

. . . und Münchener Geldleute ihre Villen bauten. Oskar Maria Graf erzählt in „Das Leben meiner Mutter“ von den Umbrüchen in seiner bayerischen Heimat.
Der Starnberger See hieß bis 1962 Würmsee. Der alternative Name kam aber schon im 19. Jahrhundert auf. Das hat mit dem Tourismus zu tun, der von Starnberg ausging. Verantwortlich für den Touristenboom war der königliche Baurat Ulrich Himbsel. Er eröffnete 1851 die Linienschifffahrt auf dem See und sorgte mit der Bahnlinie München–Starnberg drei Jahre später für den Besucherzustrom im großen Stil. Am Ostufer, im heutigen Leoni, hatte er schon 1827 ein Landhaus gebaut und, als das für seine große Familie zu klein wurde, ein weiteres. Dem Beispiel des unternehmerischen Baurats folgten Geldleute und Hoteliers – bis heute.
Die Umbrüche in dieser vormals stillen, von Fischerei und Landwirtschaft geprägten Gegend, in die sich der bayerische König Ludwig II. im Sommer gern zurückzog, hat der Dichter Oskar Maria Graf (1894–1967) in seinem Hauptwerk, dem biografischen Roman „Das Leben meiner Mutter“ eindrücklich beschrieben. Oskar Maria Graf, kurz OMG, der Dichter, Anarchist, Pazifist, Nazigegner und Heimatfreund, gebürtig aus Berg, im Exil in New York lebend, stilisierte sich gern als bayerisches Mannsbild: trinkfest, draufgängerisch und in Lederhosen. Provozierend nannte er sich einen Provinzschriftsteller, später, nachdem ihm die Wayne State University einen doctor in humane letters verliehen hatte, gern auch mit dem Zusatz Dr. h c. Die reine Selbstironie.
Spezialist in ländlichen Sachen
Graf hielt sich selbst durchaus für einen „Spezialisten in ländlichen Sachen“, doch produzierte er große Literatur, indem er die „ländlichen Sachen“ sprachlich so verständlich wie kunstvoll verarbeitete und ins Allgemeingültige hob. Beispielhaft im „Leben der Mutter.“ Vor dem Hintergrund der großen Politik blättert Graf eine Familiengeschichte rund um die Dörfer Berg, Leoni und Aufkirchen auf. Grafs Mutter stammte von einem alteingesessenen Bauernhof. Der Vater entstammte einer bescheiden lebenden Familie von Zuwanderern und hatte sich als Bäcker selbstständig gemacht. Die Grafs waren ursprünglich wohl sogenannte Geheimprotestanten, die nach 1730 aus dem Salzburgischen ins Exil getrieben worden waren. Die meisten dieser „Salzburger Exulanten“ landeten in Preußen, viele auch in Amerika, manche blieben in Bayern hängen. So die Grafs. Sie waren katholisch geworden, doch im Herzen protestantisch geblieben. Das alles will der Kastenjakl herausgefunden haben. Dieser hieß bürgerlich Andreas Graf und war Oskars Großonkel. OMG glaubte die Geschichten des Kastenjakl gern. Ihn reizte daran wohl ein gewisser Hauch des Anarchistischen und Antiklerikalen, der auch ihn zeitlebens bewegte.
Im dörflichen Umfeld der Graf-Familie herrschte ein Nebeneinander von Bauern, Fischern und Handwerkern, daneben lebte die Parallelgesellschaft der Künstler und Wohlstandsbürger aus München, die sich vor allem in Leoni breit machte. Eine abgeschlossene Welt bildete schließlich der König mit seinem Hofstaat auf Schloss Berg. Der „Kini“ schätzte Berg, bei den Dörflern war er beliebt, seine Eigentümlichkeiten störten sie nicht. Ludwig traf sich dort oder auf der Roseninsel im See mit Cousine Elisabeth, die gegenüber in Possenhofen zu Hause war. Sissi und Ludwig – beide auf ihre Weise exaltiert, beide einsam und ihrer Umwelt fremd – verstanden sich. In Berg kam Ludwig schließlich am Abend des 12. Juni 1886, am Pfingstsonntag, zu Tode.
Wir wandern vom Bootsanleger „Berg“ – Ludwigs Schloss ist nur vom Wasser aus zu sehen – durch hohen Buchenwald Richtung Leoni und pausieren an der Votivkapelle. Ein beängstigender neoromanischer Klotz. Tief unten der See, darin ein Kreuz. Es markiert die Stelle, an der König Ludwig im Kampf mit dem Psychiater Bernhard von Gudden ertrunken sein soll. Man behauptet und bezweifelt bis heute, der König habe im Wahn Suizid begangen.
Die Toten im Bootshaus
Die Kapelle ließ Prinzregent Luitpold errichten, aus schlechtem Gewissen, wie die örtliche Legende wissen will, und man erzählt die Geschichte vom königlichen Leibfischer Jakob Lidl. Der junge Mann habe in der Nacht vom 12. auf den 13. Juni dabei geholfen, den König und von Gudden aus dem See zu ziehen. Die Toten habe er vier Stunden in seinem Bootshaus (Seestraße 11) aufbewahren müssen. Der Lidl habe „als Schweigepreis vom damaligen Prinzregenten das schöne Fischerhaus geschenkt bekommen, und er bestritt es nie“, gibt OMG die Lokallegende wider.
Von der Votivkapelle nach Leoni ist es nicht weit. Wir suchen Himbsels berühmte Landhäuser. Das ältere, ein klassizistischer Bau aus Holz, firmiert im Dorf als Hackländer-Villa, benannt nach einem einstmals bekannten Bestsellerautor. Sie gehört heute zu einem Seminarkomplex der Volkshochschule München. Gerade übt sich eine Gruppe im Jodeln, klingt anrührend. Die jüngere Himbsel-Villa (1842) hat Wilhelm von Kaulbach mit Lüftl-Malerei verziert. Das alte Seehotel hat in den 1970er-Jahren einem gestaltlosen Neubau Platz machen müssen und erinnert kaum noch an das einstige Luxushaus, in dem die Schickeria aus München abstieg.
Mit dem Seehotel und dessen Eigentümern, dem Ehepaar Strauch, und der Atmosphäre im Haus kannte Oskar Graf sich aus. Von Oskar Strauch hatte er den Vornamen, und dessen Frau Anna war seine Patentante. Die Strauchs seien „feine Leute“ gewesen, erinnert sich OMG, „die es nicht gerne sahen, wenn Bauern und sonstige Einheimische ihr Hotel besuchten“. Nur „der Bäcker Maxl“ (sein Vater) sei beliebt gewesen und diesem „schmeichelte, dass sich die beiden Hotel-Eheleute zu ihm herabließen“.
Den Rückweg nehmen wir am Hang, hoch über dem See. Zunächst machen wir halt beim Dorfplatz von Berg. Hier steht die frühere „Bäckerei, Melberei und Kolonialwarenhandlung von Theres und Max Graf“, wo Oskar geboren wurde und von wo er mit 17 ausriss, weil er es nicht mehr ertrug, von seinem großen Bruder Max schikaniert und verprügelt zu werden. Die Bäckerei wurde zu einer Gastwirtschaft namens Graf-Stüberl umgebaut. Die Wände sind bepflastert mit Fotos, die zumeist OMG zeigen, häufig in Lederhosen. Aber natürlich auch die Mutter. Theres Graf wurde 77 und starb 1937. Ein Jahr nach ihrem Tod schloss Oskar im Exil in Brünn den ersten Teil von „Das Leben meiner Mutter“ ab, den zweiten Teil schrieb er 1940 in den USA. Das Buch erschien zunächst in englischer Übersetzung und erst 1946 auf deutsch.
Graf in Lederhose – in Bronze
Das letzte Stück unserer Graf-Tour führt über eine Lindenallee durch die voralpenländische Landschaft nach Aufkirchen. Am Ortseingang OMG mit Lederhose, alles in Bronze, in der Ortsmitte die Kirche Mariä Himmelfahrt. Grafs fromme Mutter, die im nahen Heimrath-Hof geboren wurde, suchte hier häufig Trost und Rat beim Pfarrer. Neben der Kirche die Grabstätte der Grafs. Eltern und Großeltern liegen hier, auch der Bruder Max. Er starb mit 60 Jahren nach einem wenig geglückten Leben. Eine seitlich angebrachte Platte fällt auf: Lina Graf, geb. Breitling *1889 †1947. Sie war die erste der drei Ehefrauen Oskars und die Mutter seines einzigen Kindes, Annemarie. Oskar verlässt Lina 1919 nach nur kurzer Ehe. Er setzt sein Bohème-Leben fort und betätigt sich gleichzeitig als Propagandist der Räterepublik, während Oskars Mutter Annemarie aufzieht. Die Ehe mit Lina wird erst 1944, ohne deren Wissen, in den USA geschieden, sodass OMG seine langjährige Lebensgefährtin Mirjam Sachs heiraten kann. Nach deren Tod heiratet er ein drittes Mal, Gisela Blauner. Sie überlebt OMG um 31 Jahre. Er stirbt in New York. Die Urne wird in Bogenhausen beigesetzt. Norbert Jachertz
Kommentare
Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.