ArchivDeutsches Ärzteblatt1-2/2019Konsanguinität: Die Krankheit bleibt in der Familie

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Konsanguinität: Die Krankheit bleibt in der Familie

Merten, Martina

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In Pakistan werden vier von fünf Ehen auf dem Land zwischen Cousin und Cousine geschlossen. Das Verheerende daran: Aus zahlreichen dieser Ehen gehen behinderte Kinder hervor. Die Eltern nehmen das als Gottgegeben hin. Aufklärung gibt es selten.

Eine staubige Straße führt zu dem kleinen Dorf Khurram Dan. Links und rechts stehen einfache Lehmhäuser. Die meisten bestehen nur aus einem einzigen Raum, in denen ganze Großfamilien leben. Das Dorf von Shaheen Kausar besteht aus zehn von diesen kleinen Häusern. In einem von diesen sitzt ihre zehnjährige Tochter Zainik Biki. Zainik ist kein gewöhnliches Mädchen, ihr Gesicht ist viel zu groß und zu alt für ihren Körper. Ihre Augen lächeln auf eine seltsame Art und Weise. Aus ihrem Mund rinnt Speichel. Reden kann sie kaum. Ein paar Häuser weiter wohnt Sunra Zahar, ein elfjähriges Mädchen. Sunra starrt ihre Mutter an, die neben ihr sitzt. Ihr Gesicht wirkt leblos, irgendwie nicht von dieser Welt. „Es war Gottes Entscheidung“, ruft plötzlich eine der älteren Frauen mit hennarotem Haar in den Raum.

Beide Mädchen sind geistig behindert. Auch viele andere Kinder und Jugendliche in dem kleinen Dorf und in den Nachbardörfern leiden unter verschiedenen Einschränkungen. Einige sind seh- oder hörbehindert, andere sind von Muskeldystrophien betroffen. Auch Mukoviszidose und Down-Syndrom kommen vor. Sie alle haben Eltern, die eng miteinander verwandt sind, denn Blutsverwandtschaft unter Ehepaaren ist in Pakistan nichts Besonderes. Auf dem Land heiraten an die 80 Prozent der Menschen Cousin oder Cousine ersten oder zweiten Grades. Über Pakistan verteilt tun dies 56 Prozent der 220 Millionen Einwohner, wie aus dem Pakistan Demographic and
Health Survey von 2012–2013 hervorgeht. Damit verzeichnet die Islamische Republik das höchste Vorkommen von Konsanguinität in Ländern mit ähnlicher Tradition, höher noch als in Indien, Sri Lanka oder Bangladesch, höher als in der Türkei, Tunesien oder in den Ländern des Nahen Ostens.

Opfer der Tradition: Viele Kinder, die wie Zainik Biki mit Einschränkungen geboren werden, haben Eltern, die eng miteinander verwandt sind.
Opfer der Tradition: Viele Kinder, die wie Zainik Biki mit Einschränkungen geboren werden, haben Eltern, die eng miteinander verwandt sind.

Die Heirat zwischen engen Blutsverwandten sei ein kulturelles Phänomen, erklärt Dr. Haafeez-ur-Rehmann, der mehrere Jahrzehnte lang die Abteilung für Anthropologie an der Quaid-i-Azam-Universität in Islamabad geleitet hat. Haafeez hat an die 80 Studien durchgeführt, die sich mit der Gesundheit und dem Verhältnis von Mutter und Kind und der Familie in seinem Land beschäftigen. Innerhalb der engsten Familie zu heiraten, garantiere einen Partner mit ähnlichem sozio-ökonomischem Status, sagt er. Man sei mit der Familie und den Gepflogenheiten des anderen vertraut. Häufig bestehe bereits ein gutes Verhältnis zu den Schwiegereltern. Auch seien die Scheidungsraten geringer. „In unserer Kultur sind Liebesheiraten noch immer nicht gern gesehen. Auch wenn die jüngeren, gebildeten Menschen sich zunehmend dafür entscheiden“, erläutert der Anthropologe.

Was Frauen wie Shaheen Kausar, die Mutter des Mädchens mit dem viel zu großen Gesicht, nicht wissen: Die Gendefektrate verdoppelt sich bei einer Heirat von Cousin und Cousine ersten Grades. „Liegt sie bei einem normalen Paar zwischen zwei und drei Prozent, haben Kinder von engen Blutsverwandten eine vier- bis sechsprozentige Wahrscheinlichkeit, unter einem genetischen Defekt zu leiden“, erklärt Dr. Salman Kirmani, Professor für Pädiatrie an der renommierten Aga-Khan-Universität in Karatschi und einer der wenigen Genetiker des Landes. „Sind allerdings beide Eltern nachgewiesene Träger eines Gendefekts, besteht eine 25-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass auch ihr Kind betroffen sein wird“, ergänzt der Arzt, der jahrelang an der Mayo Klinik in Minnesota gearbeitet und geforscht hat.

Bildung ist eine Ausnahme

Von diesen Wahrscheinlichkeiten weiß die Mehrzahl der Pakistani nichts. In dem Land können nur 55 Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben. Lediglich 36 Prozent der Frauen und 46 Prozent der Männer besuchen überhaupt eine Sekundarschule. Bildung bleibt eine Ausnahme, insbesondere für Mädchen. „Und selbst wenn meine Patienten von den Risiken gehört haben sollten – sie bevorzugen die Ehe innerhalb der Familie“, sagt Prof. Nabia Tariq, die die Abteilung für Gynäkologie am Shifa College of Medicine in Islamabad leitet. Nabia behandelt vor allem Familien aus Islamabad. Die breite Masse sieht sie nicht. Was sie dennoch stark beunruhigt, ist das erhöhte Vorkommen von Thalassämien, einer genetisch bedingten Blutarmut, bei der ein Fehler im Eiweiß Hämoglobin den Sauerstofftransport im Körper hemmt. Weltweit ist nur ein Prozent der Menschen von Thalassämie betroffen, in Pakistan hingegen sind es sechs Prozent. Auf die Frage, ob bei früher Diagnose einer Behinderung des Fötus der Gedanke an Abtreibung erlaubt sei, nickt Nabia zustimmend. „An unserer Klinik ist es allerdings nicht erlaubt“, fügt sie rasch hinzu, oder nur in denjenigen Fällen, in denen das Leben der Mutter ernsthaft bedroht sei.

Wehrt sich gegen Diskriminierung: Die 25-jährige Saima Aslam leidet an Muskeldystrophie. Fotos: Benjamin Füglister
Wehrt sich gegen Diskriminierung: Die 25-jährige Saima Aslam leidet an Muskeldystrophie. Fotos: Benjamin Füglister

Der Pädiater Kirmani bietet an seiner Universität in Karatschi seit Janamnese eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine genetische Störung ergibt, einen Test an, der 300 Erkrankungen abdeckt, darunter auch Thalassämien. Die Proben werden in den USA ausgewertet. Nach circa zwei Wochen liegt das Ergebnis vor. Tests wie dieser sind ein absolutes Novum im Land. Allerdings ist für die meisten Menschen Karatschi weit entfernt und die Testkosten von mehreren Hundert US-Dollar kann kaum jemand aufbringen. Von dem Betrag muss eine ganze Familie monatelang leben.

Die meisten Menschen mit Behinderung führen in Pakistan ein Leben in Isolation. Obwohl nach einer Studie der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2015 knapp 16 Prozent der Bevölkerung mit einer Behinderung leben müssen, sind sie im Straßenbild kaum zu sehen. Der Grund ist für Saima Aslam schnell gefunden: „Wir leben in einer sehr diskriminierenden Gesellschaft“, berichtet die 25-Jährige, die unter einer Muskeldystrophie leidet. Saimas Erkrankung blieb viele Jahre lang unerkannt. Die Ärzte verschrieben ihr Schmerzmittel, mehr geschah nicht. Als sie gar nicht mehr laufen konnte, fingen ihre Eltern an sich zu erkundigen und stießen auf Saaya, eine Behindertenorganisation im Herzen Islamabads. Die Organisation versucht, Behinderte in ihrem Alltag zu unterstützen. Sie gibt Anleitungen zum unabhängigen Leben, empfiehlt Schulen, sammelt Spenden für Hilfsmittel wie zum Beispiel elektrische Rollstühle. Vor allem – und das hat Saima sehr geholfen – klärt sie über Behinderungen auf. „Viele Ärzte hier wissen nichts darüber“, sagt die junge Frau und Verbitterung schwingt in ihren Worten mit.

Kaum Angebote für Behinderte

Die Regierung des Landes ist mit der Versorgung der Vielzahl an behinderten Menschen überfordert. In Islamabad gibt es vereinzelte Zentren, die Behinderte ausbilden und Rehabilitationsmaßnahmen anbieten. Über das gesamte Land verteilt gebe es 44 solcher Zentren, heißt es aus der Generaldirektion für Sonderpädagogik in Islamabad. Pro Tag finden 300 bis 600 Menschen zwischen fünf und 15 Jahren, die an Einschränkungen leiden, den Weg dorthin. Mit einer wachsenden Bevölkerungszahl werde auch die Zahl behinderter Menschen steigen, prognostiziert ein Mitarbeiter der Generaldirektion, der nicht genannt werden will. Auf die Frage, ob nicht die pakistanische Kultur, die Tradition der Verwandtenehe, mit ein Grund für die hohe Zahl von Behinderten im Land sein könne, schüttelt der Regierungsmitarbeiter heftig den Kopf. Genetische Faktoren spielten selten eine Rolle: „Die Umwelt, die Ernährung – daher kommen die Behinderungen“, sagt er. Martina Merten

Die Recherche der Autorin wurde ermöglicht durch ein Stipendium des European Journalism Centre und der Bill and Melinda Gates Foundation.

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