THEMEN DER ZEIT
Forschungsvorausverfügungen: Noch viele offene Fragen
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Das neue Gesetz zur Verwendung von Forschungsvorausverfügungen findet unter Wissenschaftlern zwar prinzipiell Anklang, bei der praktischen Umsetzung herrschen jedoch noch Unklarheiten und ethische Bedenken. Betrachtungen aus der Demenzforschung.
Das forschungsrelevante „Vierte Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften“ ist angepasst worden. Teile davon sollen Ende dieses Jahres in Kraft treten. Diese beziehen sich auf die Verwendung von Forschungsvorausverfügungen zur Einbindung nichteinwilligungsfähiger Personen in gruppennützige Forschung. Die Gesetzänderung stieß in Deutschland nach Beschluss durch den Bundestag auf Kritik (1, 2): Menschen mit Demenz wurden als besonders relevante Gruppe identifiziert. Der Schutz für diese besonders vulnerable Gruppe würde durch dieses Gesetz nicht mehr gewährleistet sein, so die Sorge vieler.
Nichtsdestotrotz: Forschungsvorausverfügungen gehören hierzulande bald zur Realität in der klinischen Forschung. Mit der Gesetzesänderung gehört Deutschland zu den wenigen Ländern, die sich konkret mit dem neuen Instrument der Forschungsvorausverfügung auseinandersetzen müssen. Die tatsächliche Umsetzung, die praktischen Potenziale sowie auch die ethisch-rechtlichen Probleme sind noch weitgehend ungeklärt. Um eine Forschungsvorausverfügung in der Praxis anwenden zu können, muss der Arzt jedoch wissen, wie er damit umgehen soll.
Anspruch auf Teilnahme an einer Studie gibt es nicht
Um die praktischen, ethischen und rechtlichen Implikationen der Forschungsvorausverfügung differenzierter zu eruieren, haben wir mit 16 deutschen Experten aus Neurologie, Psychiatrie, Ethik, Recht und Patientenvertretung Einzel- und Gruppeninterviews durchgeführt.* Die Forschungsvorausverfügungen wurden dabei von den meisten Interviewpartnern als Instrument zur Ermöglichung der Selbstbestimmung von Patienten betrachtet, mit dem individuelle Wünsche besser berücksichtigt werden könnten. Es wurde weiter argumentiert, dass der gegenwärtige Ausschluss von Menschen mit Demenz aus der Forschung dieser Patientengruppe evidenzbasierte Behandlungen vorenthalte.
In der Diskussion wurde mehrfach betont, dass Forschungsvorausverfügungen in Kontrast zu Patientenverfügungen eher „Einwilligungs-“ als „Abwehr“-Instrumente darstellten. Daher seien sie ethisch auch anders zu bewerten. Es gäbe zwar einen ethisch-rechtlichen Anspruch auf die Ablehnung medizinischer Maßnahmen, aber eben keinen entsprechenden Anspruch auf Forschungsteilnahme. Die hohen Anforderungen an die Konkretheit, die bei Patientenverfügungen sinnvoll sind, wurden bei Forschungsvorausverfügungen hingegen infrage gestellt.
Die Reflexion unterschiedlicher Anforderungen der Forschungsvorausverfügung in Abhängigkeit von der Art der Forschung und dem Risiko war zudem ein zentrales Diskussionsthema. Es bestand ein allgemeiner Konsens darüber, dass es gut sei, Patienten und Laien über die verschiedenen Arten von Forschung, die allgemeinen Risiken und den Nutzen zu informieren und die Zusammenstellung solcher Forschungsvorausverfügungen mit Richtlinien zu unterstützen. Hier wurde auch enormer praktischer Aufklärungsbedarf gesehen. Die Bewertung und Bewilligung solcher Forschung durch ein Ethikkomitee bleibt nach wie vor eine wichtige Voraussetzung.
Schwierige Suche nach dem „richtigen“ Zeitpunkt
Die Mehrheit der Interviewpartner vertrat die Auffassung, dass Forschung mit lediglich gruppennützigem Zweck nur mit minimalem Risiko durchgeführt werden sollte. Hingegen wurde die Überlegung, ob eine Forschungsteilnahme auch mit einem erhöhten Risiko bei Einsatz einer Forschungsvorausverfügung ethisch akzeptabel sein könne, sehr kontrovers diskutiert. Die Abgrenzung von Gruppen- und Eigennutzen sei oft nicht so eindeutig, meinten viele. Uneinigkeit herrschte zudem, ob man vor Beginn einer Forschung eine „doppelte“ Einwilligung, also auch die Zustimmung eines Vertreters, einholen müsste, wenn eine eindeutige Forschungsvorausverfügung vorliege. Die Möglichkeit, sich aus der Forschung zurückzuziehen, wurde als äußerst wichtig erachtet. Wenn Probanden Anzeichen von Abwehr oder Unwillen – verbal oder nichtverbal – äußern, war unstrittig, dass eine umgehende Beendigung einer Forschungsteilnahme notwendig ist. Ob der natürliche Wille als grundlegender Orientierungsmaßstab gelten sollte, blieb jedoch unklar. Offen ist, wie ein solches Monitoring implementiert werden kann.
Wann ist der richtige Zeitpunkt für eine Forschungsvorausverfügung? Die meisten Experten verwiesen auf den Zeitpunkt der Diagnose von prodromaler Demenz und Frühdemenz. Dies sei aber von den Einstellungen der Patienten abhängig. So könnten einige kurz nach der Diagnose mit anderen Sorgen und Gedanken beschäftigt sein.
Generell argumentierten die meisten befragten Experten nicht grundsätzlich gegen das neue Gesetz. Sie lehnten die Forschung mit nichteinwilligungsfähigen Probanden prinzipiell nicht ab. Vielmehr schien es jetzt allen deutlich, dass zahlreiche konkrete Fragen zu Beratung, öffentlicher Information, möglichen Mustervorlagen von Forschungsvorausverfügungen, zur Schulung von Forschenden oder dem ethisch-rechtlichen Monitoring ungeklärt sind, aber angegangen werden müssen. Mehrere Experten wiesen auf Probleme hin, die aus konzeptuellen Unklarheiten des Gesetzes folgen: Was beinhalten minimale Risiken, wann ist Forschung eigennützig, wie ist der natürliche Wille zu bewerten und was sollte die Rolle eines Vertreters sein?
Die Gesetzesänderung wirft im deutschen Kontext neue ethische und praktische Fragen auf. Es zeigt sich, dass die Rechtsprechung ethisch-politische Auseinandersetzungen auslöst. Die Praxis der Forschungsvorausverfügung könnte daran scheitern, dass sich der Gesetzgeber über die potenziellen Implikationen der praktischen Umsetzung dieses Instruments unzureichend Gedanken gemacht hat. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit, klare Handlungs- und Interpretationsleitlinien für die praktische Implementierung von Forschungsvorausverfügungen zu entwickeln.
Der Erfahrungsaustausch mit anderen Ländern, in denen Forschungsvorausverfügungen bereits seit einiger Zeit gesetzlich erlaubt sind, könnte hilfreich sein. Allerdings scheinen auch dort bislang nur wenige Patienten die Möglichkeit einer Forschungsvorausverfügung zu nutzen (3–5).
Forschungsvorausverfügungen werden noch selten genutzt
Es bleibt also weitgehend unklar, wie und ob Betroffene motiviert werden können, eine Forschungsvorausverfügung zu verfassen. Mögliche Faktoren für das geringe Interesse kann zum einen ein mangelndes öffentliches Bewusstsein sein (6,7), oder auch Ablehnung (5, 8). Diese Faktoren bedürfen einer genaueren Untersuchung auch mit Bezug auf unseren Kulturkreis und vor dem Hintergrund der deutschen Forschungsgeschichte (9), denn sie treffen im Kern sehr unterschiedliche Problembereiche.
Bislang mangelt es an empirischen Studien, die den Einsatz von Forschungsvorausverfügungen bei Menschen mit Demenz untersuchen. Insgesamt ist wenig darüber bekannt, wie Menschen mit Demenz die Verwendung von Forschungsvorausverfügungen verstehen. Die Bundesärztekammer hat sich in ihrer aktuellen Stellungnahme zur Untersuchung eines Demenzrisikos bei symptomfreien Betroffenen und Personen mit subjektiven Beschwerden zwar zurückhaltend geäußert (10), aber auf eine allgemeine Beratungsnotwendigkeit hingewiesen. Forschungsvorausverfügungen wurden jedoch nicht konkret thematisiert. Für die praktische Umsetzung werden allerdings konkrete Stellungnahmen, die Klärung von Zuständigkeiten sowie Handlungsleitlinien erforderlich.
Dr. Karin Jongsma; Julia Perry, M.A.; Prof. Dr. rer. nat. Silke Schicktanz
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit3918
oder über QR-Code.
*Gefördert vom fakultätsinternen Forschungsförderungsprogramm, Universitätsmedizin Göttingen
Arztebl 2017; 114(11): A 520/B-451/C-441 VOLLTEXT
Risiko für die Alzheimer Krankheit, Dtsch Arztebl. 2018 DOI: 10.3238/arzt ebl.2018.sn_alzheimer01 .
1. | Korzilius H: Forschung an nichteinwilligungsfähigen: Bundestag stimmt für umstrittenes Gesetz zu klinischen Prüfungen. Dtsch Arztebl 2016; 113 (46): A-2078/B-1728/C-1712 VOLLTEXT |
2. | Jox RJ, Spickhoff A, Marckmann G: Forschung mit nicht Einwilligungsfähigen: Nach dem Gesetz ist vor dem Gesetz. Dtsch Arztebl 2017; 114(11): A 520/B-451/C-441 VOLLTEXT |
3. | Bravo G, Dubois M, Cohen C, et al.: Are Canadians providing advance directives about health care and research participation in the event of decisional incapacity? Can J Psychiatry 2011; 56(4): 209–18. |
4. | Bravo G, Trottier L, Dubois M et al.: Does promoting research advance planning in a general elderly population enhance completion of a research directive and proxies’ predictive ability? a randomized controlled trial, AJOB Empir Bioeth 2016; 7(3): 183–192. |
5. | Stocking CB, Hougham GW, Danner DD, Patterson MB, Whitehouse PJ, Sachs GA: Speaking of research advance directives: planning for future research participation. Neurology 2006; 66: 1361–6 CrossRef MEDLINE |
6. | Warner J, Nomani E: Giving consent in dementia research. Lancet 2008; 372(9634): 183–5 CrossRef |
7. | Bravo G, Dubois MF, Pâquet M: Advance directives for health care and research: prevalence and correlates. Alzheimer Dis Assoc Disord 2003; 17(4): 215–22 CrossRef |
8. | Kim SYH, Kim HM, Langa KM, Karlawish JHT, Knopman DS, Appelbaum PS: Surrogate consent for dementia research: A national survey of older Americans. Neurology 2009; 72: 149–155 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
9. | Werner P, Schicktanz S: Practical and ethical aspects of Advance Research Directives for research on healthy ageing: German and Israeli professionals’ perspectives. Front. Med. 2018 doi: 10.3389/fmed.2018.00081 CrossRef |
10. | Bundesärztekammer: Stellungnahme zum Umgang mit prädiktiven Tests auf das Risiko für die Alzheimer Krankheit, Dtsch Arztebl. 2018 DOI: 10.3238/arzt ebl.2018.sn_alzheimer01 . |