ArchivDeutsches Ärzteblatt44/1999Die Bedeutung der Retrainingtherapie bei Tinnitus

MEDIZIN: Die Übersicht

Die Bedeutung der Retrainingtherapie bei Tinnitus

Biesinger, Eberhard; Heiden, Christian

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LNSLNS Mit dem Konzept der Tinnitusretrainingtherapie (TRT) rückt die Habituation an ein chronisches Ohrgeräusch in den Mittelpunkt der therapeutischen Bemühungen. Griffige Erklärungsmodelle und klare Handlungsanweisungen ergeben eine scheinbar leicht durchzuführende Behandlungsmethode. Die Grundelemente der TRT sind das ausführliche, aufklärende Gespräch (sogenanntes Counseling) über die zentralen Verarbeitungs- und Filterungsprozesse des akustischen Systems und die Verwendung von Tinnitusmaskern zur Teilmaskierung der Ohrgeräusche und akustischen Defokussierung. Die genauere Betrachtung zeigt, daß die im angloamerikanischen Bereich entstandenen Gedanken durchaus nicht neu sind und die Umsetzung im deutschsprachigen Gebiet nicht unproblematisch ist. Dem Konzept der Tinnitusretrainingtherapie fehlt das Element der psychologischen Diagnostik, um Komorbiditäten zu erfassen. Die Anwendung eines Gerätes birgt die Gefahr, die Tinnitusbehandlung nur darauf zu reduzieren und damit Kosten zu produzieren. Gleichwohl hat die TRT in Deutschland zu einer fruchtbaren interdisziplinären Zusammenarbeit geführt, wodurch sich der Betroffene mit seinem Symptom verstanden fühlt.
Schlüsselwörter: Retraining, Tinnitus, Psychologie, HNO, Habituation

Retraining Therapy in the Treatment of Tinnitus
Tinnitus retraining therapy introduced by Jastreboff (USA) and Hazell (UK) is a new therapeutic approach for patients with tinnitus. The main aspect of this method is counseling on the mechanisms of central habituation as well as the application of noice generators for acoustic defocusing. However, patients with severe tinnitus need complemental psychological diagnosis and treatment. Therapy of severe tinnitus therefore requires a teamwork between ENT-doctors and psychologists.
Key words: Retraining, tinnitus, psychology, ENT, habituation

Parallel zu der Zunahme der Schwerhörigkeit nimmt auch die Prävalenz und Inzidenz von Tinnitus besorgniserregend zu. Epidemiologische Untersuchungen aus Großbritannien (6), Schweden (1, 2) und den USA (26, 28) zeigen, daß zirka 35 bis 45 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in den Industriegesellschaften zu irgendeinem Zeitpunkt Ohrgeräusche wahrgenommen haben. Acht Prozent der Befragten fühlten sich leicht, 0,5 bis ein Prozent erheblich bis schwer beeinträchtigt. Wie Untersuchungen zur Komorbidität belegen (8, 12 16), klagen die Betroffenen häufig über Konzentrations- und Schlafstörungen, über Müdigkeit, Reizbarkeit, Angst, Depression und Hörbeeinträchtigungen. Das Gefühl den Ohrgeräuschen hilflos gegenüber zu stehen, die "Unsichtbarkeit" und mangelnde Akzeptanz durch andere sowie die häufigen Mißerfolge verschiedener Therapien erhöhen den Leidensdruck.
Neuere epidemiologische Daten, vor allem aus dem deutschsprachigen Raum fehlen, aber die Bedeutung des Symptoms in den HNO-Praxen und Kliniken nimmt zu: vielleicht als Ausdruck unserer "akustischen Umweltverschmutzung" (34, 35)? Eine Ursache ist aber auch in einer Pathologisierung des Symptoms in der Laienpresse und den Medien zu suchen, oft verbunden mit unseriösen Heilungsversprechen mancher "Therapeuten". Mit Hilfe der in den USA und England durch Jastreboff und Hazell (19) propagierten sogenannten Retrainingtherapie besteht die Möglichkeit, den Patienten anschaulich genau dieses Problem der Fokussierung auf das Signal des Tinnitus und die Möglichkeiten des Abtrainierens zu erklären: während beim akuten Tinnitus medizinische Maßnahmen im Vordergrund stehen, die auf eine Beseitigung des Tinnitus abzielen, besteht das Behandlungsziel beim chronischen Tinnitus (über sechs Monate) in der Bewältigung der Ohrgeräusche und der damit verbundenen Beeinträchtigungen. Voraussetzung dafür ist die exakte HNO-ärztliche Abklärung des Symptoms und der Ausschluß einer organischen Ursache. Bewältigungsstrategien für Tinnitus sind bislang hauptsächlich durch verhaltenstherapeutisch ausgebildete Berufsgruppen vermittelt worden. Nun eröffnen die Gedanken und Modelle der Retrainingtherapie auch den Organmedizinern, insbesondere den HNOÄrzten, die Möglichkeit, den Patienten zumindest die Prinzipien von Habituation und Adaptation an ein Ohrgeräusch zu erklären. Bei leichter betroffenen Patienten wird dies meist ausreichend sein, bei schweren Fällen wird hieraus die Motivation für psychologische Therapien leichter erreichbar.
Im folgenden werden die Prinzipien dieser Retrainingtherapie dargestellt und die Problematik der Umsetzung im deutschsprachigen Raum, einschließlich der sich ergebenden berufspolitischen Konflikte diskutiert. Das neurophysiologische Modell Das neurophysiologische Tinnitusmodell beruht zum Teil auf tierexperimentellen Untersuchungen an Ratten mit einem durch Salizylsäure induzierten Tinnitus (17, 18, 19, 20, 21, 22, 31, 32). Diese Untersuchungen zeigen, daß auch der peripher entstandene Tinnitus (zum Beispiel durch Lärmeinwirkung in der Cochlea) spezifische funktionelle Veränderungen subkortikal und kortikal nach sich zieht.
Jastreboff beschreibt in seinen Arbeiten eine tinnitusspezifische, neuronale Aktivität (tinnitus related activity) im Kortex und limbischen System, die zu einer emotionalen Störung, vegetativer Beeinträchtigung und damit zu einer entsprechenden Belästigung durch das Ohrgeräusch führt: Das akustische System produziert ein Signal (den Tinnitus), das seine klinische Bedeutung erst durch die Aktivierung des limbischen und vegetativen Systems mit Provokation negativer emotionaler und vegetativer Reaktionen erreicht. Die Dynamik dieser Prozesse verdeutlichen uns die Patienten täglich: ein zunächst als harmlose "Grille" interpretiertes und damit überhörbares Geräusch wird, sobald erkannt wird, daß es aus dem Körper kommt, als pathologisches Signal bewertet und dann katastrophisiert (Grafik 1). Es resultiert der Teufelskreis des Tinnitus (Grafik 2) mit entsprechender Komorbidität.
Dem Phantomschmerz entsprechend, können zentrale Repräsentationen von peripher entstandenen sensorischen Wahrnehmungen weiter bestehen, auch wenn die periphere Ursache nicht mehr existiert, das heißt ein akuter Tinnitus, der durch ein Lärmtrauma des Innenohres entstanden ist, kann durch plastische Prozesse zentralisieren und chronifizieren.
Wesentliche Bedeutung hat die Überlegung, daß die zentralen Bewertungs- und Verarbeitungsprozesse eines Ohrgeräusches unabhängig vom Ort seines Entstehens (kochleär = peripher oder zentral) und ihrer subjektiven Lautheit betrachtet werden müssen. Es besteht deshalb keine Korrelation zwischen der (subjektiv) meßbaren Lautheit des Ohrgeräusches und der Belastung. Audiologische Daten über die subjektive Lautstärke, Frequenz und so weiter lassen also keine Rückschlüsse auf die psychische Beeinträchtigung zu: Patienten mit "leisem" Ohrgeräusch leiden mitunter mehr als Patienten mit audiologisch "laut" meßbarem Ohrgeräusch (29).
Verschiedene kortikale und subkortikale Areale haben direkte Verbindungen zum auditorischen System und können die bewußte Wahrnehmung des Ohrgeräusches beeinflussen. Insbesondere bei negativ besetzter Fokussierung auf das Ohrgeräusch kommt es zu einer subjektiven Verstärkung. Dagegen führt eine Habituation (Gewöhnung) zu einer Abschwächung.
Neurophysiologische Aspekte lassen vermuten, daß der kortikale Erkennungsprozeß des chronisch bestehenden Signals reversibel ist, wenn das Hörorgan über längere Zeit mit "weißem Rauschen" geringer Intensität stimuliert wird (18, 30). Diese Erkenntnis bildet die Grundlage der Geräteversorgung.
Ziel der Retrainingtherapie aber auch aller anderen Tinnitusbewältigungskonzepte ist es, die negative Bewertung dieses Signals und die Fokussierung darauf zu beenden. Der Betroffene lernt, mit seinem Ohrgeräusch zu leben und es zu überhören. Wenn eine Gewöhnung bezüglich der Wahrnehmung (Perzeption des Ohrgeräusches) erreicht ist, wird das Ohrgeräusch immer weniger bewußt werden. Insgesamt verliert der Tinnitus seinen Einfluß auf das Leben des Patienten.
Prinzipien der Retrainingtherapie Die Prinzipien der Retrainingtherapie beruhen auf zwei Säulen: dem sogenannten Counseling, das heißt einer symptomorientierten Beratung und individuell einer technischen Versorgung mit Tinnitusmaskern zur Teilmaskierung des Ohrgeräusches oder mit Hörgeräten beim schwerhörigen Patienten (22).
Das therapeutische Vorgehen ist in vier Abschnitte strukturiert: der Befundaufnahme und Anamnese, der symptombezogenen Beratung (sogenanntes Counseling), der technischen Versorgung, der Befundkontrolle mit weiterer Beratung.
Anamnese und Befunderhebung
In der Erstkonsultation soll die Abklärung der mit dem Ohrgeräusch verknüpften Ängsten, negativen Assoziationen sowie das Vorhandensein von Hyperakusis und Hörproblemen erfolgen. Ferner soll der Einfluß von Tinnitus, Hyperakusis und einer eventuell vorhandenen Schwerhörigkeit auf das Leben des Patienten untersucht werden. Verknüpft mit der Erstkonsultation des Patienten werden die wichtigsten audiologischen Daten erhoben, bestehend aus dem Audiogramm, der Messung der Unbehaglichkeitsschwelle, der Tinnitusbestimmung und den otoakustischen Emissionen. Sofern erforderlich, erfolgen weitergehende Untersuchungen zur Abklärung spezifischer otologischer und nichtotologischer Krankheitsbilder (25).
Das Beratungsgespräch Für das erste Beratungsgespräch kann eine Dauer von einer Stunde notwendig sein. Als Grundlage zur Informationsvermittlung dient das neurophysiologische Modell. Insbesondere soll dem Patienten die Anatomie und Physiologie des auditorischen Systems, die Verarbeitung von akustischen Informationen und Signalen im Gehirn, die Funktion der Wahrnehmung und Nichtwahrnehmung von Geräuschen, die subjektive Bewertung von Gehörtem sowie die Verknüpfung akustischer Information mit emotionalen und vegetativen Reaktionen und das Prinzip von konditionierten Reflexen in bezug auf den Tinnitus erklärt werden. In Abhängigkeit von der individuellen Situation werden das weitere therapeutische Vorgehen, insbesondere die Anwendung von Tinnitusmaskern, Hörgeräten, die Notwendigkeit von Streßreduktion und Entspannungsmaßnahmen, die Notwendigkeit der Abklärung und Behandlung von Störungen der HWS und des Kiefergelenks(2, 3) sowie die Rolle von Medikamenten erörtert. Technische Versorgung, akustische Defokussierung
Zur akustischen Defokussierung des Tinnitus werden nicht zwangsläufig bestimmte Geräte verwendet. Dem Prinzip folgend, daß der Betroffene jetzt nicht die Stille suchen, sondern sie vermeiden muß, um eine Habituation zu erreichen, gelten zunächst einmal allgemeine Ratschläge wie das Hören von Natur- und Umgebungsgeräuschen, leiser Hintergrundmusik, das Aufstellen von Zimmerspringbrunnen oder ähnlichem.
Beim Vorliegen einer Schwerhörigkeit steht die Versorgung mit einem Hörgerät an erster Stelle, um dadurch die erworbene Stille zu minimieren. Liegt keine Schwerhörigkeit vor, werden für eine effektive akustische Defokussierung des Tinnitus Geräte empfohlen, die ein konstantes leises Breitbandrauschen produzieren. Diese Geräte sind hierzulande als sogenannte Tinnitusmasker im Handel und durch HNO-Ärzte verordnungsfähig. Sie werden im Sinne der Retrainingtherapie aber nur zur Teilmaskierung verwendet. Das produzierte Rauschen wird leiser eingestellt als der Tinnitus ist. Die Tragedauer richtet sich nach der privaten und beruflichen Situation und dem Vorhandensein einer Hyperakusis.
Befundkontrolle Um den Erfolg der Therapie zu gewährleisten, ist eine regelmäßige Beratung notwendig. Diese sollte spätestens drei bis sechs Wochen nach der ersten Sitzung und dann nach drei, sechs, zwölf und 18 Monaten erfolgen. Sie orientiert sich inhaltlich an dem oben genannten Beratungsgespräch.
Diskussion Seit der erstmaligen internationalen Vorstellung der Konzepte auf dem Tinnitusweltkongress 1995 in Portland,
ist die Tinnitusretrainingtherapie auch im deutschsprachigen Raum aktuell geworden. Transformiert durch verschiedene Veröffentlichungen (5, 23) zeigte sich rasch eine Akzeptanz für die klaren Konzepte der Behandlung des chronischen Tinnitus. Das Bestechende an den Therapiekonzepten ist die Anwendung eines neurophysiologischen Modells, das sowohl dem Betroffenen, als auch dem Mediziner, speziell dem HNO-Arzt, einen gut verständlichen Einblick in die Verarbeitungs- und Bewältigungsprozesse eines chronischen Tinnitus ermöglicht. Der Fokus bei der Behandlung des chronischen Tinnitus liegt nunmehr nicht auf einer Beseitigung des Tinnitus durch eine medikamentöse Therapie, sondern auf der Bewältigung des Tinnitusproblemes mit Hilfe einer akustischen und emotionalen Defokussierung. Dies gelingt durch die entsprechenden Erklärungen der Signalverarbeitung im akustischen System und der Anwendung von Geräten, die ein möglichst breitbandiges (= viele Frequenzen enthaltendes) Rauschen abgeben. In der Tat ist es bei richtiger Indikation mit diesen beiden Maßnahmen möglich, das Ziel der Therapie, nämlich ein Leben mit dem Tinnitus zu erreichen (4, 20).
Die Anwendung von Modellen zur Erklärung des Symptoms Tinnitus bei Patienten ist nicht neu (10). Es existieren schon länger medizinisch-wissenschaftliche (zum Beispiel 3, 7, 27, 33, 36) und psychologischverhaltenstherapeutische Modelle (zum Beispiel 14, 15, 24), welche die ursächlichen Faktoren und die zentralen Verarbeitungsprozesse eines Ohrgeräusches informativ vermitteln können. Die Problematik bestand bislang darin, daß diese Modelle wenig zur Anwendung kamen. Sie sind einerseits didaktisch sehr wissenschaftlich aufbereitet und stehen deshalb nicht der Basis der medizinischen Versorgung zur Verfügung. Andererseits sind manche sehr psychologisch orientiert, weshalb sie nur eine schmale Therapeutengruppe nutzen kann. Jastreboff (20) konnte mit seinem Modell die Lücke zwischen der wissenschaftlichen Theorie und der praktischen Anwendung schließen. Dennoch ergeben sich bei der Umsetzung im deutschsprachigen Raum einige Probleme: Es besteht die Gefahr, daß die Retrainingtherapie auf die Anwendung bestimmter Geräte reduziert wird und die wichtigeren Maßnahmen der Beratung und die Diagnostik der Begleitsymptome vernachlässigt werden. Man beobachtet gerade in Deutschland einen Mißbrauch unter dem Aspekt des wirtschaftlichen Gewinns durch den Verkauf der Geräte.
Der hohe Zeitaufwand für die Beratung wird nach geltender kassenärztlicher Vergütung nicht ausreichend finanziert, so daß eine Anwendung in der normalen Sprechstunde nicht möglich ist. Andererseits ist eine alleinige psychologische oder psychotherapeutische Intervention nicht angezeigt, da Tinnituspatienten sehr an einer somatischen, das heißt HNO-ärztlichen Mitbetreuung hängen, die auch immer indiziert ist. Die von Jastreboff aufgezeigten neurophysiologischen Möglichkeiten sind nach seinen Darstellungen aus heutiger Sicht unzureichend. Die Erfahrungen mit der Maskierung und Teilmaskierung (7, 30) und die Differenzierung von verschiedenen Tinnitusarten (27, 33, 36) müssen auch beim chronischen Tinnitus berücksichtigt werden, da sich im Einzelfall spezifische medizinische Maßnahmen indizieren lassen. Darüber hinaus zeigt sein Konzept auch Lücken im psychologischen Bereich: Er beschreibt zwar die Notwendigkeit der Erhebung eines "psychologischen Profils" und traut sich zu, die subjektive Belastung durch den Tinnitus zu interpretieren, verzichtet aber gänzlich auf die Konsultation der hierfür ausgebildeten Berufsgruppe, der ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten. Es darf nicht übersehen werden, daß die Diagnostik von psychischen Störungen, die Evaluierung einer Komorbidität im psychischen Bereich, die Messung der emotionalen und kognitiven Belastung durch Tinnitus und auch die Therapieverfahren zur Tinnitusbewältigung hierzulande wissenschaftlich exakt evaluiert sind und für die Diagnostik und Therapie zur Verfügung stehen.
So ergeben sich eine Reihe von Problemen, die bei der Umsetzung im deutschsprachigen Raum berücksichtigt werden müssen. Eine Arbeitsgruppe der ADANO (Arbeitsgemeinschaft deutschsprachiger Audiologen und Neurootologen), ein wissenschaftliches Gremium der deutschen Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie, befaßt sich mit dieser Thematik und versucht, durch entsprechende Regelungen, die Anwendung dieser therapeutischen Konzepte im deutschsprachigen Raum sinnvoll zu ermöglichen. Die Antwort auf drohende Kompetenzprobleme hierzulande ist nicht eine Abgrenzung und Konfrontation, sondern die Bildung von Behandlungsteams, bestehend aus HNO-Arzt als primäre Anlaufstelle für den Patienten, dem Hörgeräteakustiker zur Geräteversorgung und im Bedarfsfall eines speziell in der Tinnitustherapie ausgebildeten Psychologen zur Diagnostik von Komorbiditäten und folgend in der Therapie die Integration von ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten.
Umsetzung In den Sprechstunden der HNO-Praxen und -Kliniken wird eine Indikation zur Therapie bei Tinnituspatienten in Abhängigkeit vom Belastungsgrad gesucht (4). Dieser wird an klinischen Parametern gemessen (Textkästen: Tinnitusbelastung und Behandlungsmaßnahmen). Eine solche Einteilung ermöglicht ein pragmatisches Vorgehen. Weitere Hilfsmittel sind evaluierte Fragebögen zur Diagnostik der Tinnitusbelastung (11, 9, 13). In der Sprechstunde der HNO-Ärzte bieten diese Fragebögen ein Screeningverfahren zur Feststellung der psychischen und somatischen Belastung. In der Hand der Psychologen und Psychotherapeuten ist in der Folge eine exaktere Differenzierung möglich. Hält man sich nur an das Konzept der klassischen Retrainingtherapie, so ist eine Behandlungsindikation bei leichter betroffenen Fällen (Grad II und teilweise Grad III) gegeben. Bei Grad III der Tinnitusbelastung ist zumindest eine psychologische Diagnostik indiziert, die eine Komorbidität im psychischen Bereich ausschließen und gegebenenfalls die einzuschlagenden psychotherapeutischen Behandlungsperspektiven aufzeigen muß. In idealer Weise wird dies realisiert, indem nach einer medizinischen Diagnostik eine zirka fünfstündige psychologische Diagnostik erfolgt (in Anlehnung an die fünf probatorischen psychotherapeutischen Sitzungen). Anschließend soll eine sogenannte Tinnituskonferenz, von Patient, HNO-Arzt und Psychologen stattfinden (Grafik 3). Der Vorteil einer solchen Konferenz ist, daß die subjektiven Krankheitstheorien, die medizinischen und die psychologischen diagnostischen Ergebnisse zusammengetragen und auf ein gemeinsames therapeutisches Ziel konzentriert werden können. Dieses aus der Diskussion um die Tinnitusretrainingtherapie gewachsene Modell ist eines der wertvollsten Ergebnisse, das diversen Fachdisziplinen im Umgang mit der Bewältigung von chronischen Krankheiten und Beschwerden ein Beispiel geben könnte. Resümee
Das Zusammenwirken von HNO-Ärzten mit Verhaltenstherapeuten ist die Grundlage des hier vorgestellten Konzeptes, das somit über die Prinzipien des Retrainingkonzeptes hinausgeht. In der Folge der Auseinandersetzung mit der Retrainingtherapie wurden in Deutschland dringend notwendige interdisziplinäre Diagnostik- und Therapieansätze initiiert. In Zukunft steht damit eine neue Kompetenz in der Behandlung von Patienten mit chronischem Tinnitus zur Verfügung. Da wir in Deutschland im Gegensatz zu den USA dank unseres immer noch effizienten Gesundheitssystems die Möglichkeit haben, eine Therapie des akuten Ohrgeräusches durchzuführen, kommt den Konzepten weitere große Bedeutung zu: das Prinzip der Defokussierung vom Ohrgeräusch ist von der ersten Stunde des Auftretens (gegebenenfalls einschließlich der passageren Anwendung von Tinnitusmaskern zur Teilmaskierung) schon während der medizinischen Beseitigungsbehandlung notwendig und sinnvoll, um eine Chronifizierung zu verhindern. Die entpathologisierende Beratung mit der Aufklärung der Patienten über die akustischen Verarbeitungsprozesse sowie der sichere Ausschluß einer körperlichen Erkrankung sind die weiteren entscheidenden Maßnahmen. Dieses Vorgehen wird in Zukunft wahrscheinlich ein wichtiger Faktor sein, um die Zunahme von Tinnituskranken zu verhindern und einer Pathologisierung durch die Medien und sogenannte Therapeuten entgegenwirken zu können. Die Erfahrungen mit einem so strukturierten Vorgehen lassen es sinnvoll erscheinen, die Verhandlungen mit den Kostenträgern über eine entsprechende Vergütung für die ausgebildeten Fachleute zu führen.


Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1999; 96: A-2817-2825
[Heft 44]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über die Internetseiten (unter http://www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.


Anschrift für die Verfasser
Dr. med. Eberhard Biesinger
Hals-Nasen-Ohrenarzt
Maxplatz 5
83278 Traustein


Das neurophysiologische Modell nach Jastreboff (19)

PStaging der Tinnitusbelastung (4)
Grad I Der Tinnitus ist gut kompensiert, es besteht kein Leidensdruck.
Grad II Der Tinnitus tritt hauptsächlich in Stille in Erscheinung und wirkt störend bei Streß und Belastungen.
Grad III Der Tinnitus führt zu einer dauernden Beeinträchtigung im privaten und beruflichen Bereich. Es treten Störungen im emotionalen, kognitiven und körperlichen Bereich auf. Grad IV Der Tinnitus führt zur völligen Dekompensation im privaten und beruflichen Bereich und drohender Berufsunfähigkeit.

Indikation der Behandlungsmaßnahmen entsprechend dem individuellen Belastungsgrad (4)
Grad I Keine Therapie, aus Retrainingtherapie: Counseling.
Grad II Beratung über entspannende Maßnahmen, Streßreduktion (Tinnitus als Belastungsbarometer). Retrainingtherapie. Eventuell: psychologische Diagnostik und Beratung, Focus: "Streßanalyse".
Grad III Psychologische Diagnostik und ambulante Therapie, systematische Entspannungsmaßnahmen (zum Beispiel autogenes Training, Muskelrelaxation nach Jacobson), Retrainingtherapie.
Grad IV Zunächst stationäre Behandlung unter verhaltenstherapeutischen Gesichtspunkten. Danach Wiedereingliederung und weitere ambulante Betreuung entsprechend Grad III.


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