

Vor 175 Jahren brach der an Lues cerebrospinalis erkrankte Dichter aus dem Pariser Exil zu einer Reise nach Deutschland auf und schuf seine wohl bekanntesten Verse.
Denk ich an Deutschland in der Nacht …“ Mit dieser Zeile beschwört der an einer „sehr garstigen Krankheit“ leidende Heinrich Heine, von welcher er „dahingestellt sein“ lässt, „ob sie ein französisches ramollissement de la moelle épinière oder eine deutsche Rückgratschwindsucht ist“ (1), im August 1843 die Erinnerung an seine Heimat herauf. Zwölf Jahre zuvor ist er aus der spießigen deutschen Welt der Restauration und vor den Zensurbehörden nach Frankreich emigriert. Der in „Nachtgedanken“ geäußerte Wunsch, seine Mutter wiederzusehen, wird bald Wirklichkeit. Bereits im Oktober (nicht wie im Versepos „im traurigen Monate November“) bricht Heine auf kürzestem Wege nach Hamburg auf. Die Stationen der Rückreise im Dezember lässt Heine später (in umgekehrter Reihenfolge) als „Ein Wintermärchen“ Revue passieren. Vom Aachener Grenzübergang über die Stadt Köln – mit ihrem vielverspotteten halbfertigen Dom und einer imaginären Begegnung mit Vater Rhein –, Mühlheim und Hagen, wo man sich der deftigen westfälischen Küche erfreut, vorbei an den Schauplätzen von Varusschlacht und Barbarossasage im Teutoburger Wald und Münsterland über Minden, Bückeburg und Hannover bis zum satirischen Ende in Hamburg, wo die Nachttopfgerüche der Stadtgöttin Hammonia eine unangenehme Zukunft Deutschlands vorausahnen lassen.
Heines Konzeption seines „höchst humoristischen Reiseepos“ (2), eine Verknüpfung regionaler, historischer und autobiografischer Fakten mit politischen und philosophischen Betrachtungen ist nicht neu. Bereits die Literarisierung früherer Erholungsreisen bedingt durch Heines Erkrankung, die sein „Nervensystem bedenklich zerrüttet“ (3), begründete ein neues, von ihm selbst als „Mischung aus Naturschilderung, Witz, Poesie und Washington Irvingscher* Beobachtung“ (4) beschriebenes Genre – die Reisebilder.
Heilsame Gebirgsluft
„Lebet wohl, ihr glatten Säle, Auf die Berge will ich steigen, …“ (5). Ausgerüstet mit Friedrich Gottschalcks „Taschenbuch für Reisende in den Harz“, bricht der 26-jährige Göttinger Student, auf Rat seines Arztes – dass ihn „das Fußreisen wieder herstellen wird“ (6) – im Herbst 1824 ins Gebirge auf. Seine „Gesundheitsreise“ (7), wie er gegenüber Goethe kundtut, führt ihn aus der Universitätsstadt heraus über Osterode, Clausthal-Zellerfeld und Goslar, wo er den Brocken besteigt, nach Ilsenburg. Die als heilsam gepriesene Luft des Harzes, der Anblick der wiederentdeckten Natur „krampfstillend und gemütsberuhigend“ (8) sowie das für Körper und Seele förderliche Wandern verfehlen ihre therapeutische Wirkung nicht. Hiervon zeugt literarisch seine unmittelbar nach der Rückkehr begonnene Niederschrift von Impressionen und Reflexionen „im lebendigen enthusiastischen Stil“ (9), die den ersten von insgesamt vier Bänden der „Reisebilder“ einleitet.
So wie „Die Harzreise“, den Studenten endlich „wieder mal frei atme(n)“ (10) lässt, vergisst auch der vier Jahre später im Münchner Cotta-Verlag tätige Redakteur „in der hohen Bergluft“ der Apenninen „seine kleinen Sorgen und Schmerzen“ (11). Aufgrund seines angegriffenen Gesundheitszustands und der Befürchtung, dass das „Clima“ in der südbayerischen Metropole diesen „verschlimmert“ (12), bricht Heine im August 1828 zu einer fünfmonatigen Italienreise auf. Die Hoffnung seines Verlegers, dass der aus Gesundheitsgründen notwendige Italienbesuch inspirierend auf den Schriftsteller „mit seinem plastischen Blick“ (13) wirken und eine erneute Fortsetzung der „Reisebilder“ hervorbringen könnte, erfüllt sich. Die empirische „Reise von München nach Genua“, ein Ausschnitt aus der realen Route, bildet den ersten Teil des dritten Bandes (1829). Das Land nicht á la Goethe mit der Seele suchen, sondern dem Leser „auf eine neue Weise eröffnen“ (14) ist Programm. Entsprechend gilt das primäre Interesse nicht den Zeugnissen der klassischen Antike, sondern den sozialen Aspekten. Ihre topografische, literarische Fortsetzung (im selben Band) findet die Italienreise mit der Wanderung des Erzählers in „Die Stadt Lucca“. Deren geradezu märchenhaft anmutende Einleitung rezipiert zugleich den von führenden Vertretern der zeitgenössischen naturphilosophischen Medizin geprägten Diskurs über den Menschen als einer in die Natur integrierten leib-seelischen Einheit.
Mondäne Seebäder
„Warum hat Deutschland noch kein großes öffentliches Seebad?“ Georg Christoph Lichtenbergs Streitschrift im „Göttinger Taschencalender“ (1793) bleibt nicht ohne Wirkung. Nach dem Vorbild Englands entsteht 1794 das erste deutsche (Ost-)Seebad, Heiligendamm. Der von Lichtenberg propagierte Badeort „Ritzbüttel, oder eigentlich Cuxhaven“ (15) ist im Sommer 1823 die erste Rehabilitationsstätte des jungen Heine. Das 1816 in Betrieb genommene Seebad, dem durch seine „glückliche Lage zwischen zwei großen Strömen, (…) alle nur ersinnliche(n) Bedürfnisse für Gesunde und Kranke, auch mineralische Wasser leicht zugeführt werden können“ (16), „bekommt (ihm) sehr gut“ (17). Der 24-Jährige absolviert „die ganze Cour mit 36 Bädern“ (18), die seinen „Gesundheitszustand erstaunlich verbessert“ (19). Darüber hinaus ist er (einer chiffrierten Mitteilung zufolge) „von einem ärgerlichen Ausschlag“, den er sich „durch die Boyisensche Uebers. des Corans zugezogen“ hat, „kuriert“ (20). Noch in den folgenden Monaten profitiert Heine von der „Nachwirkung des Bades“ (21), was sich vor allem auf sein literarisches Schaffen auswirkt. Künftig setzt er auf eine Verbesserung seiner physischen Konstitution durch Kuren.
Im August 1825 verlässt er nach bestandener Promotion Berlin, um auf Norderney seinen invaliden Körper der bereits 1790 von Wilhelm Hufeland gepriesenen Wirkung von Meereswasser und Seeklima zu unterziehen: „an gar nichts denken und bloß des Morgens den Kopf in die schäumenden Wogen der Nordsee sorglos hineinstecken“ (22). Die Faszination des Elementaren wiederum ist es, die den Dichter in drei aufeinanderfolgenden Sommern auf die Insel zieht – „Ich liebe das Meer, wie meine Seele …“ (23) – und ihn zu „Nordseegedichte“, einem Zyklus von Seebildern, inspiriert. Doch auch die „großen europäischen Zeitverwandlungen“ (24) der Gegenwart geraten zwischen „Wellengeräusch, schöne(n) Frauen, gute(m) Essen und göttliche(r) Ruhe“ (25) in den Blick des Autors. Sein kritischer Essay „Nordsee“ wird ebenfalls in den 1877 erscheinenden zweiten Band aufgenommen. Darüber hinaus besteht für Heine auch ein gesellschaftlicher Anreiz, am Badebetrieb der aufstrebenden Insel teilzunehmen. Das 1797 eingerichtete erste Nordseebad verfügt mittlerweile über eine modernisierte Infrastruktur mit Warmbadehaus, Kurpark, Promenade und Spielbank und gehört zu den ersten Adressen der feinen Gesellschaft. Die Mutation des Kurortes, dessen Entstehung sich medizinischer Begründung verdankt, zu einem „Sammelplatz der vornehmeren kranken und nicht kranken Welt“, ist einem neuen Trend geschuldet. „So erscheinen im Bade: die Modedame, die es zu wenig vornehm hält, ganz gesund zu sein, und weil es Mode ist, inʹs Bad zu reisen (…); der reiche Müßiggänger, der Zerstreuung und Wechsel der Bekanntschaften sucht, der Spieler, der Abenteurer (…).“ (26). Im Zuge ihrer um 1800 erfolgten Hochkonjunktur avancieren die Bade- und Brunnenkuren auch zum literarischen Schauplatz. Eine „närrische Gesellschaft“ (27) von gehobenem Rang, die einer balneologischen Behandlung eigentlich nicht bedürftig erscheint, bildet das Figurenensemble in „Die Bäder von Lucca“. Der Apennin-Badeort, wo Heine im September 1828 kurt, zeichnet sich durch das breite Anwendungsspektrum seiner erdig-salzigen, eisenhaltigen Therme aus. Entsprechend der Vorstellung des zeitgenössischen Publikums von einem Refugium der sensiblen „Beau monde“, werden Naturambiente und Infrastruktur der realen medizinischen Einrichtung in Heines zweitem Italienbild zu attraktiven Kulissen funktionalisiert, die jenseits von Krankheit und Gebrechen zum sozialen Austausch einladen. Die Seebäder, die hierfür Modell standen – Brighton, Margate und Ramsgate –, besucht Heine 1827 im Rahmen seiner Reise ins Mutterland der Industriellen Revolution. „Die Englischen Fragmente“, eine Folge von politischen und sozialen Reportagen, beschließen 1833 den letzten Band der „Reisebilder“, die stilbildend werden für das moderne Feuilleton (28). Sandra Krämer, M.A.
Sandra.Kraemer@studium.uni-hamburg.de
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/pp/lit1018
1. Dezember 1827. In: Ebd.; 311.
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