklung der Arteriosklerose bedeutsam sind (6). „Gerade bei Menschen mit Insulinresistenz ist das LDL-Cholesterin manchmal trügerisch niedrig, weil sie kleine, dichte, jedoch zahlreiche LDL-Partikel haben“, so Scholl. Auch internationalen Publikationen zufolge gilt das Non-HDL-Cholesterin – ebenso wie das wesentlich teurere Apolipoprotein B – inzwischen als Goldstandard für die Risikoeinstufung (7).
Ein weiterer Vorschlag des Positionspapiers lautet, einmalig das Lipoprotein(a) zu bestimmen, wenn die Familiengeschichte Hinweise auf einen frühzeitigen Herzinfarkt oder Schlaganfall gibt. Risikokandidaten würden so frühzeitig erkannt. Lp(a) ähnelt dem LDL-Cholesterin, es ist lediglich mit einer zusätzlichen Eiweißkette, Apolipoprotein(a), verknüpft. Die Plasmaspiegel von Lp(a) sind überwiegend genetisch bestimmt. 2–3 % der Bevölkerung haben stark erhöhte, 15–20 % moderat erhöhte Lp(a)-Werte (8).
Nach einer dänischen Bevölkerungsstudie gehen erhöhte Lp(a)-Spiegel mit einem höheren Risiko für einen Myokardinfarkt einher (9). Die Ergebnisse lassen zum Beispiel erkennen, dass Männer mit Lp(a) über 100 mg/dl ein 4-fach erhöhtes Risiko haben, schon in ihren 40er-Jahren einen Herzinfarkt zu erleiden. Pathophysiologische, epidemiologische und genetische Studien zeigen inzwischen, dass Lipoprotein(a) kardiovaskuläre Erkrankungen und Aortenklappen-Verkalkung mit verursacht (10).
Daher sind erhöhte Lp(a)-Spiegel relevant. Die Cholesterinwerte sind dann wesentlich strenger zu bewerten und der Blutdruck muss engmaschiger kontrolliert werden. Es ist mit harten Endpunkten gezeigt worden, dass ein hohes Lp(a) zu einer relevanten Reklassifizierung solcher Patienten führt (11). Ist das Risiko wegen einer Lp(a)-Erhöhung größer, muss auch früher primär interveniert werden. „Wir empfehlen daher, dass beim Nachweis einer subklinischen Arteriosklerose aufgrund des erheblich gesteigerten Risikos schon frühzeitig eine Statintherapie zum Einsatz kommen sollte“, sagt Scholl.
In Deutschland ist die Indikation zur Primärprävention – etwa eine Statintherapie – bisher gegeben, wenn ein errechnetes 10-Jahres-Risiko von mehr als 20 % für ein kardiovaskuläres Ereignis besteht. In Großbritannien gilt dies schon ab 10 %. Die DAPM plädiert dafür, die Interventionsschwelle auch hier auf diesen Wert abzusenken.
Risiken laienverständlich erklärt
Außerdem sei die Betrachtung des gesamten Lebensrisikos wichtig. „Die Fokussierung allein auf das 10-Jahres-Risiko führt dazu, dass jüngere Menschen mit langfristig betrachtet hohem Risiko keine Behandlung erhalten, sondern erst wenn sie alt genug sind“, so Scholl. „Das ist aus unserer Sicht unlogisch, denn die Arteriosklerose ist ein lebenslanger Prozess – je früher man das Risikofaktoren-Profil optimiert, desto besser ist die Arteriosklerose zu beeinflussen.“
Die britischen Leitlinien zur kardiovaskulären Prävention (JBS3 Guidelines) haben daher als zusätzliches Kriterium zum 10-Jahres-Risiko ein errechnetes hohes Lebenszeit-Risiko von über 40 % definiert (projiziert auf das 80. Lebensjahr). Sie plädieren dafür, dann auch junge Menschen frühzeitig zu behandeln. Scholl schließt sich dem an: „Warum warten, bis die Arteriosklerose richtig schlimm ist, anstatt den Faktor, der sie begünstigt, bei Hochrisikokandidaten schon mit 40 Jahren zu behandeln?“
Für die Berechnung des kardiovaskulären Risikos existieren zahlreiche Formeln, vorgeschrieben für den Check-up 35 ist keine bestimmte. Im Vergleich mit anderen Risikorechnern wie ESC-SCORE oder dem AHA-Rechner habe die in den britischen JBS3-Leitlinien verwendete Q-Risk-Formel die beste Datenbasis, sagt Scholl (12).
Daraus hat man an der Universität Cambridge mit dem JBS3-Risikorechner einen für den Laien verständlichen Risikokommunikator geschaffen (kostenfrei unter www.jbs3risk.com). Dieser erklärt allgemeinverständlich, welches Risiko der Einzelne hat und was er verändern kann. Denn der Rechner stellt die Folgen verschiedener Interventionen grafisch dar, etwa wie viele Herzinfarkte man verhindern könnte, wenn die Hypertonie behandelt oder das Rauchen eingestellt wird. „Dieser Risikorechner ist sehr gut, wir empfehlen ihn für den deutschen Check-up 35, da er die Beratung stark erleichtern kann.“
Die alleinige Bestimmung des Nüchternblutzuckers ist ein weiteres Manko des Check-up, wie auch der Hausärzteverband schon vor längerer Zeit gerügt hat (13). Die DAPM hält zur Abschätzung des Diabetesrisikos zusätzlich den Einsatz des FINDRISK-Fragebogens (www.diabetesstiftung.de/findrisk), den HbA1c-Wert und die simple Messung des Bauchumfangs für wichtig, so Scholl: „Dadurch ließe sich ein erhöhtes Diabetesrisiko wesentlich besser feststellen.“
Außerdem empfiehlt das Positionspapier, ɣ-GT und Serum-Triglyzeride zu bestimmen, um zu erkennen, ob eine nicht alkoholische Fettlebererkrankung (NAFLD) vorliegt. Zusammen mit BMI und Bauchumfang könne man mithilfe des Fatty-Liver-Index nach Bedogni bewerten, ob der Patient mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Leberverfettung hat oder nicht (14). Eine NAFLD fördert die Insulinresistenz, erhöht das Diabetesrisiko und ist ein Risikofaktor für eine Reihe von Krebs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Angesichts einer NAFLD-Prävalenz von 42 % bei erwachsenen Männer und 17 % bei Frauen in Deutschland hält die DAMP es für geboten, darauf zu screenen (15).
Der Check-up 35 enthält zwar den Anspruch auf ein Beratungsgespräch – wie dies ablaufen soll, ist jedoch völlig dem einzelnen Arzt überlassen. Die Forderungen danach, sich Zeit zu nehmen, sind wohlfeil, an einer adäquaten Honorierung mangelt es jedoch. „Außerdem braucht das Beratungsgespräch eine Struktur“, betont Präventivexperte Scholl. Man müsse die Patienten zum Nachdenken bringen. Dafür brauche man zum Beispiel Bilder, die Risikofaktoren anschaulich erklären.
Keine Standards
„All diese Materialien gibt es für den Hausarzt bisher nicht“, beklagt Scholl. Es fehlten Standards, wie genau zu beraten ist, wenn bestimmte Risikofaktoren wie Insulinresistenz, Fettleber oder Bluthochdruck vorliegen. Scholl hofft, dass dieses Positionspapier viele zum Nachdenken bringt. Dass der GB-A nun zur Neubewertung schreitet (Kasten), zeugt davon, dass eine Änderung des nicht nur alten, sondern offensichtlich veralteten Check-ups nicht nur von einzelnen Gesellschaften für dringlich erachtet wird. Im Sommer weiß man mehr. Maren Schenk
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit1118
oder über QR-Code.
Ausweitung des Screenings in einem neuen Check-up 35?
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) entwickelt derzeit den Check-up 35 „schrittweise weiter“ – so steht es zumindest auf der Seite des Bundesgesundheitsministeriums. Grundlage dafür ist das Präventionsgesetz von 2015. Zum Check-up 35 laufen zurzeit 4 Beratungsverfahren, erklärt Gudrun Köster, stellvertretende Leiterin Stabsabteilung Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation beim G-BA. Eine erste Beschlussfassung steht voraussichtlich im Juli 2018 an. Das Institut für Wirtschaftlichkeit und Qualität im Gesundheitswesen (IQWiG) wurde beauftragt zu prüfen, ob ein Screening auf Hepatitis B und C sowie auf Depressionen als weitere Früherkennungsuntersuchungen im Rahmen einer Neufassung des Check-up 35 empfohlen werden sollte.
1. | DAK Homepage: Check-up 35: Der kostenlose Gesundheitscheck für Frauen und Männer. https://www.dak.de/dak/leistungen/gesundheitscheck-1430216.html (last accessed 25 January 2018). |
2. | Donner-Banzhoff N, Heintze C: Der „Check ab 35“: ein Fall von Systemlähmung? Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen (ZEFQ) 2011; 105, 10: 765–8 CrossRef |
3. | Fachgesellschaft fordert Leberscreening beim Check-up 35. Deutsches Ärzteblatt. News vom 17. November 201.7 https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/83547/Fachgesellschaft-fordert-Leberscreening-beim-Check-up-35 (last accessed 25 January 2018). |
4. | Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM): Check-up 35 Untersuchung – eine Diskussion. https://www.dgim.de/fileadmin/user_upload/PDF/Publikationen/DGIM_check_2018.pdf (last accessed 14 February 2018). |
5. | https://akaprev.de/wp-content/uploads/2018/01/Check-up-35-DAPM-Positionspapier.pdf (last accessed 31 January 2018). |
6. | Nordestgaard BG: Triglyceride-Rich Lipoproteins and Atherosclerotic Cardiovascular Disease: New Insights From Epidemiology, Genetics, and Biology. Circ Res 2016; 118: 547–56 CrossRef MEDLINE |
7. | The Emerging Risk Factors Collaboration: Major Lipids, Apolipoproteins, and Risk of Vascular Disease. JAMA 2009; 302: 1993–2000 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
8. | Nordestgaard BG, Chapman MJ, Ray K, et al.: Lipoprotein(a) as a cardiovasular risk factor: current status. Eur Heart J 2010; 31: 2844–53 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
9. | Kamstrup PR, Benn M, Tybjaerg-Hansen A, et al.: Extreme lipoprotein(a) levels and risk of myocardial infarction in the general population: the Copenhagen City Heart Study. Circulation 2008; 117: 176–18 CrossRef MEDLINE |
10. | Tsimikas S, Fazio S, Ferdinand KC, et al.: NHLBI Working Group Recommendations to Reduce Lipoprotein(a)-Mediated Risk of Cardiovascular Disease and Aortic Stenosis. JACC 2018; 71: 177–19 CrossRef MEDLINE |
11. | Willeit P, Kiechl S, Kronenberg F, et al.: Discrimination and Net Reclassification of Cardiovascular Risk With Lipoprotein(a). J Am Coll Cardio 2014; 64: 851–860 CrossRef MEDLINE |
12. | Hippisley-Cox J, Coupland C, Vinogradova, et al: Predicting cardiovascular risk in England and Wales: prospective derivation and validation of QRISK2. Brit Med J (online) 26 June 2008. http://www.bmj.com/content/336/7659/1475 (last accessed 31 January 2018) |
13. | Diabetes bleibt oft unentdeckt. Ärztezeitung 5 Arpil 2016 https://www.aerztezeitung.de/medizin/krankheiten/diabetes/article/908522/zweifel-check-up-35-diabetes-bleibt-oft-unentdeckt.html (last accessed 25 January 2018). |
14. | Bedogni G, Bellentani S, Miglioli L, et al.: The Fatty Liver Index: a simple and accurate predictor of hepatic steatosis in the general population. BMC Gastroenterology (online) 2. November 2006. https://bmcgastroenterol.biomedcentral.com/articles/10.1186/1471–230X-6–33 (last accessed 31 January 2018 CrossRef |
15. | Kühn JP, Meffert P, Heske C, et al.: Prevalence of Fatty Liver Disease and Hepatic Iron Overload in a Northeastern German Population by Using Quantitative MR imaging. Radiology, 2017; 284 (3): 706–16 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
Chenot, Jean-François; Baum, Erika; Fessler, Joachim; Egidi, Günther
Barz, Sabine