

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit allergrößter Sorge beobachte ich einen Bedeutungsverlust unserer Profession. Wir Ärzte sind nicht mehr Bezwinger des Schicksals, Befreier von Nöten, Sieger über alle Art von Schmerzen; nein, viele Menschen haben keinerlei Respekt mehr vor unserer Kunst. Ich habe keinen Schimmer, wie es so weit kommen konnte, vielleicht hängt es mit diesen Arztportalen zusammen, in denen wir benotet werden wie Grundschüler, denen man ein so hohes Gut wie die Gesundheit auch nicht anvertrauen möchte. Vielleicht hängt es auch damit zusammen, dass wir den Halbgott in Weiß abgelegt haben und mittlerweile daherkommen wie jedefrau und jedermann.
Ach, da mag sich ein Blick zurück in Trauer einschleichen, als die Menschen noch die Koryphäen in uns erkannt haben. Früher schritten wir stolz durch die Krankenhausflure und Patientensäle der Spitale, gewandet in goldbetresste weiße Kittel, unserer herausragenden Bedeutung in Form und Sprache bewusst. Es gab Chefärzte, die sich prinzipiell nicht mit Patienten unterhielten, sondern immer die Oberschwester zwecks Vermittlung an ihrer Seite hatten: Chefarzt zu Oberschwester: „Fragen Sie ihn, ob er Stuhlgang hatte!“ Oberschwester zu Patient: „Hatten Sie Stuhlgang?“ Patient, ängstlich: „Äh, ja, Stuhlgang!“ Oberschwester: „Herr Chefarzt! Er hatte Stuhlgang!“ „Aha! Notieren Sie, Oberschwester: Stuhlgang!“
Ja, diese Anamnese war noch durchwoben von höchstem Respekt, zu meinem tiefsten Bedauern sind solche Umgangsformen heutzutage durchgefallen. Heutzutage darf man stundenlang zig Seiten lange Arztberichte studieren, um alle Aspekte einer komplexen Erkrankung zu erfassen, um dann zu hören: Ist ja nett, was Sie mir da erzählen, aber ich will erst mal wissen, was die Zweitmeinung sagt. Dass die Kollegen Zweitmeinung mehr Respekt bekommen als unsereins, darf zu bezweifeln sein, weil der Diktion nach verdinglicht.
Höchst eindrucksvoll fand ich die bittere Klage eines Patienten, dem in nächtlicher Aktion ein großer Vorderwandinfarkt rückgängig gemacht wurde. Es sei eine Schande, so erklärte er mir, dass er keinerlei Schaden an seinem Herzmuskel davongetragen hatte, denn: Das Versorgungsamt würde ihm nur 20 Prozent anerkennen, damit sei sowohl die Schwerbehinderung als auch die Erwerbsunfähigkeitsrente in weite Ferne gerückt. Wirklich ein schönes Beispiel dafür, wie weit die Egalisierung der ärztlichen Leistung vorangeschritten ist.
Das geht so nicht weiter, ich habe beschlossen: Schluss damit! Es gilt, der Herabsetzung unserer Profession, dieser Respektlosigkeit schon in der Wortwahl zu begegnen, jawohl! Wie bei meinem heutigen Patienten, der gerade aus dem Krankenhaus zurückkommt. „Herr Doktor, die haben eine Stunde lang in meinem Herzen geprockelt!“ Das heißt nicht geprockelt! Das heißt so wenig „prockeln“ wie ein Chirurg „schnippelt“ oder ein Endoskopeur „bastelt“! Sowohl der Chirurg als auch der Interventionalist setzen für den Erhalt seiner Gesundheit ihre jahrzehntelange Erfahrung, ihr unendliches Wissen, ihre herausragende Kunstfertigkeit ein! Dafür verdienen die Kollegen meinen ausdrücklichen Dank, meinen hohen Respekt, meine zutiefst empfundene Hochachtung, und er sagt ‚prockeln‘ dazu! Das geht gar nicht! Ihm ist unter Einsatz modernster Technologie und maximaler Expertise die lebensbedrohliche Durchblutungsstörung seines Herzens behoben worden! „Ja ja, ist ja gut, Sie brauchen sich nicht so aufzuregen, ich sagʼs nie wieder.“ Sag ichʼs doch: Man muss nur klar Stellung beziehen und schon klappt das mit dem Respekt. Der Patient verlässt das Sprechzimmer, draußen steht seine Frau, und er meint zu ihr: „Das war doch gut, dass die so lange geprockelt haben!“ Verdammt noch mal! Wo kriege ich auf der Stelle goldbetresste weiße Kittel und eine Oberschwester her?!
Dr. med. Thomas Böhmeke
ist niedergelassener Kardiologe in Gladbeck.