

Editorial zu drei Beiträgen zur Schätzung der attributablen Krebslast in Deutschland:
„Krebs durch Rauchen und hohen Alkoholkonsum“
„Krebs durch Übergewicht, geringe körperliche Aktivität und ungesunde Ernährung“
„Krebs durch Infektionen und ausgewählte Umweltfaktoren“
auf den folgenden Seiten
Es ist lange bekannt, dass viele Krebserkrankungen auf modifizierbare Risikofaktoren wie Rauchen, ungesunde Ernährung oder Infektionen zurückzuführen sind. Bereits 1967 gab der Engländer Sir Richard Doll ein Buch heraus, das sich ausschließlich mit solchen Risikofaktoren und der Krebsprävention befasst. Etwa 40 % der Krebstodesfälle bei Männern und 10 % bei Frauen gehen nach Doll auf beeinflussbare Risikofaktoren zurück (1).
Für Deutschland ist unbekannt, wie hoch die Anzahl der durch modifizierbare Faktoren ausgelösten Krebserkrankungen liegt. Die Antwort auf diese Frage ist für die öffentliche Gesundheit unmittelbar von Interesse, denn diese Tumoren sind, zumindest theoretisch, vermeidbar.
Vermeidbare Krankheitsfälle
Eine Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Hermann Brenner aus dem Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg ist dieser Frage jetzt nachgegangen und präsentiert eine Serie von drei Artikeln (2–4), in denen die wichtigsten modifizierbaren Risikofaktoren für Krebserkrankungen untersucht werden. Die Autoren nutzen dazu das Konzept der populationsattributablen Fraktion (PAF) für Risikofaktoren (5). Die PAF ergibt sich aus dem Verhältnis von Erkrankungsfällen, die dem Risikofaktor zugeschrieben werden können, zu allen Erkrankungsfällen in der Bevölkerung. Bei einer PAF von 100 % wären alle Erkrankungsfälle in der Bevölkerung durch diesen Risikofaktor bedingt.
Die PAF hängt wesentlich von der Zahl der risikoexponierten Personen in der Bevölkerung, dem Ausmaß der Risikoerhöhung für die Zielerkrankung durch den Risikofaktor und der Häufigkeit der Krebserkrankung in der Bevölkerung ab. Die Autoren nutzten Daten aus der Literatur zu den wichtigsten modifizierbaren Risikofaktoren und damit verbundenen Krebsformen, um die dazugehörigen PAFs und daraus die Zahl der vermeidbaren Krebserkrankungen zu bestimmen.
Für Deutschland wird damit erstmals ein systematisch erarbeitetes Zahlenwerk für die epidemiologisch wichtigsten Krebserkrankungen und deren Risikofaktoren vorgelegt. Bei 440 000 Krebsneuerkrankungen, die pro Jahr in der Altersgruppe 35–84 Jahre auftreten, sind demnach etwa 165 000 (37,4 %) den untersuchten Risikofaktoren zuzuschreiben. Von fünf Krebserkrankungen ließen sich also zwei Erkrankungsfälle verhindern.
Die PAF von 37,4 % für alle Risikofaktoren und Krebs insgesamt erscheint auf den ersten Blick unerwartet niedrig, da für Großbritannien (42,7 %) (6) und die USA (42,0 %) (7) von deutlich höheren Werten berichtet wird. Für beide Länder wurden aber zusätzliche Faktoren wie „UV-Strahlung jedes Ursprungs“ berücksichtigt. Insofern müsste die Zahl der vermeidbaren Krebserkrankungen in Deutschland noch höher sein als beschrieben.
Präventionspotenzial
In Bezug auf die Prävention sind die Zahlen mit Bedacht zu interpretieren. Sie beschreiben das maximale Präventionspotenzial unter der Annahme, dass der verantwortliche Risikofaktor komplett eliminiert wird (beziehungsweise unter den Richtwert fällt). Inwiefern das überhaupt möglich, realistisch oder erstrebenswert ist, muss für jeden Faktor einzeln diskutiert werden.
Wie wirklichkeitsnah sind eine Raucherquote von 0 %, der komplette Verzicht auf Wurstwaren oder ein normaler Body-Mass-Index für die gesamte Bevölkerung? Solche Fragen stellte bereits im Jahr 1937 Hugo Ahlbom, der Tabak, Alkohol und schlechte Ernährung als Risikofaktoren für die Krebsentstehung identifizierte (8). Er forderte den konsequenten Kampf gegen übermäßigen Konsum von Tabak und Alkohol und für eine bessere Ernährung (Zitat): „Die Schlüsse, die in Bezug auf die Karzinom-Prophylaxe gezogen werden können, sind zum größeren Teil selbstverständlich. [...] Dies enthält nichts Neues, aber die Bedeutung des Programmes wird nicht so allgemein eingesehen, wie sie sein sollte.“ Später bezeichnet er seine Vorschläge zur Prävention als „etwas utopisch“.
Sicher sind wir bei der Krebsprävention heute deutlich weiter als vor 80 Jahren, aber die Parallelen zur Vergangenheit sind überdeutlich. Die von Ahlbom genannten Risikofaktoren machen weiter den größten Teil der vermeidbaren Krebserkrankungen aus, der Stellenwert der Primärprävention ist immer noch gering und das Ziel der Null-Exposition bleibt weiter utopisch.
Prioritäten setzen
Dennoch sollten die vorgelegten Zahlen mehr als ein Gedankenexperiment sein. Die Quantifizierung von vermeidbaren Krebserkrankungen kann der Gesundheitspolitik und der Bevölkerung das Setzen von Prioritäten erleichtern. Tabakkonsum beispielsweise, mit einer PAF von knapp 20 % für Krebs insgesamt, ist immer noch der wichtigste modifizierbare Risikofaktor in Deutschland. Die Raucherprävalenz in Deutschland liegt trotz positiver Entwicklung in den letzten Jahren europaweit immer noch im oberen Mittelfeld (9). Eine Intensivierung der Maßnahmen zur Tabakprävention inklusive eines kompletten Werbeverbots für Tabakprodukte ist angesichts der Zahlen dringend erforderlich. Dies gilt umso mehr, als Rauchen weitere Erkrankungen verursacht, die nicht weniger bedeutsam sind als Krebs.
Rolle der Früherkennung
Die Publikationen von Brenner et al. (2–4) decken aber noch eine weitere Dimension auf. Die Mehrzahl aller Krebsneuerkrankungen ist der Primärprävention nicht zugänglich, weil Risikofaktoren bislang nicht bekannt oder (noch) nicht modifizierbar sind. Bei den häufigsten Krebserkrankungen, wie Brust- und Prostatakrebs, wird das Potenzial für eine Primärprävention auf Basis der Publikationen auf unter 10–20 % geschätzt. Und auch bei Darmkrebs, der zweithäufigsten Tumorerkrankung in Deutschland, ist etwa die Hälfte der Fälle nach aktuellem Wissensstand nicht vermeidbar.
Für diese Krebserkrankungen spielt die evidenzbasierte Früherkennung eine entscheidende Rolle zur populationsbasierten Reduktion von Morbidität und Mortalität.
Ausblick
Offen bleibt zum Schluss noch die Frage, ob und wie stark sich die Vermeidung von Risikofaktoren auf die Krebssterblichkeit in Deutschland auswirkt. Eine Studie aus den USA stimmt hier optimistisch. Die Krebsmortalität würde durch eine Primärprävention sogar stärker gesenkt als die Krebsinzidenz (7, 10).
Es bleibt zu hoffen, dass solche Zahlen das Bewusstsein in Sachen Prävention bei Politik und Bürgern weiter schärfen, um die künftige Krebslast so weit wie möglich zu reduzieren.
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. med. Alexander Katalinic
Universität zu Lübeck
Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie
Ratzeburger Allee 160, 23562 Lübeck
alexander.katalinic@uksh.de
Zitierweise
Katalinic A: The burden of cancer in Germany.
Dtsch Arztebl Int 2018; 115: 569–70. DOI: 10.3238/arztebl.2018.0569
►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de
Prof. Dr. med. Alexander Katalinic
1. | Doll R: The prevention of cancer. London: Nuffield Provincial Trust 1967. |
2. | Mons U, Gredner T, Behrens G, Stock C, Brenner H: Cancers due to smoking and high alcohol consumption—estimation of the attributable cancer burden in Germany. Dtsch Arztebl Int 2018; 115: 571–7 VOLLTEXT |
3. | Behrens G, Gredner T, Stock C, Leitzmann MF, Brenner H, Mons U: Cancers due to excess weight, low physical activity and unhealthy diet—estimation of the attributable cancer burden in Germany. Dtsch Arztebl Int 2018; 115: 578–85 VOLLTEXT |
4. | Gredner T, Behrens G, Stock C, Brenner H, Mons U: Cancers due to infection and selected environmental factors—estimation of the attributable cancer burden in Germany. Dtsch Arztebl Int 2018; 115: 586–93 VOLLTEXT |
5. | Miettinen OS: Proportion of disease caused or prevented by a given exposure, trait or intervention. Am J Epidemiol 1974; 99: 325–32 CrossRef |
6. | Parkin DM, Boyd L, Walker LC. 16. The fraction of cancer attributable to lifestyle and environmental factors in the UK in 2010. Br J Cancer. 2011;105 (Suppl 2): S77–81 CrossRef CrossRef CrossRef CrossRef CrossRef CrossRef CrossRef CrossRef |
7. | Islami F, Goding Sauer A, et al.: Proportion and number of cancer cases and deaths attributable to potentially modifiable risk factors in the United States. CA Cance J Clin 2018; 68: 31–54 CrossRef CrossRef MEDLINE |
8. | Ahlbom HE: Prädisponierende Faktoren für Plattenepithelkarzinom in Mund, Hals und Speiseröhre. Eine statistische Untersuchung am Material des Radiumhemmets, Stockholm. Acta Radiol 1937; 18: 163–85 CrossRef CrossRef |
9. | WHO: European tobacco control status report 2014. World Health Organization 2014; www.euro.who.int/en/health-topics/disease-prevention/tobacco/publications/2014/european-tobacco-control-status-report-2014 (last accessed on 30 July 2018). |
10. | Song M, Giovannucci E: Preventable incidence and mortality of carcinoma associated with lifestyle factors among white adults in the United States. JAMA Oncol. 2016; 2: 1154–61 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
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Global Health & Medicine, 202110.35772/ghm.2021.01002
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Der Gynäkologe, 202110.1007/s00129-020-04689-x
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Deutsches Ärzteblatt Online, 202110.3238/PersOnko.2021.03.19.06
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Global Health & Medicine, 202210.35772/ghm.2021.01037
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Der Gynäkologe, 201910.1007/s00129-019-4469-8
Kommentare
Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.am Mittwoch, 12. September 2018, 10:28
"Hätte, hätte, Fahrradkette"?
https://bmcmedicine.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12916-014-0168-4
"Combined impact of healthy lifestyle factors on colorectal cancer: a large European cohort study"
von Krasimira Aleksandrova et al.
Doch wenn alle jährlichen ca. 440.000 Krebs-Neuerkrankungsfälle bei Personen im Alter von 35 bis 84 Jahren sowie diejenigen Risikofaktoren, deren ursächlicher Zusammenhang mit der Krebsentstehung als gesichert gilt, wie Rauchen, hoher Alkoholkonsum, Übergewicht, Mangel an körperlicher Aktivität, ungesunde Ernährung, Infektionen und ausgewählte Umweltfaktoren (Radon, Feinstaub, Solarien, Passivrauchen) an der Gesamtzahl aller Krebsneuerkrankungen lediglich ex-post abgeschätzt, aber nicht kausal-verursachend belegt werden können, bleiben Fragen von Kausalität oder gar beweisende RCT-Studien offen.
Dann bedeuten die Studien von Ute Mons, Hermann Brenner et al. vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) nichts anderes als: "Hätte, hätte, Fahrradkette"?
Weil unsere Patientinnen und Patienten, die mit Krebserkrankungen als Betroffene vor uns stehen, diese kumulativ erworbenen Risikofaktoren bereits in sich tragen und aushalten mussten, bevor sich etwas ändern konnte und kann. Vor kommunikativen Fallen und interaktiven Vorwurfshaltungen sollten wir Ärztinnen und Ärzte ("hätten Sie nicht so viel geraucht, gesoffen, gefressen und im Auto gesessen, wäre das allen nicht passiert...") uns hüten: Denn bösartige Neubildungen treten auch bei völlig unbelasteten Personen auf.
Mf + kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund