THEMEN DER ZEIT: Aufsätze
Ärzte unter Anklage: Jeder kann betroffen sein


Das Damoklesschwert eines berufsbedingten Prozesses (Kunstfehler, Regreß) hängt über jedem Arzt, jeder
Ärztin. Ein Behandlungsfehlervorwurf tritt bei den einzelnen Tätigkeiten und Facharztgruppen sehr
unterschiedlich auf, besonders betroffen sind Chirurgen und Gynäkologen. Angesichts einer nicht
überschaubaren Zahl von Abrechnungsregeln sind Ärzte überfordert und schnell unter Verdacht des
Abrechnungsbetruges. Bei manchen Ärzten führen privater Druck, persönliche Besitzwünsche oder psychische
Erkrankungen zu einem Verhalten, das zivil- oder strafrechtliche Folgen haben kann. Für die betroffenen
Kollegen/innen und ihre Angehörigen ist ein berufsbedingter Prozeß ein sehr einschneidendes Ereignis, das
gravierende Auswirkungen hat.
Den Schock überstehen
Mehr als 80 Prozent aller beruflich angeklagten Ärzte erleben die Klage als Trauma mit deutlich unangenehmen
körperlichen (Kopfschmerz, Magenulcus, Schlafstörungen) und emotionalen (heftige Emotionen, Arbeitsunlust,
Schuldgefühle, Depression) Auswirkungen. Klagen, die den Arzt treffen, gehen an den Kern des
Selbstwertgefühls. Sie lähmen - unabhängig vom Prozeßausgang - das berufliche Handeln und vermindern die
Lebensqualität für lange Zeit. Durch psychologische Erste Hilfe können angeklagte Ärzte Spätfolgen vermeiden
und lernen, sich angemessen auf die Prozeß-Situation einzustellen.
Wird ein Arzt über eine drohende Klage informiert, so löst dies in der Regel typische Reaktionen aus. Nicht
selten kommt es initial zu einem kurzen Schock: Kollegen berichten, sie hätten sich gefühlt wie gelähmt,
konnten nicht glauben, was ihnen passiert war oder was man ihnen vorwarf. Sie hätten sich kraftlos gefühlt, die
Gedanken hätten sich überschlagen, die Gefühle pendelten zwischen Lähmung, Aggression ("Da schlage ich
zurück.") und tiefer Niedergeschlagenheit. Nur mit äußerster Mühe hätten einige an dem Tag weiterarbeiten
können. Manche Beklagten rufen empört Kollegen an, öfter jedoch zieht man sich zurück.
Nach dem Schock kommt die Kraft zur Berufsbewältigung nach und nach zurück; Essen, Schlafen,
Kontaktpflege normalisieren sich. Die Klage an sich und die eventuell dahinterstehende Fehlleistung sind noch
nicht bewältigt. Häufig sind Kollegen ratlos, was sie nun machen können, und überlassen alles dem Anwalt.
Was kann man jetzt tun? Zunächst sollten betroffene Kollegen sich ein umfassendes Bild des Vorgefallenen
verschaffen: Halten Sie die Ereignisse auf der Sachebene fest. Was ist vorgefallen, wer war beteiligt, in welcher
Reihenfolge sind die einzelnen Schritte erfolgt, wo war das Ereignis, war es einmalig oder wiederkehrend, gab es
zu irgendeinem Zeitpunkt einen Gefahrenhinweis? Wie haben Sie gegebenenfalls darauf reagiert? Wie sind die
medizinischen Handlungen dokumentiert (genau, in aller Eile, pauschal)? Gab es andere Personen, die als
Zeugen ganz oder teilweise etwas gesehen/gehört haben?
Beschreiben Sie Ihre persönliche Situation an diesem Tag zur fraglichen Zeit. Hat irgend etwas Sie abgelenkt,
Ihnen inneren Druck gemacht? Standen Sie privat, gesundheitlich, finanziell in einer gespannten Lage? Andere
wichtige Aspekte können sein: Wie war die Stimmung der Beteiligten, haben die Geschädigten zugehört, wie
war die Arzt-Patient-Beziehung, was haben Sie dem Patienten erklärt?
Alle diese Aspekte schreiben Sie möglichst detailliert auf. Als nächstes erzählen Sie den ganzen Vorgang einem
befreundeten und fachkundigen Kollegen. Dabei kommen zusätzliche Erinnerungen, der Zuhörende kann auf
Lücken hinweisen und zeigen, was in der Darstellung nicht schlüssig ist. Der Erzählende merkt, wie das
Geschilderte auf einen Fachkollegen wirkt. Mit dieser Methode schaffen Betroffene Ordnung in ihrem Denken,
die inkohärenten Erinnerungen werden genauer und zusammenhängender. Das erhöht das Gefühl der subjektiven
Kontrolle und reduziert Ohnmachtsgefühle. Gleichzeitig hilft es auch in der juristischen Aufarbeitung, wenn der
Anwalt ein vollständiges und genaues Bild bekommt.
Persönliche Auseinandersetzung
Durch die genaue Erinnerung und Darstellung wird bewußt, was passiert ist und welchen Teil an Verantwortung
man trägt. Ist das Ausmaß der Folgen erheblich und bestand vielleicht sogar eine nähere Beziehung zu dem
geschädigten Patienten, sind Niedergeschlagenheit, Selbstzweifel, ja Infragestellen der grundsätzlichen Eignung
zum Arztberuf zu erwarten. In dieser Situation braucht man Menschen, denen man vertraut, die einen anhören.
Es ist nicht so wichtig, was diese Menschen sagen, wichtiger ist es, die Gefühle zu zeigen. Begleiter sollten
keinesfalls alles herunterspielen und von Mißgeschick, Schicksal sprechen. Schuldgefühle, aber auch reale
Schuld müssen gehört werden. Auch wenn es erhebliche Kraft kostet, ist es oft gut, mit den Geschädigten
direkten Kontakt zu suchen und Anteilnahme zu äußern. Dem entgegen stehen oft Vorschriften der
Versicherungen, die aus juristischen Gründen eine direkte Entschuldigung durch den Arzt, selbst wenn diese
gerechtfertigt wäre, verhindern - ein Umstand, der sicherlich nicht selten die psychische Bewältigung der Krise
erschwert.
Immer häufiger werden Vorwürfe und Klagen über Kollegen in Presse, Fernsehen und Internet dargestellt, nicht
selten mit voller Namensnennung. Weit vor Eröffnung eines Prozesses kommt es hier zu Schuldfestschreibungen
und sehr tendenziösen Darstellungen. Diese kommen erschwerend zur persönlichen Betroffenheit hinzu, bringen
zu einem frühen Zeitpunkt auch die Angehörigen in eine schwierige Lage und schaffen Fakten, die auch ein
späterer Freispruch nicht rückgängig machen kann.
Was können Betroffene tun? Es ist wichtig, hier besonders sachlich zu bleiben und in den Medien die eigene
Sichtweise darzustellen. Die angeklagten Ärzte sind meist weder emotional ruhig genug noch speziell geschult
im Umgang mit den Medien. Hier sollten Betroffene auf jemanden zurückgreifen können, der über Erfahrungen
in der Öffentlichkeitsarbeit verfügt. Am besten können sie ihre Familie und sich schützen durch die
professionelle Hilfe eines geschulten Pressesprechers (Medienberaters), der von sich aus die Presse oder das
Fernsehen kontaktiert.
Durch den enormen Streß eines öffentlichen Prozesses ist oft eine psychische Kompensation nicht möglich. Die
Betroffenen tragen ein erhöhtes Risiko für ungünstige Spätfolgen. Deswegen sollte - zumindest für einige
entlastende Gespräche - ein therapeutischer Berater aufgesucht werden. Ärzte, die als Gutachter in
Kunstfehlerprozessen tätig sind, sollten betroffenen Ärzten mehr Mut machen, Hilfe zu beanspruchen.
Berufsbedingte Gerichtsverfahren dauern meist lange, aus Sicht der betroffenen Patienten und auch aus der
beteiligter Ärzte sicher zu lange. Das Geschehene kann nicht wirklich verarbeitet werden, man hängt in der Luft,
weiß nicht, auf was man sich genau einstellen muß. Immer wieder neue Korrespondenz mit Gericht, Anwälten
oder Versicherung lösen Emotionen aus, die Normalität kann nicht einsetzen. Das erzeugt Streß und Belastung.
Auch der Umgang mit den Kollegen bleibt oft schwierig, solange die endgültige Klarheit aussteht. Dabei erhöht
sich die Gefahr der beruflichen Isolation, auch weil es manchmal erhebliche Gleichgültigkeit, unter Umständen
sogar Überheblichkeit seitens der Kollegen gibt, die nie unter Anklage standen. Während sich Patienten
überregional zusammenschließen und als sogenannte Notgemeinschaften sogar im Internet auftreten, ist dem
Verfasser eine ähnliche Organisation auf seiten der Ärzte nicht bekannt.
Kontakt zu Kollegen
Was Betroffene tun können: Stellen Sie sich a priori auf ein längeres Verfahren ein. Nutzen Sie die Zeit, um sich
auf jede mögliche juristische Entscheidung vorzubereiten. Setzen Sie sich mit der Frage auseinander, wie Sie
weiterleben, weiterarbeiten werden, wenn es für Sie ungünstig ausgeht. Nehmen Sie aktiv Anteil an Ihrem
Verfahren; das reduziert Ihre Ohnmacht, und Sie können etwas tun, statt nur zu warten. Kontaktieren Sie
Kollegen, die das Trauma einer Berufsklage überstanden haben. Dabei können ärztliche Kreisvereine,
Landesärztekammern, Berufsverbände, unter Umständen auch Anwälte, die andere Ärzte vertreten haben, einen
Kontaktwunsch an andere Betroffene weiterleiten. Einschlägig erfahrene Kollegen können auch oft
verständnisvoll zuhören und Hilfestellung geben.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1999; 96: A-3091-3092
[Heft 48]
Das Literaturverzeichnis ist über den Sonderdruck beim Verfasser (E-Mail: DOCMAEULEN
@t-online.de) und über die Internetseiten (www.aerzteblatt.de) erhältlich.
Anschrift des Verfassers
Dr. med. Bernhard Mäulen
St.-Nepomuk-Straße 1/2
78048 Villingen
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