ArchivDeutsches Ärzteblatt16/2018Telemedizin: KV erprobt die Fernbehandlung

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Telemedizin: KV erprobt die Fernbehandlung

Krüger-Brand, Heike E.

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In Baden-Württemberg hat ein Modellprojekt begonnen, das gesetzlich Krankenversicherten die telemedizinische Beratung und Behandlung ohne vorherigen persönlichen Arztkontakt ermöglicht.

Am 16. April ist unter Regie der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBaWü) ein Modellprojekt gestartet, bei dem sich erstmals gesetzlich Versicherte aus den Regionen Stuttgart und Tuttlingen telemedizinisch beraten und behandeln lassen können. Knapp 30 niedergelassene Teleärzte, vorwiegend hausärztlich tätige Internisten und Allgemeinärzte sowie Kinderärzte, nehmen an „Docdirekt“ teil und stehen hierfür montags bis freitags zwischen 9 und 19 Uhr zur Verfügung.

Callcenter übernimmt die Triage

Das Prozedere: Akut erkrankte Versicherte in den beiden Modellregionen, die ihre behandelnden Haus- oder Fachärzte nicht erreichen, können per App, online oder telefonisch mit dem Docdirekt-Callcenter der KVBaWü Kontakt aufnehmen. Dort nimmt eine speziell geschulte medizinische Fachangestellte (MFA) die Personalien auf, erfasst die Krankheitssymptome und beurteilt die Dringlichkeit. Bei einem lebensbedrohlichen Notfall schaltet sie direkt die Rettungsstelle ein. In den anderen Fällen erstellt sie ein „Ticket“, das über eine Webplattform an die Teleärzte geht. Der Arzt, der das Ticket zieht, meldet sich beim Patienten zur Abklärung des Beschwerdebildes und gibt eine Empfehlung für die Behandlung. Ist eine taggleiche persönliche Vorstellung bei einem Arzt notwendig, wird der Patient an eine dienstbereite Haus- oder Facharztpraxis weitergeleitet. Hierfür stehen etwa 20 PEP-Praxen („patientennah erreichbare Portalpraxen“) bereit, in denen Fachärzte zusätzliche Termine für akut Erkrankte bereithalten.

Das Projekt werde ohne Zweifel die Versorgungsrealität nachhaltig verändern, betonte Dr. med. Norbert Metke, Vorstandsvorsitzender der KVBaWü. Onlinesprechstunden seien in vielen Ländern längst etabliert. „Nur Deutschland hinkt hier weit hinterher.“ Zudem gebe es in Baden-Württemberg einen Ärztemangel vor allem in ländlichen Regionen, überlaufene Praxen und eine Fehlsteuerung von Patienten mit Bagatellerkrankungen in den Klinikambulanzen. Von den 55 Millionen Behandlungsfällen, die jährlich in dem Bundesland anfielen, ließen sich einige eventuell auch durch eine andere Form des Arztkontaktes als den direkten in der Sprechstunde ersetzen, so der KV-Chef.

„Es ist der Arzt, der Telemedizin durchführen muss“, begründete Metke das Engagement seiner KV. Denn nur er habe die ganzheitliche Sicht auf dem erforderlichen hochqualitativen naturwissenschaftlichen Niveau gelernt. „Nehmen wir Ärzte uns nicht der Telemedizin an, würde sich ein Markt entwickeln, in dem die Interessen von finanziell getriggerten Drittanbietern dominieren.“

Möglich wurde das Modellprojekt, weil die Landesärztekammer Baden-Württemberg Mitte 2016 ihre Berufsordnung geändert und das Fernbehandlungsverbot gelockert hat. Darauf verwies Dr. med. Johannes Fechner, der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der KVBaWü. Zuvor war die ausschließliche Behandlung über Kommunikationsnetze ohne vorherigen persönlichen Arztkontakt untersagt. Mit der wissenschaftlichen Evaluation sei das Institut für Allgemeinmedizin am Campus Lübeck beauftragt worden.

An der Finanzierung des auf zwei Jahre angelegten Projekts beteiligen sich laut Fechner die Krankenkassen in Baden-Württemberg mit jährlich 1,6 Millionen Euro. Der Telearzt erhält 25 Euro je Beratung als Honorar. Stellt sich ein Patient noch in einer PEP-Praxis vor, wird ein Fallwertzuschlag von 20 Euro zusätzlich zur normalen Abrechnung gezahlt.

Für das Projekt hat die KV in ihren Räumlichkeiten ein Callcenter mit zunächst fünf MFA eingerichtet, die die Anrufe von GKV-Versicherten aus den beiden Modellregionen entgegennehmen sollen. Potenziell umfassen diese circa 630 000 Einwohner in Stuttgart und circa 140 000 Einwohner im Raum Tuttlingen. Geplant ist Fechner zufolge ein „sanfter Start“, denn: „Wir haben keine Vorstellung, wie viele Patienten hier anrufen werden.“ Bei einer schnell wachsenden Nachfrage lasse sich das Projekt problemlos ausweiten.

Mengengerüst noch unklar

Die KV als Körperschaft des öffentlichen Rechts ist aus seiner Sicht der einzige vernünftige Träger eines telemedizinischen Callcenters, unter anderem weil sie kein Interesse an einer kommerziellen Verwertung oder Weitergabe der Daten hat. Außerdem sei die Datensicherheit in den Hochsicherheitsrechenzentren der KV gewährleistet.

Technischer Partner ist das Münchner Start-up TeleClinic. Das Unternehmen betreibt eine Gesundheitsplattform, über die Patienten deutschlandweit auf mehr als 200 Fach- und Allgemeinärzte zugreifen können. In einem weiteren Modellprojekt in Baden-Württemberg können über diese Infrastruktur seit Jahresbeginn Privatversicherte die telemedizinische Ferndiagnose in Anspruch nehmen. Anders als im GKV-Projekt werde dabei seit Kurzem das elektronische Rezept erprobt, berichtete Prof. Dr. med. Reinhard Meier, Medizinischer Direktor des Unternehmens. Heike E. Krüger-Brand

Kommentare

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Avatar #539999
klausenwächter
am Sonntag, 29. April 2018, 12:06

Neue Absatzmärkte

"Im Rahmen der Digitalisierung und Vernetzungen von Leistungsangeboten können bisher vorliegende Restriktionen und Begrenzungen bereits etablierter Angebote überwunden werden und so zu einer neuen Branchenarchitektur in bisherigen und/oder neuen Absatzmärkten führen (vgl. Schmid 2001; Shapiro/Varian 1998)."
Gersch, M.: AAL- und E-Health-Geschäftsmodelle
Technologie und Dienstleistungen im demografischen Wandel und in sich verändernden Wertschöpfungsarchitekturen. Gablerverlag 2012.
Avatar #539999
klausenwächter
am Freitag, 27. April 2018, 06:28

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