MEDIZINREPORT
Erythrozyten-Transfusionen: Wie lässt sich Spenderblut optimal verwenden?


Die Infusion von Erythrozytenkonzentraten ist eine häufige, oft lebensrettende Maßnahme. Aber zu vielen Fragestellungen der Praxis ist die Datenlage unzureichend. Eine internationale Konsensuskonferenz hat versucht, die aktuelle Evidenz für die optimale Anwendung festzustellen.
Die Hämotherapie mit Blutkomponenten von Fremdspendern ist eine Gratwanderung zwischen medizinisch Notwendigem und einem ressourcensparenden Umgang mit Blutprodukten. Aber wie lässt sich das optimale Verhältnis von Nutzen, Risiko und Ressourcensparung in der Praxis ermitteln?
„Zu diesen Grundsatzfragen gibt es natürlich national und international schon Empfehlungen“, erläuterte der Hämatologe Prof. Dr. med. Erhard Seifried von der Universitätsklinik Frankfurt bei der Pressekonferenz einer Internationalen Konsensuskonferenz zu Patient Blood Management in Frankfurt am Main*. In Deutschland zum Beispiel seien die „Richtlinie Hämotherapie“ und die Querschnitts-Leitlinien der Bundesärztekammer (BÄK) zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten eine wesentliche Orientierung für Gewinnung und Anwendung von Blutprodukten (1, 2).
„Aber zu vielen praktischen Fragestellungen verändert sich die Datenlage oder es gibt Wissenslücken“, sagte Seifried, Institut für Transfusionsmedizin und Immunhämatologie der Universitätsklinik. „Ziel dieser ersten Internationalen Konsensuskonferenz war eine neutrale und wissenschaftlich fundierte Bewertung der Studienlage, die klären sollte, welche Behandlung für welchen Patienten die beste ist und aufzeigt, wo es Forschungsbedarf gibt“, sagte Seifried, Präsident der Tagung. Es werde nach der Konferenz ein Konsensuspapier geben für eine wissenschaftliche Publikation. Darin werde auch Bezug auf aktuelle Leitlinien und Empfehlungen genommen und, falls sinnvoll, gebe es Änderungsvorschläge..
Problem präoperative Anämie: jeder dritte Patient ist betroffen
In der Vorbereitungsphase wurden 1 500 Studien gesichtet, 142 wurden für die Fragestellungen als aussagekräftig bewertet und in die Diskussion einbezogen. Im Plenum stimmten die Teilnehmer über daraus abgeleitete Eckpunkte ab. Die Abstimmungen dürften Orientierung sein für die Konsensuspublikation. Es gab 3 Schwerpunkte:
- präoperative Anämie,
- Schwellenwerte, die die Gabe von Erythrozyten-Konzentraten (EK) auslösen sollten („EK-Transfusionstrigger“) und
- Implementierung von Konzepten zur sinnvollen Anwendung von EK.
Unter Patienten, die operiert werden sollen, hat international circa jeder 3. eine Anämie (perioperative Anämie; [3]). Das gelte auch für Deutschland, sagte Seifried. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert allerdings Anämie als einen Hb-Wert bei Männern < 13 g/dL und bei Frauen von < 12 g/dL. „Die WHO-Werte wurden vor 50 Jahren festgelegt aus den Daten von nur 5 Studien – daraus können wir heute keine Schlussfolgerungen mehr ziehen“, sagt Seifried.
Bisher galt, dass die präoperative Anämie ein wichtiger Risikofaktor für erhöhte Sterblichkeit und erhöhte Morbidität durch Herzinfarkt, Schlaganfall oder Niereninsuffizienz bei Operationen sei. Eine Mehrheit der Konferenzteilnehmer kam allerdings zu dem – aus Sicht von Seifried überraschenden – Ergebnis, die Studienbasis reiche nicht aus, um die präoperative Anämie zweifelsfrei mit einem erhöhten Risiko für diese Komplikationen zu assoziieren.
Trotz unzureichender Studienlage: die meisten Experten empfahlen, generell auf Anämie zu screenen und bei positivem Befund die Ursachen zu klären. Das können akute oder chronische Blutungen sein, Eisenmangel, Nierenerkrankungen oder Malignome. Das generelle therapeutische Ziel von Erythrozytentransfusionen ist dann, eine manifeste anämische Hypoxie zu vermeiden.
Bei nicht elektiven Eingriffen innerhalb von 3–4 Tagen werden anämische, erwachsene Patienten operiert und erhalten bei Bedarf EK. Es gebe keine Evidenz, dass bei präoperativer Anämie prophylaktische EK-Transfusionen einen Vorteil brächten, auch nicht bei Herzoperationen. Für elektive Eingriffe (mindestens 4 Tage bis zur Op) sei die Datenlage heterogen, schon die Definition der Anämie unterscheide sich in Studien. Die Frage, wann im Rahmen eines guten Patient Blood Management eine Eigenblutspende favorisiert wird, war nicht Thema. Eigenblutspenden machen derzeit einen geringen Teil der EK-Transfusionen aus, in Deutschland sind es 3 600–3 700 pro Jahr.
Beim Befund „Eisenmangelanämie“ sollte Eisen substituiert werden, um EK einzusparen, auch wenn die Datenlage zu klinischer Effektivität, einer guten Nutzen-Risiko-Relation und dem Einsparen von Ressourcen nicht befriedigend sei, meinten die meisten Konferenzteilnehmer. Die Eisensupplementierung in Kombination mit Substanzen, die die Erythropoese stimulieren (ESA), sei nicht generell, sondern nur bei großen orthopädischen Eingriffen zu empfehlen. Bei Patienten mit den entsprechenden Indikationen für die Operation und Hb-Werten < 13 g/dL lasse sich durch die Kombination die Zahl der Transfusionen möglicherweise vermindern, aber auch hier gebe es Forschungsbedarf: zu erwünschten und unerwünschten Langzeitwirkungen von ESA, zur Effektivität bei verschiedenen Operationsindikationen und in Abhängigkeit von der Art des Eingriffs, aber auch zur Kosteneffektivität. Und: „Auch Eisenpräparate haben potenziell Nebenwirkungen,“ kommentierte Seifried. „So können intravenöse Applikation Infektionen begünstigen und Allergien hervorrufen. ESA haben ebenfalls möglicherweise unerwünschte Effekte, sie können zum Beispiel Thrombosen begünstigen.“
Bei der Frage, ob und wenn ja wie die perioperative Anämie behandelt wird, seien viele Faktoren zu berücksichtigen: Allgemeinzustand, Begleiterkrankungen, Hämoglobinwert, Dauer der Anämie und Art der Operation, also das Gesamtbild des Patienten. „Einig sind sich die Experten, dass man Patienten ‚nicht über einen Kamm scheren‘ darf“, sagte Prof. Dr. rer. nat. Reinhard Burger, bis 2015 Vorsitzender des Arbeitskreises Blut des Bundesministeriums für Gesundheit und früherer Präsident des Robert Koch-Instituts. Burger war ein Vorsitzender im Arbeitskreis „Transfusionstrigger“ der Konsensuskonferenz.
Eine restriktive Strategie ist im Allgemeinen sicher und effektiv
Für die meisten Patienten sei ein restriktiver Hb-Schwellenwert von 7–8 g/dL als Transfusionstrigger sicher und effektiv. Diese Einschätzung entspricht vielen internationalen Empfehlungen. In den aktuellen Leitlinien der BÄK heißt es dazu: „Im Grundsatz kann unter strikter Aufrechterhaltung der Normovolämie die globale O2-Versorgung bei akutem Blutverlust bis zu einer Hämoglobinkonzentration von circa 6 g/dL (3,7 mmol/L) bzw. einem Hämatokrit von 18 % durch die physiologischen Kompensationsmechanismen (Anstieg des Herzzeitvolumens, Zunahme der O2-Extraktion, Redistribution der Durchblutung zugunsten von Herz und ZNS) ohne dauerhaften Schaden kompensiert werden (2).“
Kriterien für Effektivität, Sicherheit und unerwünschte Effekte restriktiver und liberaler Transfusionsstrategien waren in denen von der Konsensuskonferenz berücksichtigten klinischen Untersuchungen vor allem die Morbidität, zum Beispiel Infektionen oder kardiale Störungen bei restriktiver Strategie, und die Sterblichkeit, zum Beispiel die 30- oder 45-Tages-Mortalität. Ein Mehrheitsvotum für ein restriktives Transfusionsmanagement gab es
- bei kritisch Kranken ohne aktive Blutung und bei septischem Schock, ausgenommen Patienten mit akutem Koronarsyndrom, Schädelhirntrauma und zerebralen Perfusionsstörungen,
- bei orthopädisch-chirurgischen und kardialen Eingriffen (Empfehlung: Hb-Wert < 8 g/dL als Transfusionstrigger, da dieser Wert am besten untersucht sei). Bei bestimmten Patientengruppen, zum Beispiel älteren Frauen oder solchen im schlechtem Allgemeinzustand mit orthopädischen Operationen, könne auch ein höherer Schwellenwert sinnvoll sein,
- bei akuten Blutungen im oberen Gastrointestinaltrakt. Ein Grund für die höhere Inzidenz an wiederauftretenden Blutungen bei liberalem Vorgehen könne ein höherer intravasaler Druck bei größerem Flüssigkeitsvolumen sein (4).
Für andere akute Blutungen als solche im oberen Gastrointestinaltrakt gebe es keine Empfehlung, da sich hier die Bedeutung des Hb-Werts stark relativiere, die Hb-Konzentration allein sollte keine Entscheidungsbasis sein. Dazu heißt es in den Querschnittsleitlinien der BÄK: Bei aktiver Blutung und Zeichen einer Hypoxie sowie im hämorrhagischen Schock ist die rechtzeitige Transfusion von Erythrozyten lebenserhaltend. In diesen Situationen erfolgt die Entscheidung zur Erythrozytentransfusion auf Basis von hämodynamischen Parametern und Symptomen der Anämie sowie unter Berücksichtigung des stattgehabten und noch zu erwartenden Blutverlustes (2).
Akutes Koronarsyndrom: Ist die restriktive Strategie geeignet?
Betont wurde bei der Konsensuskonferenz, dass eine restriktive EK-Transfusionsstrategie für Patienten mit akutem Koronorsyndrom möglicherweise ungeeignet sei. „Es gibt Hinweise aus kleineren Studien, dass Reinfarkte bei anämischen Patienten mit Myokardinfarkt häufiger unter restriktivem Vorgehen auftreten als bei liberaler Strategie“, erläuterte Prof. Jeffrey L. Carson von der Robert Wood Johnson Medical School in New Brunswick, New Jersey. Carson hat an internationalen systematischen Reviews (4) und Cochrane-Analysen (5) über die Frage der Hb-Schwellenwerte für EK-Transfusion mitgewirkt. Zur Klärung der Frage bei Patienten mit ischämischen Erkrankungen des Herzens laufe derzeit die randomisierte, multizentrische MINT-Studie (Myocardial Ischemia and Transfusion). Untersucht wird, ob bei stationären Patienten mit der Diagnose Herzinfarkt und einem Hb-Wert < 10 g/dL eine restriktive Transfusionsstrategie mit einem Hb-Schwellenwert < 8 g/dL ohne Erhöhung von Risiken möglich ist oder die Patienten ein liberales Management benötigen (EK bei einem Hb < 10 g/dL). Bei Angina pectoris, die nicht durch medikamentöse Therapie zurückgeht, erhalten die Patienten EK unabhängig von der Randomisierung. Eine EK-Einheit von 350 mL erhöht im Allgemeinen den Hb-Wert um 1 g/dL.
Reviews und Metaanalysen zu- folge haben Patienten im Allgemeinen keine Nachteile von einer liberalen EK-Transfusionsstrategie. Unerwünschte Effekte allogener EK-Transfusionen treten bei circa 0,5–1 % der Episoden auf (4, 5).
„Vor allem die Virussicherheit ist in den letzten Jahrzehnten verbessert worden und hat ein sehr hohes Niveau“, erläuterte Prof. Dr. rer. nat. Klaus Cichutek, Präsident des Paul Ehrlich-Instituts (PEI) in Langen. Aber absolute Sicherheit gebe es natürlich auch bei Transfusionen nicht. Das Risiko, dass mit einem Blutprodukt HIV zum Beispiel übertragen wird, liegt für Deutschland nach Angaben von Seifried bei weniger als 1/4 Mio. In westlichen Ländern wird insgesamt das Risiko, sich mit einem der getesteten Viren über EK zu infizieren, auf weniger als 1/1 Mio. geschätzt (4).
„Blut sollte gezielt und optimal angewendet werden, denn es ist eine wertvolle Ressource und es geht dabei auch um den Spenderschutz“, betonte Cichutek. „Deshalb sollten Konzepte zum Patient Blood Management verstärkt weiterentwickelt und implementiert werden.“
Dass Optimierungen unter den Bedingungen des deutschen Gesundheitssystems möglich sind, belegt unter anderem eine Studie an vier deutschen Universitäten (6).
Im internationalen Vergleich hat Deutschland hohen Verbrauch
Der EK-Verbrauch/Einwohner ist in Deutschland relativ hoch (Grafik 1), was im Wesentlichen auf eine gute Versorgungsqualität ohne Altersrestriktionen zurückgeführt wird. 2016 wurden in Deutschland 3 835 048 EK freigegeben. 3,24 % (124 369 Einheiten) sind beim Hersteller verfallen und 4,21 % bei den Anwendern (152 199; [7]). Die Haltbarkeit hänge von Aufbereitung und Lagerung (2–6° C) ab und liege bei den aktuellen Zulassungen zwischen 35 und 49 Tagen, so das PEI. Nach Bestrahlung (30 Gy) sind EK bis zu 14 Tagen haltbar.
Seit einigen Jahren geht der Verbrauch zurück (Grafik 2). Ließe sich durch Weiterentwicklungen der Konservierung die Effizienz noch verbessern? Grundsätzlich sei das denkbar, so das PEI. Aber Verbesserungseffekte könne auch die weitere Optimierung der strukturellen Rahmenbedingungen für die Blutversorgung haben und den Verfall nach Freigabe reduzieren.
Dr. rer. nat. Nicola Siegmund-Schultze
* International Consensus Conference on Patient Blood Management (ICC-PBM, circa 200 Teilnehmer); Veranstaltung der American Association of Blood Banks (AAAB), der International Society of Blood Transfusion (ISBT), der Deutschen Gesellschaft für Transfusionsmedizin und Immunhämatologie (DGTI), der French Society of Blood Transfusion (SFTS), der Società Italiana di Medicina Trasfusionale e Immunoematologia (SIMTI), der European Blood Alliance (EBA) und dem Centre of Evidence-Based Practice (CEBaP).
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit2518
oder über QR-Code.
–017–0061–8 CrossRef
1. | Richtlinie zur Gewinnung von Blut und Blutbestandteilen und zur Anwendung von Blutprodukten (Richtlinie Hämotherapie). Aufgestellt gemäß §§ 12 a und 18 Transfusionsgesetz von der Bundesärztekammer im Einvernehmen mit dem Paul-Ehrlich-Institut. Gesamtnovelle 2017. |
2. | Querschnitts-Leitlinien (BÄK) zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten. 4. überarbeitete und aktualisierte Auflage 2014. http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/QLL_Haemotherapie_2014.pdf. |
3. | Meybohm P, Froessler B, Goodnough LT, et al.: Simplified international recommendations for the implementation of Patient Blood Management (SIR4PBM). Perioperative Medicine 2017; 6: 5. doi 10.1186/s13741 –017–0061–8 CrossRef |
4. | Carson JL, Triulzi DJ, Ness PM: Indications for and adverse effects of red-cell transfusion. N Engl J Med 2017; 377: 1261–72 CrossRef MEDLINE |
5. | Carson JL, Stanworth SJ, Roubinian N, et al.: Transfusion thresholds and other strategies for guiding allogeneic red blood cell transfusion (Review). Cochrane Library. Cochrane Database of Systematic Reviews 2016 CrossRef |
6. | Meybohm P, Herrmann E, Steinbicker A, et al.: Patient Blood Management is associated with a substantial reduction of red blood cell utilization and safe for patient‘s outcome: a prospective, multicenter cohort study with a noninferiority design. Ann Surg 2016; 264: 203–11 CrossRef MEDLINE |
7. | Mitteilung des Paul Ehrlich-Instituts in Langen; Daten unter: www.pei.de/tfg-21. |
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