SEITE EINS
Diskussionsklima im Gesundheitswesen: Problemorientiert denken


Eins kann man Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sicherlich nicht nachsagen: Dass es ihm an Bereitschaft mangelt, sich mit Kritikern auseinanderzusetzen. Insofern überrascht es nicht, dass er die zurzeit offensiv geäußerten Bedenken gegen das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) zum Anlass nimmt, sich mit der Ärzteschaft – in diesem Fall konkret mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) – ab Anfang des kommenden Jahres noch einmal zur Sache auszutauschen.
Die KBV wird das Gespräch sicherlich nutzen, die Schieflage des TSVG-Entwurfs im Detail zu verdeutlichen. Der stellvertretende Vorstandsvorsitzende Dr. med. Stephan Hofmeister hat anlässlich eines Pressegesprächs erläutert, warum das zu erwartende jährliche Honorarplus von etwa 4 000 Euro im Jahr angesichts der massiven organisatorischen Eingriffe für die meisten Ärzte kein attraktiver Anreiz ist, das TSVG zu begrüßen. Jens Spahn wiederum weiß – und hat es selbst auch immer wieder betont –, dass Änderungen im Gesundheitswesen nicht gegen, sondern mit den Ärzten umgesetzt werden müssen. So weit der Minister, so relativ gut der Stand der Dinge.
Abseits solcher ministerieller Gepflogenheiten herrscht aber eine andere Motivation für die politische Debatte. Angesichts eher publizitär motivierter Standpunkte stellt man schnell fest, wie wenig problemorientiertes Denken die Argumentation im parlamentarischen Raum beherrscht. Eigentlich sollte schon der in aller Ausführlichkeit vorgestellte jährliche Ärztemonitor, der Auskunft zur geleisteten Arbeit der Ärztinnen und Ärzte, aber auch zu deren beruflichen Einstellungen gibt (Seite 1611), ausreichen, um zu verstehen, dass bei der über 50 Wochenstunden zählenden Arbeitszeit nicht von unzureichender Leistungsbereitschaft die Rede sein kann. Wer weiß, wie sich die Strukturen in der beruflichen Landschaft des Arztdaseins inzwischen verändern, sollte anderes tun, als den Leumund des ärztlichen Berufsstandes aus Neid oder anderen Gründen zu demontieren.
Was mehrere Generationen von Ärzten aufgrund der Anerkennung ihrer Leistungen durch die Gesellschaft willentlich ausgehalten haben, nämlich ihren Beruf vielfach als allumfassende Berufung zu verstehen, wollen – und müssen – jetzt antretende Arztgenerationen nicht mehr mitmachen. Wen wundert es, gerade auch angesichts des immer mehr geschürten Misstrauens, das der Ärzteschaft entgegenschlägt.
Vor diesem Hintergrund mit dem langen Arm des Gesetzes zusätzliche offene Sprechstunden durchdrücken zu wollen, zeugt eher davon, dass man immer ein Auge auf den Wähler hat, aber keins mehr für die Realitäten. „Wer sich einen sachlich motivierten Überblick über das, was im deutschen Gesundheitswesen passiert, verschaffen will, kann nicht singulär etwas fordern, ohne es zu Ende zu denken“, weiß der KBV-Vorstandsvorsitzende Dr. med. Andreas Gassen: „Wenn es nicht gelingt, diesen Teufelskreis aus Arbeitszeitverknappung, Zerschlagung selbstständiger Strukturen und Madigmachen eines im Grunde geschätzten und vor allem gebrauchten Berufs zu durchbrechen, wird das System der ambulanten Versorgung früher oder später implodieren.“
Was mitdenkende Patienten augenscheinlich zunehmend verstehen, gehört endlich auch in die Diskussionskultur des deutschen Bundestages.