MEDIZIN: Die Übersicht
Die Bedeutung der Retrainingtherapie bei Tinnitus
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Schlüsselwörter: Retraining, Tinnitus, Psychologie, HNO, Habituation
Retraining Therapy in the Treatment of Tinnitus
Tinnitus retraining therapy introduced by Jastreboff (USA) and Hazell (UK) is a new therapeutic approach for
patients with tinnitus. The main aspect of this method is counseling on the mechanisms of central habituation as
well as the application of noice generators for acoustic defocusing. However, patients with severe tinnitus need
complemental psychological diagnosis and treatment. Therapy of severe tinnitus therefore requires a teamwork
between ENT-doctors and psychologists.
Key words: Retraining, tinnitus, psychology, ENT, habituation
Parallel zu der Zunahme der Schwerhörigkeit nimmt auch die Prävalenz und Inzidenz von Tinnitus
besorgniserregend zu. Epidemiologische Untersuchungen aus Großbritannien (6), Schweden
(1, 2) und den USA (26, 28) zeigen, daß zirka 35 bis 45 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in den
Industriegesellschaften zu irgendeinem Zeitpunkt Ohrgeräusche wahrgenommen haben. Acht Prozent der
Befragten fühlten sich leicht, 0,5 bis ein Prozent erheblich bis schwer beeinträchtigt. Wie Untersuchungen zur
Komorbidität belegen (8, 12 16), klagen die Betroffenen häufig über Konzentrations- und Schlafstörungen, über
Müdigkeit, Reizbarkeit, Angst, Depression und Hörbeeinträchtigungen. Das Gefühl den Ohrgeräuschen hilflos
gegenüber zu stehen, die "Unsichtbarkeit" und mangelnde Akzeptanz durch andere sowie die häufigen
Mißerfolge verschiedener Therapien erhöhen den Leidensdruck.
Neuere epidemiologische Daten, vor allem aus dem deutschsprachigen Raum fehlen, aber die Bedeutung des
Symptoms in den HNO-Praxen und Kliniken nimmt zu: vielleicht als Ausdruck unserer "akustischen
Umweltverschmutzung" (34, 35)? Eine Ursache ist aber auch in einer Pathologisierung des Symptoms in der
Laienpresse und den Medien zu suchen, oft verbunden mit unseriösen Heilungsversprechen mancher
"Therapeuten".
Mit Hilfe der in den USA und England durch Jastreboff und Hazell (19) propagierten sogenannten
Retrainingtherapie besteht die Möglichkeit, den Patienten anschaulich genau dieses Problem der Fokussierung
auf das Signal des Tinnitus und die Möglichkeiten des Abtrainierens zu erklären: während beim akuten Tinnitus
medizinische Maßnahmen im Vordergrund stehen, die auf eine Beseitigung des Tinnitus abzielen, besteht das
Behandlungsziel beim chronischen Tinnitus (über sechs Monate) in der Bewältigung der Ohrgeräusche und der
damit verbundenen Beeinträchtigungen. Voraussetzung dafür ist die exakte HNO-ärztliche
Abklärung des Symptoms und der Ausschluß einer organischen Ursache. Bewältigungsstrategien für Tinnitus
sind bislang hauptsächlich durch verhaltenstherapeutisch ausgebildete Berufsgruppen vermittelt worden. Nun
eröffnen die Gedanken und Modelle der Retrainingtherapie auch den Organmedizinern, insbesondere den HNOÄrzten, die Möglichkeit, den Patienten zumindest die Prinzipien von Habituation und Adaptation an ein
Ohrgeräusch zu erklären. Bei leichter betroffenen Patienten wird dies meist ausreichend sein, bei schweren
Fällen wird hieraus die Motivation für psychologische Therapien leichter erreichbar.
Im folgenden werden die Prinzipien dieser Retrainingtherapie dargestellt und die Problematik der Umsetzung im
deutschsprachigen Raum, einschließlich der sich ergebenden berufspolitischen Konflikte diskutiert.
Das neurophysiologische Modell
Das neurophysiologische Tinnitusmodell beruht zum Teil auf tierexperimentellen Untersuchungen an Ratten mit
einem durch Salizylsäure induzierten Tinnitus (17, 18, 19, 20, 21, 22, 31, 32). Diese Untersuchungen zeigen, daß
auch der peripher entstandene Tinnitus (zum Beispiel durch Lärmeinwirkung in der Cochlea) spezifische
funktionelle Veränderungen subkortikal und kortikal nach sich zieht.
Jastreboff beschreibt in seinen Arbeiten eine tinnitusspezifische, neuronale Aktivität (tinnitus related activity) im
Kortex und limbischen System, die zu einer emotionalen Störung, vegetativer Beeinträchtigung und damit zu
einer entsprechenden Belästigung durch das Ohrgeräusch führt: Das akustische System produziert ein Signal
(den Tinnitus), das seine klinische Bedeutung erst durch die Aktivierung des limbischen und vegetativen
Systems mit Provokation negativer emotionaler und vegetativer Reaktionen erreicht. Die Dynamik dieser
Prozesse verdeutlichen uns die Patienten täglich: ein zunächst als harmlose "Grille" interpretiertes und damit
überhörbares Geräusch wird, sobald erkannt wird, daß es aus dem Körper kommt, als pathologisches Signal
bewertet und dann katastrophisiert (Grafik 1). Es resultiert der Teufelskreis des Tinnitus (Grafik 2) mit
entsprechender Komorbidität.
Dem Phantomschmerz entsprechend, können zentrale Repräsentationen von peripher entstandenen sensorischen
Wahrnehmungen weiter bestehen, auch wenn die periphere Ursache nicht mehr existiert, das heißt ein akuter
Tinnitus, der durch ein Lärmtrauma des Innenohres entstanden ist, kann durch plastische Prozesse zentralisieren
und chronifizieren.
Wesentliche Bedeutung hat die Überlegung, daß die zentralen Bewertungs- und Verarbeitungsprozesse eines
Ohrgeräusches unabhängig vom Ort seines Entstehens (kochleär = peripher oder zentral) und ihrer subjektiven
Lautheit betrachtet werden müssen.
Es besteht deshalb keine Korrelation zwischen der (subjektiv) meßbaren Lautheit des Ohrgeräusches und der
Belastung. Audiologische Daten über die subjektive Lautstärke, Frequenz und so weiter lassen also keine
Rückschlüsse auf die psychische Beeinträchtigung zu: Patienten mit "leisem" Ohrgeräusch leiden mitunter mehr
als Patienten mit audiologisch "laut" meßbarem Ohrgeräusch (29).
Verschiedene kortikale und subkortikale Areale haben direkte Verbindungen zum auditorischen System und
können die bewußte Wahrnehmung des Ohrgeräusches beeinflussen. Insbesondere bei negativ besetzter
Fokussierung auf das Ohrgeräusch kommt es zu einer subjektiven Verstärkung. Dagegen führt eine Habituation
(Gewöhnung) zu einer Abschwächung.
Neurophysiologische Aspekte lassen vermuten, daß der kortikale Erkennungsprozeß des chronisch bestehenden
Signals reversibel ist, wenn das Hörorgan über längere Zeit mit "weißem Rauschen" geringer Intensität
stimuliert wird (18, 30). Diese Erkenntnis bildet die Grundlage der Geräteversorgung.
Ziel der Retrainingtherapie aber auch aller anderen Tinnitusbewältigungskonzepte ist es, die negative
Bewertung dieses Signals und die Fokussierung darauf zu beenden. Der Betroffene lernt, mit seinem
Ohrgeräusch zu leben und es zu überhören. Wenn eine Gewöhnung bezüglich der Wahrnehmung (Perzeption des
Ohrgeräusches) erreicht ist, wird das Ohrgeräusch immer weniger bewußt werden.
Insgesamt verliert der Tinnitus seinen Einfluß auf das Leben des Patienten.
Prinzipien der Retrainingtherapie
Die Prinzipien der Retrainingtherapie beruhen auf zwei Säulen: dem sogenannten Counseling, das heißt einer
symptomorientierten Beratung und individuell einer technischen Versorgung mit Tinnitusmaskern zur
Teilmaskierung des Ohrgeräusches oder mit Hörgeräten beim schwerhörigen Patienten (22).
Das therapeutische Vorgehen ist in vier Abschnitte strukturiert: der Befundaufnahme und Anamnese, der
symptombezogenen Beratung (sogenanntes Counseling), der technischen Versorgung, der Befundkontrolle mit
weiterer Beratung.
Anamnese und Befunderhebung
In der Erstkonsultation soll die Abklärung der mit dem Ohrgeräusch verknüpften Ängsten, negativen
Assoziationen sowie das Vorhandensein von Hyperakusis und Hörproblemen erfolgen. Ferner soll der Einfluß
von Tinnitus, Hyperakusis und einer eventuell vorhandenen Schwerhörigkeit auf das Leben des Patienten
untersucht werden. Verknüpft mit der Erstkonsultation des Patienten werden die wichtigsten audiologischen
Daten erhoben, bestehend aus dem Audiogramm, der Messung der Unbehaglichkeitsschwelle, der
Tinnitusbestimmung und den otoakustischen Emissionen. Sofern erforderlich, erfolgen weitergehende
Untersuchungen zur Abklärung spezifischer otologischer und nichtotologischer Krankheitsbilder (25).
Das Beratungsgespräch
Für das erste Beratungsgespräch kann eine Dauer von einer Stunde notwendig sein. Als Grundlage zur
Informationsvermittlung dient das neurophysiologische Modell. Insbesondere soll dem Patienten die Anatomie
und Physiologie des auditorischen Systems, die Verarbeitung von akustischen Informationen und Signalen im
Gehirn, die Funktion der Wahrnehmung und Nichtwahrnehmung von Geräuschen, die subjektive Bewertung von
Gehörtem sowie die Verknüpfung akustischer Information mit emotionalen und vegetativen Reaktionen und das
Prinzip von konditionierten Reflexen in bezug auf den Tinnitus erklärt werden. In Abhängigkeit von der
individuellen Situation werden das weitere therapeutische Vorgehen, insbesondere die Anwendung von
Tinnitusmaskern, Hörgeräten, die Notwendigkeit von Streßreduktion und Entspannungsmaßnahmen, die
Notwendigkeit der Abklärung und Behandlung von Störungen der HWS und des Kiefergelenks(2, 3) sowie die
Rolle von Medikamenten erörtert.
Technische Versorgung, akustische Defokussierung
Zur akustischen Defokussierung des Tinnitus werden nicht zwangsläufig bestimmte Geräte verwendet. Dem
Prinzip folgend, daß der Betroffene jetzt nicht die Stille suchen, sondern sie vermeiden muß, um eine
Habituation zu erreichen, gelten zunächst einmal allgemeine Ratschläge wie das Hören von Natur- und
Umgebungsgeräuschen, leiser Hintergrundmusik, das Aufstellen von Zimmerspringbrunnen oder ähnlichem.
Beim Vorliegen einer Schwerhörigkeit steht die Versorgung mit einem Hörgerät an erster Stelle, um dadurch die
erworbene Stille zu minimieren. Liegt keine Schwerhörigkeit vor, werden für eine effektive akustische
Defokussierung des Tinnitus Geräte empfohlen, die ein konstantes leises Breitbandrauschen produzieren. Diese
Geräte sind hierzulande als sogenannte Tinnitusmasker im Handel und durch HNO-Ärzte verordnungsfähig. Sie
werden im Sinne der Retrainingtherapie aber nur zur Teilmaskierung verwendet. Das produzierte Rauschen wird
leiser eingestellt als der Tinnitus ist. Die Tragedauer richtet sich nach der privaten und beruflichen Situation und
dem Vorhandensein einer Hyperakusis.
Befundkontrolle
Um den Erfolg der Therapie zu gewährleisten, ist eine regelmäßige Beratung notwendig. Diese sollte spätestens
drei bis sechs Wochen nach der ersten Sitzung und dann nach drei, sechs, zwölf und 18 Monaten erfolgen. Sie
orientiert sich inhaltlich an dem oben genannten Beratungsgespräch.
Diskussion
Seit der erstmaligen internationalen Vorstellung der Konzepte auf dem Tinnitusweltkongress 1995 in Portland,
ist die Tinnitusretrainingtherapie auch im deutschsprachigen Raum aktuell geworden. Transformiert durch
verschiedene Veröffentlichungen (5, 23) zeigte sich rasch eine Akzeptanz für die klaren Konzepte der
Behandlung des chronischen Tinnitus.
Das Bestechende an den Therapiekonzepten ist die Anwendung eines neurophysiologischen Modells, das sowohl
dem Betroffenen, als auch dem Mediziner, speziell dem HNO-Arzt, einen gut verständlichen Einblick in die
Verarbeitungs- und Bewältigungsprozesse eines chronischen Tinnitus ermöglicht. Der Fokus bei der Behandlung
des chronischen Tinnitus liegt nunmehr nicht auf einer Beseitigung des Tinnitus durch eine medikamentöse
Therapie, sondern auf der Bewältigung des Tinnitusproblemes mit Hilfe einer akustischen und emotionalen
Defokussierung. Dies gelingt durch die entsprechenden Erklärungen der Signalverarbeitung im akustischen
System und der Anwendung von Geräten, die ein möglichst breitbandiges (= viele Frequenzen enthaltendes)
Rauschen abgeben. In der Tat ist es bei richtiger Indikation mit diesen beiden Maßnahmen möglich, das Ziel der
Therapie, nämlich ein Leben mit dem Tinnitus zu erreichen (4, 20).
Die Anwendung von Modellen zur Erklärung des Symptoms Tinnitus bei Patienten ist nicht neu (10). Es
existieren schon länger medizinisch-wissenschaftliche (zum Beispiel 3, 7, 27, 33, 36) und psychologischverhaltenstherapeutische Modelle (zum Beispiel 14, 15, 24), welche die ursächlichen Faktoren und die zentralen
Verarbeitungsprozesse eines Ohrgeräusches informativ vermitteln können. Die Problematik bestand bislang
darin, daß diese Modelle wenig zur Anwendung kamen. Sie sind einerseits didaktisch sehr wissenschaftlich
aufbereitet und stehen deshalb nicht der Basis der medizinischen Versorgung zur Verfügung. Andererseits sind
manche sehr psychologisch orientiert, weshalb sie nur eine schmale Therapeutengruppe nutzen kann.
Jastreboff (20) konnte mit seinem Modell die Lücke zwischen der wissenschaftlichen Theorie und der
praktischen Anwendung schließen. Dennoch ergeben sich bei der Umsetzung im deutschsprachigen Raum
einige Probleme: Es besteht die Gefahr, daß die Retrainingtherapie auf die Anwendung bestimmter Geräte
reduziert wird und die wichtigeren Maßnahmen der Beratung und die Diagnostik der Begleitsymptome
vernachlässigt werden. Man beobachtet gerade in Deutschland einen Mißbrauch unter dem Aspekt des
wirtschaftlichen Gewinns durch den Verkauf der Geräte.
Der hohe Zeitaufwand für die Beratung wird nach geltender kassenärztlicher Vergütung nicht ausreichend
finanziert, so daß eine Anwendung in der normalen Sprechstunde nicht möglich ist. Andererseits ist eine
alleinige psychologische oder psychotherapeutische Intervention nicht angezeigt, da Tinnituspatienten sehr an
einer somatischen, das heißt HNO-ärztlichen Mitbetreuung hängen, die auch immer indiziert ist. Die von
Jastreboff aufgezeigten neurophysiologischen Möglichkeiten sind nach seinen Darstellungen aus heutiger Sicht
unzureichend. Die Erfahrungen mit der Maskierung und Teilmaskierung (7, 30) und die Differenzierung von
verschiedenen Tinnitusarten (27, 33, 36) müssen auch beim chronischen Tinnitus berücksichtigt werden, da sich
im Einzelfall spezifische medizinische Maßnahmen indizieren lassen. Darüber hinaus zeigt sein Konzept auch
Lücken im psychologischen Bereich: Er beschreibt zwar die Notwendigkeit der Erhebung eines
"psychologischen Profils" und traut sich zu, die subjektive Belastung durch den Tinnitus zu interpretieren,
verzichtet aber gänzlich auf die Konsultation der hierfür ausgebildeten Berufsgruppe, der ärztlichen und
psychologischen Psychotherapeuten. Es darf nicht übersehen werden, daß die Diagnostik von psychischen
Störungen, die Evaluierung einer Komorbidität im psychischen Bereich, die Messung der emotionalen und
kognitiven Belastung durch Tinnitus und auch die Therapieverfahren zur Tinnitusbewältigung hierzulande
wissenschaftlich exakt evaluiert sind und für die Diagnostik und Therapie zur Verfügung stehen.
So ergeben sich eine Reihe von Problemen, die bei der Umsetzung im deutschsprachigen Raum berücksichtigt
werden müssen. Eine Arbeitsgruppe der ADANO (Arbeitsgemeinschaft deutschsprachiger Audiologen und
Neurootologen), ein wissenschaftliches Gremium der deutschen Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und
Halschirurgie, befaßt sich mit dieser Thematik und versucht, durch entsprechende Regelungen, die Anwendung
dieser therapeutischen Konzepte im deutschsprachigen Raum sinnvoll zu ermöglichen. Die Antwort auf
drohende Kompetenzprobleme hierzulande ist nicht eine Abgrenzung und Konfrontation, sondern die Bildung
von Behandlungsteams, bestehend aus HNO-Arzt als primäre Anlaufstelle für den Patienten, dem
Hörgeräteakustiker zur Geräteversorgung und im Bedarfsfall eines speziell in der Tinnitustherapie ausgebildeten
Psychologen zur Diagnostik von Komorbiditäten und folgend in der Therapie die Integration von ärztlichen und
psychologischen Psychotherapeuten.
Umsetzung
In den Sprechstunden der HNO-Praxen und -Kliniken wird eine Indikation zur Therapie bei
Tinnituspatienten in Abhängigkeit vom Belastungsgrad gesucht (4). Dieser wird an klinischen Parametern
gemessen (Textkästen: Tinnitusbelastung und Behandlungsmaßnahmen). Eine solche Einteilung ermöglicht ein
pragmatisches Vorgehen. Weitere Hilfsmittel sind evaluierte Fragebögen zur Diagnostik der Tinnitusbelastung
(11, 9, 13). In der Sprechstunde der HNO-Ärzte bieten diese Fragebögen ein Screeningverfahren zur Feststellung
der psychischen und somatischen Belastung. In der Hand der Psychologen und Psychotherapeuten ist in der
Folge eine exaktere Differenzierung möglich. Hält man sich nur an das Konzept der klassischen
Retrainingtherapie, so ist eine Behandlungsindikation bei leichter betroffenen Fällen (Grad II und teilweise Grad
III) gegeben. Bei Grad III der Tinnitusbelastung ist zumindest eine psychologische Diagnostik indiziert, die eine
Komorbidität im psychischen Bereich ausschließen und gegebenenfalls die einzuschlagenden
psychotherapeutischen Behandlungsperspektiven aufzeigen muß. In idealer Weise wird dies realisiert, indem
nach einer medizinischen Diagnostik eine zirka fünfstündige psychologische Diagnostik erfolgt (in Anlehnung
an die fünf probatorischen psychotherapeutischen Sitzungen). Anschließend soll eine sogenannte
Tinnituskonferenz, von Patient, HNO-Arzt und Psychologen stattfinden (Grafik 3). Der Vorteil einer solchen
Konferenz ist, daß die subjektiven Krankheitstheorien, die medizinischen und die psychologischen
diagnostischen Ergebnisse zusammengetragen und auf ein gemeinsames therapeutisches Ziel konzentriert
werden können.
Dieses aus der Diskussion um die Tinnitusretrainingtherapie gewachsene Modell ist eines der wertvollsten
Ergebnisse, das diversen Fachdisziplinen im Umgang mit der Bewältigung von chronischen Krankheiten und
Beschwerden ein Beispiel geben könnte.
Resümee
Das Zusammenwirken von HNO-Ärzten mit Verhaltenstherapeuten ist die Grundlage des hier vorgestellten
Konzeptes, das somit über die Prinzipien des Retrainingkonzeptes hinausgeht. In der Folge der
Auseinandersetzung mit der Retrainingtherapie wurden in Deutschland dringend notwendige interdisziplinäre
Diagnostik- und Therapieansätze initiiert. In Zukunft steht damit eine neue Kompetenz in der Behandlung von
Patienten mit chronischem Tinnitus zur Verfügung.
Da wir in Deutschland im Gegensatz zu den USA dank unseres immer noch effizienten Gesundheitssystems die
Möglichkeit haben, eine Therapie des akuten Ohrgeräusches durchzuführen, kommt den Konzepten weitere
große Bedeutung zu: das Prinzip der Defokussierung vom Ohrgeräusch ist von der ersten Stunde des Auftretens
(gegebenenfalls einschließlich der passageren Anwendung von Tinnitusmaskern zur Teilmaskierung) schon
während der medizinischen Beseitigungsbehandlung notwendig und sinnvoll, um eine Chronifizierung zu
verhindern.
Die entpathologisierende Beratung mit der Aufklärung der Patienten über die akustischen Verarbeitungsprozesse
sowie der sichere Ausschluß einer körperlichen Erkrankung sind die weiteren entscheidenden Maßnahmen.
Dieses Vorgehen wird in Zukunft wahrscheinlich ein wichtiger Faktor sein, um die Zunahme von
Tinnituskranken zu verhindern und einer Pathologisierung durch die Medien und sogenannte Therapeuten
entgegenwirken zu können.
Die Erfahrungen mit einem so strukturierten Vorgehen lassen es sinnvoll erscheinen, die Verhandlungen mit den
Kostenträgern über eine entsprechende Vergütung für die ausgebildeten Fachleute zu führen.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1999; 96: A-2817-2825
[Heft 44]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser
und über die Internetseiten (unter http://www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.
Anschrift für die Verfasser
Dr. med. Eberhard Biesinger
Hals-Nasen-Ohrenarzt
Maxplatz 5
83278 Traustein
Das neurophysiologische Modell nach Jastreboff (19)
PStaging der Tinnitusbelastung (4)
Grad I Der Tinnitus ist gut kompensiert, es besteht kein Leidensdruck.
Grad II Der Tinnitus tritt hauptsächlich in Stille in Erscheinung und wirkt störend bei Streß und Belastungen.
Grad III Der Tinnitus führt zu einer dauernden Beeinträchtigung im privaten und beruflichen Bereich. Es treten
Störungen im emotionalen, kognitiven und körperlichen Bereich auf.
Grad IV Der Tinnitus führt zur völligen Dekompensation im privaten und beruflichen Bereich und drohender
Berufsunfähigkeit.
Indikation der Behandlungsmaßnahmen entsprechend dem individuellen Belastungsgrad (4)
Grad I Keine Therapie, aus Retrainingtherapie: Counseling.
Grad II Beratung über entspannende Maßnahmen, Streßreduktion (Tinnitus als Belastungsbarometer).
Retrainingtherapie. Eventuell: psychologische Diagnostik und Beratung, Focus: "Streßanalyse".
Grad III Psychologische Diagnostik und ambulante Therapie, systematische Entspannungsmaßnahmen (zum
Beispiel autogenes Training, Muskelrelaxation nach Jacobson), Retrainingtherapie.
Grad IV Zunächst stationäre Behandlung unter verhaltenstherapeutischen Gesichtspunkten. Danach
Wiedereingliederung und weitere ambulante Betreuung entsprechend Grad III.
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