POLITIK
Ambulante Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher: Wege zu mehr Vernetzung


Die Diagnoseprävalenz psychischer Erkrankungen bei Heranwachsenden ist im ambulanten Bereich seit 2009 um 21 Prozent gestiegen. Experten forderten bei einer Fachtagung eine bessere Koordination und mehr Vernetzung der Leistungserbringer.
Der Versorgungsatlas des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung (Zi) hat sich in diesem Jahr mit der Epidemiologie und der ambulanten Versorgung psychisch kranker Heranwachsender beschäftigt und dabei vertragsärztliche Abrechnungsdaten der Jahre 2009 bis 2017 herangezogen. Die Diagnoseprävalenz sei in diesem Zeitraum um 21 Prozent angestiegen, erklärte Dr. PH Annika Steffen vom Zi bei der Fachtagung zum Thema „Psychische Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen in der ambulanten Versorgung“ am 20. November in Berlin. „Psychische Erkrankungen belasten nicht nur die Betroffenen, sondern auch deren soziales Umfeld. Sie können eine eingeschränkte soziale Kompetenz und einen geringeren Bildungsabschluss nach sich ziehen. Sie können chronifizieren und hohe Versorgungs- und Folgekosten verursachen“, sagte Dr. med. Stephan Hofmeister, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Eine frühzeitige Erkennung und koordinierte Behandlung sei entscheidend, um Leid zu reduzieren, einer Chronifizierung vorzubeugen und die langfristigen Folgen zu minimieren.
Jungen häufiger betroffen
Mehr als jeder vierte Heranwachsende (3,2 Millionen) erhielt nach den Daten des Zi im Jahr 2017 in mindestens einem Quartal eine F-Diagnose; jeder sechste (1,9 Millionen) in mindestens zwei Quartalen. Mit Ausnahme der Entwicklungsstörungen und affektiven Störungen habe sich die Prävalenz aber seit 2014 stabilisiert. „Die Diagnoseprävalenz ist stark geschlechts- und altersabhängig“, betonte Steffen. Jungen sind generell häufiger von psychischen Störungen betroffen. Kinder- und Jugendärzte und Hausärzte spielen nach Angaben des Zi eine zentrale Rolle in der Versorgung: 97 Prozent der Betroffenen hatten mindestens einmal jährlich Kontakt. 70 Prozent hatten Kontakt zu Kinder- und Jugendpsychiatern oder Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten.
Ein spezieller Fokus des Versorgungsatlas lag auf der Prävalenz der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) in der ambulanten Versorgung. „Grundsätzlich gibt es keinen ansteigenden Trend der Diagnoseprävalenz in dem untersuchten Zeitraum von 2009 bis 2016“, sagte Dr. PH Manas Akmatov vom Zi. Bei Jungen werde etwa dreimal häufiger ADHS diagnostiziert als bei Mädchen. Festzustellen sei darüber hinaus, dass die Diagnosecodes spezifischer würden. Dem Epidemiologen zufolge gibt es Hinweise auf einen Rückgang der regionalen Unterschiede – raumzeitliche Cluster – in der Diagnoseprävalenz, aber die Unterschiede seien immer noch erheblich. „Wir sehen unterdurchschnittliche Diagnosehäufigkeit bei Kindern mit Migrationshintergrund sowie überdurchschnittliche in Kreisen mit höherer Facharztdichte“, betonte Akmatov. Die Veröffentlichung der Daten im Zi-Versorgungsatlas ist für Dezember geplant.
Zur Inanspruchnahme von fachspezifischer Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher kann auch die BELLA-Studie Auskunft geben, die derzeit in der vierten Welle am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) in Kooperation durchgeführt wird. Ann-Katrin Meyrose vom UKE stellte von der Befragung heraus, dass Heranwachsende, die in urbanen Regionen leben, häufiger fachspezifische Hilfe in Anspruch nehmen als Kinder aus ländlichen Gegenden. Eine höhere Inanspruchnahme weisen auch Kinder und Jugendliche auf, deren Eltern an psychischen Auffälligkeiten/Erkrankungen leiden. Barrieren für die Inanspruchnahme von fachspezifischer Hilfe sind der Wissenschaftlerin zufolge ein niedriger soziookonömischer Status, ein Wohnort in Ostdeutschland sowie ein Alter zwischen 15 und 17 Jahren. In diesen Fällen sehen Eltern Auffälligkeiten anscheinend eher als alterstypisch an.
Sozialpsychiatrie ausweiten
Die Sicht der Kinder- und Jugendpsychiater zum Versorgungsgeschehen trug Dr. med. Gundolf Berg vor, Vorsitzender des Berufsverbands für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (BKJPP). Im ambulanten Bereich sei deren Zahl stark angestiegen: von 491 im Jahr 2000 auf 1 051 in 2016. Dennoch zeige die aktuelle Bedarfsplanung Versorgungslücken: in 34 Prozent der Gebiete werde die 100-Prozent Versorgung nicht erreicht. Nach Ansicht von Berg gibt es bereits viele sehr gute Versorgungsstrukturen mit differenzierten Angeboten. Notwendig sei aber eine bessere Vernetzung durch den Zusammenschluss von Leistungsanbietern. „Wir brauchen hierfür kollektivvertragliche Lösungen und die Kooperation muss auch finanziert werden“, forderte er. Eine sektorenübergreifende Versorgungsplanung hält er für sinnvoll, jedoch unter der Voraussetzung, dass Leistungsgeschehen und Entgelt im stationären und ambulanten Sektor vergleichbar seien. „Mit der koordinierten Versorgung haben wir viel Erfahrung durch die Sozialpsychiatrie-Vereinbarung, die interdisziplinäres Arbeiten im Praxisteam ermöglicht – das würden wir gerne ausweiten“, betonte Berg.
Die Versorgung durch Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (KJP) zeigte Benedikta Enste, Vereinigung analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (VAKJP), auf: 5 545 KJP sind nach Zahlen der KBV bundesweit niedergelassen mit großen regionalen Unterschieden. „Wir steuern die Versorgung mittels der psychotherapeutischen Sprechstunden“, betonte Enste. „Zudem sind wir Experten für die gestufte Versorgung.“ Probatorische Sitzungen, Akutbehandlung, Kurz- und Langzeitrichtlinientherapien, Rezidivprophylaxe, psychotherapeutisches Gespräch erlaubten unterschiedliche Behandlungsansätze und -intensitäten. Die Steuerung und Stufung der Versorgung sei mit der Strukturreform 2017 verbessert worden, „aber neue Behandlungsplätze geschaffen wurden nicht“, so Enste. Die Wartezeit auf einen ersten Sprechstundentermin betrage im Bundesdurchschnitt bundesweit immer noch knapp fünf Wochen; auf eine Richtlinienpsychotherapie müssten Heranwachsende rund 18 Wochen warten. Das sei viel zu lang.
Die Kinder- und Jugendärzte seien meist die erste Anlaufstelle für Eltern mit psychisch auffälligen Kindern, erklärte Dr. med. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). „Wir haben sehr früh Kontakt zu Kindern und Eltern, erleben sie in ihrer Interaktion und sind kontinuierliche Ansprechpartner.“ Entsprechend seien auch bereits früh Interventionen im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung möglich. Es gebe zahlreiche Berührungspunkte mit den Kinder- und Jugendpsychiatern, die Fachgebiete ergänzten sich. „Psychisch kranke Kinder haben Anspruch auf eine rechtzeitige Kooperation“, betonte der Kinderarzt aus Solingen. Dies sei wegen der langen Wartezeiten mit KJP aber oft nicht möglich. „In Solingen wartet man acht bis neun Monate auf einen Psychotherapieplatz – da muss etwas passieren“, forderte er. Darüber hinaus fehlten Angebote für Kleinkinder, suchtkranke Jugendliche, Kinder mit Intelligenzminderung und für Kinder psychisch kranker Eltern.
Versorgung im Verbund
Die KBV-Vertragswerkstatt hat bereits 2017 zusammen mit Berufsverbänden ein Konzept erarbeitet, das Heranwachsenden mit komplexen psychischen Störungen die Versorgung im Kompetenzverbund ermöglichen soll. Dieses stellte Dr. med. Susanne Armbruster, KBV, bei der Fachtagung erneut vor. „Es geht uns um eine verbindliche Kooperationen der Leistungserbringer, settingbezogene Angebote und um eine zeitnahe Koordination der Therapie“, erläuterte sie. Solche Strukturen sollen geschaffen werden, in dem mindestens ein Kinder- und Jugendpsychiater und ein KJP in Kooperation mit – je nach Bedarf – Kinderärzten, Klinikärzten, Logopäden, Ergotherapeuten, der Kinder- und Jugendhilfe oder Schulen eine wohnortnahe Versorgung anbieten. Mit dem Konzept sollen auch settingbezogene Ansätze, im Umfeld der Betroffenen sowie in Schulen und Kitas, gefördert werden. Der Vertrag ist als Anlage an den Bundesmantelvertrag konzipiert. Bislang sei das Konzept jedoch noch nirgendwo umgesetzt, sagte Armbruster: „Beim GKV-Spitzenverband sind wir nicht auf Interesse gestoßen.“ Dessen Pressesprecherin Ann Marini teilte auf Nachfrage des Deutschen Ärzteblatts mit, das Versorgungskonzept sei „nicht überzeugend“ gewesen. Es würden Leistungen als additives Angebot aufgezeigt, die bereits heute zur Versorgung gehören sollten. Beim Publikum der Fachtagung fand das Konzept zum vernetzten Arbeiten im Kompetenzverbund sehr positive Resonanz. Petra Bühring
Das Konzept der KBV im Internet:
http://daebl.de/LB24