THEMEN DER ZEIT
Prävention psychischer Erkrankungen: Fokus auf die Risikogruppen


Psychische Erkrankungen manifestieren sich zumeist in jungen Jahren. Häufig werden sie jedoch erst spät erkannt und behandelt. Präventive Maßnahmen sowie Früherkennung und -interventionen sollten eine stärkere Bedeutung bekommen, fordern Psychiater und Psychotherapeuten.
Die meisten psychischen Erkrankungen manifestieren sich in den ersten vier Lebensjahrzehnten. Häufig werden sie aber erst mit großer Verzögerung erkannt. „Das Wissen um den erfolgreichen Einsatz präventiver Maßnahmen und Frühinterventionen ist in der Bevölkerung aber auch in der Versorgung noch gering – das sollte sich ändern“, sagte Prof. Dr. med. Arno Deister, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), bei einem Symposium der Fachgesellschaft Ende September in Berlin. „Erkennen, erhalten, schützen: Wie Prävention die psychische Gesundheit stärkt“, lautete der Titel des Symposiums, bei dem eine Reihe von Best-Practice-Beispielen vorgestellt wurden.
Primärprävention im Schatten
„Bisher führt Prävention in unserem Gesundheitssystem ein Schattendasein“, erklärte der Gesundheitswissenschaftler Prof. Dr. rer. pol. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbands. Ärzte seien vornehmlich mit der Tertiärprävention befasst, also der „Verbesserung der Bewältigung eingetretener Erkrankungen“. Im Schatten ständen indes die Primärprävention, also die „Senkung der Eintrittswahrscheinlichkeit von Krankheit“ ebenso wie die Sekundärprävention, die „Verbesserung von Therapiechancen durch Vorverlegung von Diagnosen“. Aber auch auf gesellschaftspolitischer Ebene gibt es Rosenbrock zufolge Möglichkeiten, psychischen Erkrankungen vorzubeugen und zwar indem „Maßnahmen gegen die zunehmende soziale Ungleichheit ergriffen werden“. Denn in den sozioökonomisch höheren Schichten sei die Prävalenz von psychischen Erkrankungen im Allgemeinen nur ein Drittel so hoch wie in den übrigen. „Gleichzeitig gilt, je ungleicher die Einkommen in einer Gesellschaft verteilt sind, desto kürzer ist die Lebenserwartung“, betonte der Gesundheitswissenschaftler.
Früherkennung bei Psychosen
Warum Prävention und Früherkennung gerade bei psychischen Erkrankungen sinnvoll sind, verdeutlichte Prof. Dr. med. Joachim Klosterkötter, ehemaliger Direktor der Klinik und für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Köln. Für jedes Lebensalter könne ein individuelles Gefährdungsprofil der Lebenssituation ausgemacht und entsprechend früh interveniert werden. Er zeigte die Risikofaktoren für die Schizophrenie auf (Kasten), denn gerade bei psychotischen Störungen sei eine Früherkennung von Risikoanzeichen und Symptomen in spezialisierten Zentren erfolgreich möglich. Die meisten Früherkennungszentrum in Deutschland konzentrieren sich entsprechend auch auf psychotische Störungen. Klosterkötter forderte die Etablierung und den Ausbau weiterer Früherkennungsnetze und Präventivzentren. Verstärkt zur Früherkennung genutzt werden sollten auch primärpräventive ärztliche Gesundheitsuntersuchungen.
Fritz und Soulspace
Mit dem Früherkennungs- und Interventionszentrum „Fritz“ und „Soulspace“ gibt es in Berlin ein Angebot für junge Erwachsene zwischen 15 und 35 Jahren mit beginnenden psychischen Krisen und psychotischen Störungen. „Die Betroffenen haben bis zu fünf Jahre psychotische Symptome bis zu einem Erstkontakt, dabei ist gerade die erste Episode besonders gut behandelbar“, sagte Prof. Dr. med. Andreas Bechdolf, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Vivantes Klinikum am Urban in Berlin-Kreuzberg. Das Wiedererkrankungsrisiko liege über fünf Jahre bei 70 bis 80 Prozent, doch nur 33 bis 50 Prozent der jungen Psychose-Patienten befinde sich nach sechs bis zwölf Monaten noch in ambulanter Behandlung. Mit „Fritz“ und „Soulspace“ werden die Betroffenen leichter erreicht, weil die Angebote sehr jugendaffin ausgerichtet sind (https://soulspace-berlin.de, www. fritz-am-urban.de). „Fritz“ bietet multidisziplinäre Behandlung im Team. Hinzu kommt die intensive Betreuung der Angehörigen, Schul- und Job-Coaching sowie Peer Support. Die Betroffenen werden meist über ein bis zwei Jahre im „Fritz“ behandelt, überwiegend ambulant, während der ersten Episode aber auch in einer Spezialstation für 15- bis 28-Jährige.
Trampolin
Ein Präventionsangebot für Kinder aus suchtbelasteten Familien stellte Prof. Dr. med. Rainer Thomasius vom Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kinder- und Jugendalters, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, vor. „Die betroffenen Kinder sind die größte Risikogruppe für die Entwicklung psychischer Störungen“, betonte er. Mit „Trampolin“ stehe ein Kurzinterventionsprogramm zur Verfügung, das spezifisch auf diese Zielgruppe zugeschnitten sei. Den betroffenen Kindern mangele es an Stabilität und Kontinuität im Elternhaus. Sie könnten keine sichere Bindung zu ihren suchtkranken Eltern aufbauen. Hinzu kommen häufig körperliche Schädigungen durch pränatale Exposition mit Alkohol und Drogen. Qualifizierte Gruppenleiter wollen bei Trampolin mit neun Gruppensitzungen á 90 Minuten die Selbstwirksamkeit der Kinder stärken und ihnen bessere Stressbewältigung ermöglichen. Das Programm ist 2008 als Bundesmodellprojekt gestartet und wurde 2016 von der Zentralen Prüfstelle Prävention zertifiziert (www.projekt-trampolin.de), wodurch eine (anteilige) Kostenübernahme durch die Krankenkasse möglich ist.
Bündnis gegen Depression
Unter dem Dach der Stiftung Deutsche Depressionshilfe zielt das Bündnis gegen Depression auf eine bessere Versorgung von Menschen mit Depressionen auch um Suizide zu vermeiden. „Die Prävention von Depression, und Suizidalität wird nicht ernst genug genommen“, sagte Prof. Dr. med. Ulrich Hegerl, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Leipzig. Das Bündnis gibt es bereits seit 2008 und hat inzwischen 85 Netzwerke über Deutschland verteilt. „Das Konzept ist breit implementiert und evaluiert. Wir haben unsere Erfahrungen auch in andere Länder weitergegeben,“ berichtete Hegerl. Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe bietet unter anderem Informationen für Betroffene und Angehörige durch Öffentlichkeitskampagnen, Kooperation mit Hausärzten und einen Patientenkongress alle zwei Jahre. Ärzte und Psychotherapeuten erhalten Rat im „Psychiatriekonsil“, können Info-Material für psychoedukative Gruppen anfordern und ihre Patienten bei der Nutzung des onlinebasierten Selbstmanagements-Programms „iFightDepression“ begleiten, das kostenfrei zur Verfügung steht (www.deutsche-depressionshilfe.de).
Dresden Früh dran
Das Früherkennungszentrum „Dres-den Früh dran“ (www.ddfruehdran.de) für beginnende psychische Erkrankungen bei jungen Menschen zwischen 15 und 35 Jahren am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus stellte dessen Leiterin Prof. Dr. med. Andrea Pfennig vor. Die Dresdner haben neben der Früherkennung von Psychosen auch einen Fokus auf bipolare Störungen. „Bipolare Störungen manifestieren sich in einem sehr jungen Alter, meist zwischen sieben und 24 Jahren“, erklärte Pfennig. Die schwerwiegende, oft chronisch verlaufende Erkrankung gehe mit einem hohen Suizidrisiko (15 bis 20 Prozent im Erkrankungsverlauf) und hoher Komorbidität einher. Bipolare Störungen würden meist zu spät, im Durchschnitt mit einer Behandlungsverzögerung von sechs Jahren erkannt und behandelt. „Hier setzt unser Früherkennungszentrum mit niedrigschwelligem Zugang an: der Erstkontakt ist ohne Chipkarte und auch anonym möglich“, sagte Pfennig. Im Weiteren werden Diagnostik, Entlastung oder Therapieempfehlung, Weitervermittlung ins Versorgungssystem und Verlaufsbeobachtung angeboten.
Risikofaktoren für Schizophrenie
Pränatal:
- Genetische Disposition
- niedriger Vitamin-D-Spiegel
- Mangelernährung
- Herpes simplex virus-2
- Röteln
Perinatal:
- Frühgeburt
- niedriges Geburtsgewicht
Kindheit:
- Misshandlung
- soziale Benachteiligung
- Mobbing/Bulling
- Urbanizität
- Minderheitsstatus
Adoleszenz:
- Cannabiskonsum
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