THEMEN DER ZEIT
Versorgung von Kindern und Jugendlichen: Warum die Kinderrechte in das Grundgesetz gehören
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2010 hat Deutschland die Kinderrechts-Konvention der Vereinten Nationen angenommen. Vielfach wird seither gefordert, die Kinderrechte in das Grundgesetz aufzunehmen, denn es würde den Stellenwert von Kindern in vielen Lebensbereichen erhöhen. Doch geschehen ist bislang nichts.
Bis in die Neuzeit waren Kinder in praktisch allen Kulturen uneingeschränkt von ihren Eltern beziehungsweise den gesellschaftlichen Normen abhängig und ohne eigene Rechte. Mit dem sozioökonomischen Wandel wurde die bereits von Platon vorgeschlagene „Wächterfunktion“ des Staates beispielsweise im „preußischen Regulativ“ aus dem Jahr 1839 zum Verbot von Kinderarbeit bis zum zehnten Lebensjahr umgesetzt.
Die Vereinten Nationen (UN) verabschiedeten 1989 auf Antrag von Polen die Kinderrechts-Konvention (KRK), die 1992 zuerst „mit Vorbehalt“ und 2010 definitiv von Deutschland angenommen wurde, ebenso wie von allen 196 Mitgliedsstaaten der UN – mit Ausnahme der USA. Die „National Coalition Deutschland“, ein Zusammenschluss von über 150 Organisationen, erstellt jedes Jahr einen Bericht über die Umsetzung der Kinderrechte. Seit Langem fordert er deren Aufnahme in die Verfassung. Dies wurde bereits 2003 vom „Committee on the rights of the child“ der UN als geeigneter Schritt zur Verbesserung der Umsetzung von Kinderrechten angesehen.
Recht auf Gesundheit
Die UNICEF hat die ausführliche Version der 54 Artikel der Kinderrechts-Konvention mit ihren drei Zusatzprotokollen in zehn Punkten zusammengefasst (siehe Grafik) (4). Einige davon behandeln spezielle Gesundheitsaspekte. Alle Kinder haben demnach das Recht auf:
- Gesundheit,
- Freizeit, Spiel und Erholung,
- Bildung und Ausbildung,
- eine Familie, elterliche Fürsorge und ein sicheres Zuhause,
- Betreuung bei Behinderung,
- sich zu informieren, sich mitzuteilen, gehört zu werden und sich zu versammeln.
In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Art. 24, Abs. 2) wurde bereits im Jahr 2000 von Deutschland unterzeichnet, dass „bei alle Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher und privater Einrichtung das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss“.
Grundsätzlich ist die rechtliche und gesundheitliche Situation von Kindern und Jugendlichen in Deutschland relativ gut. Gleichwohl unterscheidet sich die Wahrnehmung der Kinderrechte teilweise erheblich, wobei die UN bezogen auf die „verfügbaren Mittel“ (Art. 4 KRK) unseres Landes einen besonders hohen Verwirklichungsstandard der Kinderrechte erwartet.
Mit dem Elternrecht ist auch die Elternpflicht verbunden: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ (1). Dennoch gibt es in vielen Bereichen Kritik an der Situation der Kinder in unserem Land (2, 3, 4):
Kinderarmut: Seit vielen Jahren lebt jedes siebte Kind in einer Familie, die weniger als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat – Tendenz steigend. Mit Kinderarmut fallen die Bildungschancen, während das Risiko, eine chronische Erkrankung zu entwickeln, steigt. In Brandenburg, zum Beispiel, ist der Anteil von chronisch kranken Einschülern mit niedrigem Sozialstatus auf 25 Prozent angestiegen. Bei Kindern mit hohem Sozialstatus liegt er bei unter zehn Prozent.
Medizinischer Fortschritt: Bei der Umsetzung moderner medizinischer Kenntnisse und Fähigkeiten sind Eltern überfordert, zum Beispiel bei den Themen übermäßig zucker- und kalorienreiche Ernährung, unzureichende Vitamin- und Ballaststoffzufuhr, Zahnpflege, Impfskepsis, kindgerechte Medikation sowie Fernseh- und Internetkonsum.
Kindesvernachlässigung/-misshandlung: Immer wieder gibt es Berichte, in denen Eltern Kinder vernachlässigt oder misshandelt beziehungsweise Misshandlungen zugelassen haben, ohne dass die zuständigen Institutionen, zum Beispiel die unzureichend ausgestatteten Jugendämter oder die behandelnden Ärzte rechtzeitig eingreifen konnten. Zudem gibt es eine hohe Dunkelziffer. Die Zahl der Inobhutnahmen von Kindern unter 14 Jahren ist in den vergangenen vier Jahren angestiegen.
„Ausreichende“ Gesundheitsleistungen: Im Gegensatz zu unserem Sozialgesetzbuch (§ 12, Wirtschaftlichkeitsgebot) fordert die KRK für Kinder ein „Höchstmaß“ an Gesundheit. Im ambulanten und stationären Bereich sind viele medizinischen Leistungen für Kinder und Jugendliche nur eingeschränkt sichergestellt, weil die vorgegebenen Budgets den erhöhten Personalaufwand nicht refinanzieren. Der Deutsche Ethikrat forderte 2016 die Abkopplung der Kinder- und Jugendmedizin von dem Fallgruppen-Vergütungssystem der Erwachsenenmedizin (3, 5). Krankenkassen und Sozialämter gewähren oft nur eine Behandlung von Krankheiten und Entwicklungsstörungen unter strenger Berücksichtigung der Kosten, sodass der jeweilige Stand naturwissenschaftlicher Erkenntnis und ärztlicher Erfahrung für die Versorgung insbesondere von chronisch kranken Kindern und Jugendlichen nicht ganzheitlich, also zum Beispiel unter Einbezug von Familie und Schule, umgesetzt werden kann. Es besteht zwar die Verpflichtung zur Qualitätssicherung durch die Leistungserbringer (§ 135 a SGB V), aber deren Durchführung bei Kindern und Jugendlichen ist rudimentär.
Psychosoziale Früherkennung, Behandlung und Prävention: Es fehlt an standardisierten Erhebungsinstrumenten, die Präventivmaßnahmen sind unzureichend, die Wartezeiten in Praxen und sozialpädiatrischen Zentren sind zu lang (3, 4).
Kulturspezifische Besonderheiten: Viele Verhaltensweisen oder religiöse Bräuche, zum Beispiel die Bevorzugung von Knaben und die Beschneidung, oder in unserer Gesellschaft unübliche körperliche oder psychische Erziehungsmaßnahmen entsprechen nicht den Vorgaben der KRK.
Flüchtlingskinder: Besonders eklatant ist die mangelnde Berücksichtigung von Kinderrechten bei den Flüchtlingskindern. Beispiele:
- Nach Zuteilung eines Berechtigungsscheins der Krankenkasse werden viele Kinder nicht bei den niedergelassenen Kinderärzten angemeldet, sie nehmen angebotene Termine unzureichend wahr oder bekommen keine.
- Bei ungesichertem Aufenthaltsrecht der Eltern, zum Beispiel einer drohenden Abschiebung, besteht kein Anspruch auf Impfungen, Früherkennungsuntersuchungen, Hilfsmittel und stationäre Abklärung von nicht lebensbedrohlichen Erkrankungen der Kinder.
- Defizite bestehen bei komplexen Erkrankungen und bei der Erkennung und Differenzierung von Entwicklungs- und Verhaltensstörungen, insbesondere einer posttraumatischen Belastungsstörung bei Minderjährigen.
- Familiennachzug bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen soll nach der KRK ermöglicht werden. In Deutschland wurde diese Regelung lange ausgesetzt.
Grundgesetz neu formulieren
Die Aufnahme der Kinderrechte in das deutsche Grundgesetz wird seit Langem von vielen Verbänden und politischen Parteien befürwortet. Im Sommer 2017 hat Bundeskanzlerin Angela Merkel für die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz plädiert (6). In den Landesverfassungen Bayerns, Schleswig-Holsteins, Nordrhein-Westfalens, Brandenburgs und Hessens sind die Kinderrechte erwähnt.
Im Koalitionsvertrag von Union und SPD wurde die Einsetzung einer Kommission vereinbart, die Vorschläge zur Einführung der Kinderrechte in das Grundgesetz und zur Aufwertung der Kinderkommission im Deutschen Bundestag bis Ende 2019 erarbeiten soll.
Bisher wird vorgeschlagen, bei einer Grundgesetzänderung die Artikel 3 und 6 zu ergänzen (4):
Art. 3, Abs. 3
Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seines Alters, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Art. 6, Abs. 1, 2 und 5
(1) Ehe, Familie, Eltern und Kinder stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über das Wohl der Frühgeborenen, Neugeborenen, Säuglinge, Kinder und Jugendlichen wacht die staatliche Gemeinschaft.
(5) Die staatliche Gemeinschaft achtet, schützt und fördert die Rechte und das Wohl des Kindes und trägt Sorge für kindgerechte Lebensbedingungen. Bei allen staatlichen Maßnahmen, die Kinder betreffen, ist das Wohl des Kindes maßgeblich zu berücksichtigen. Jedes Kind hat bei staatlichen Entscheidungen, die seine Rechte betreffen, einen Anspruch auf Gehör und auf Berücksichtigung seiner Meinung entsprechend seinem Alter und seiner Reife.
Verweis auf totalitäre Regime
Manche Publizisten, Juristen und Politiker halten die Einführung der Kinderrechte in das deutsche Grundgesetz für unnötig. Sie meinen, die bestehenden allgemeinen Menschenrechte würden auch für Kinder gelten und verweisen darauf, dass sich vor allem in totalitären Regimen staatliche Institutionen viel zu stark in die Erziehung der Eltern einmischten. Nicht zuletzt in kirchlich-religiös geprägten Kreisen ist die Sorge vor einer Dominanz des Staates besonders groß. So würden die Rechte der Eltern untergraben, die Kinder den Eltern entfremdet und ihr Anspruchsdenken erhöht. Grundsätzlich seien die Eltern immer die besten Vertreter der Rechte ihrer Kinder. Eine zusätzliche Berücksichtigung von „Kinderrechten“ in den politischen und administrativen Gremien würde zudem die Genehmigung neuer Projekte erschweren, erhöhe die Kosten und die zeitlichen und bürokratischen Belastungen (4).
Diesen Bedenken steht entgegen, dass die „Wächterfunktion“ des Staates primär nur eine unterstützende oder helfende Funktion für den Fall vorsieht, dass die Elternpflichten versagen. Vor dem Hintergrund der Veränderungen der modernen Gesellschaft mit weniger stabilen und belastbaren Familienverhältnissen und damit verbunden fehlender Orientierung für Kinder ist die Priorisierung und Verstärkung der Kinderrechte und den damit verbundenen Hilfsmöglichkeiten gegenüber früheren Zeiten erforderlich.
Die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland würde voraussichtlich akut nur wenige Folgen haben. Doch der Stellenwert von Kindern und Jugendlichen („Kindeswohl“) in vielen Lebensbereichen würde langfristig deutlich angehoben (siehe Grafik) (7):
- Positive Auswirkungen gäbe es bei der Zuteilung von Geldern für alle Formen von Bildung (kindgerechte Wohnungen, Plätze in Kindertagesstätten, Ganztagsangebote an Schulen, Hortbetreuung).
- Bei öffentlichen Bauvorhaben, zum Beispiel von Schulen, Kindertagesstätten und Krankenhäusern, müssten die Belange und Wünsche von Kindern stärker berücksichtigt werden.
- Für Kinder mit chronischen Krankheiten und Behinderungen müssten die Möglichkeiten einer Inklusion nicht nur in Tagesstätten und Schulen, sondern auch im sozialen Alltag weiter verbessert werden.
- Sozial- und Jugendhilfe müssten die seit Langem geplante „große Reform“ von SGB VIII und XII (Gewährung von Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen bei Familien mit einem entwicklungsauffälligen oder behinderten Kind) umsetzen.
- Im Verkehr müssten die Belange von Kindern besser berücksichtigt werden, zum Beispiel im Bereich von Geh- und Radwegen, Geschwindigkeitsreduzierungen und Spiel- und Sportstätten.
- Die Bedürfnisse der geflüchteten Kinder und Jugendlichen müssten stärker berücksichtigt werden (Integration, Gleichstellung mit einheimischen Kindern) (2, 3, 4).
Ohne Zweifel benötigen solche Gesetzesänderungen höhere finanzielle Zuwendungen von der öffentlichen Hand für kinderorientierte Projekte. Langfristig würden sich diese Investitionen aber allein durch die zu erwartende Einsparung von Ausgaben amortisieren, wenn sogenannte Risikokinder im weiteren Verlauf dem Gemeinwesen wesentlich geringere Kosten verursachen, wie unter anderem bereits der Nobelpreisträger für Ökonomie im Jahr 2000, James Heckman, und viele nachfolgende Studien eindrucksvoll nachweisen konnten. In Anbetracht der immer älter werdenden deutschen Gesellschaft ist der gesetzliche Schutz und die Optimierung der Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen eine zwingende Notwendigkeit. Wir sollten alles daransetzen, unsere Gesellschaft „enkeltauglich“ zu gestalten (4).
- Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2018; 115 (46): A 2110–3
Anschrift der Verfasser:
Univ.-Prof. Dr. K.-P. Zimmer
Abt. Allgemeine Pädiatrie & Neonatologie
Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Justus-Liebig-Universität, Feulgenstraße 12,
35392 Gießen
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit4618
oder über QR-Code.
Die neu eingeführten beziehungsweise ergänzten Passagen sind kursiv gesetzt.
Ehemals Universitäts-Kinderklinik Würzburg: Prof. Dr. med. Michael Straßburg
1. | Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ): Medizinische Maßnahmen bei immigrierenden Kindern und Jugendlichen. http://daebl.de/BN43, 10.Oktober 2018 und Monatsschr Kinderheilkd 2018; 166: 894–903. |
2. | Goldhagen J, Mercer R, Robinson G, Duran E, Webb E, Ehrich J: Establishing a child rights, health equity, and social justice – based practice of pediatrics. J Pediatr 2015; 166: 1098–9 CrossRef MEDLINE |
3. | Klein C: Kinderheilkunde im Spiegel der Kinderrechtskonvention. Gesundheitswesen 2018; 80: 191–6 CrossRef MEDLINE |
4. | Straßburg HM: Brauchen Kinder eigene Rechte? Warum die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz jetzt notwendig ist. Kinderärztlich Praxis 2018; 89: 134–40. |
5. | Weyersberg A, Roth B, Woben C: Pädiatrie: Folgen der Ökonomisierung. Dtsch Aerztebl 2017; 115: A-382, B-323, C-323 VOLLTEXT |
6. | Amann M, Müller AK; Plötzlich Mutti. DER SPIEGEL 2017; 29: 45–7. |
7. | Wapler F, Akarkach N, Zorob M: Umsetzung und Anwendung der Kinderrechtskonvention in Deutschland. Rechtsgutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. www.bmfsfj.de/2017-gutachten-umsetzung-kinderrechtskonvention-data.pdf (last accessed on 9 November 2018). |
Sachs, Hans
Wenderlein, J. M.
Michels, Hartmut
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