MEDIZIN: Editorial
Neue Optionen für die Adipositas-Therapie
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Durch die Einnahme von Orlistat (Xenical) läßt sich die Resorption von etwa 30 Prozent des in der Nahrung enthaltenen Fetts verhindern. Damit geht bei gleichzeitiger hypokalorischer Ernährung ein zusätzlicher Gewichtsverlust von zirka 4 kg (3, 11) einher. Sibutramin (Reductil) hingegen führt über ein verstärktes Sättigungsgefühl zu einer verminderten Nahrungsaufnahme und daneben auch zu einer Steigerung des Energieverbrauchs, was mit einem dosisabhängigen Gewichtsverlust von zirka 4 bis 6 kg (8, 12) einhergeht. Beide Substanzen haben einen günstigen Effekt auf mit Adipositas assoziierte Risikoparameter. Sie führen zu einer deutlichen Verminderung von Hypertriglyzeridämie und Hyperinsulinämie, einer leichten Absenkung von erhöhten Cholesterin- und Blutzuckerwerten und im Falle von Orlistat auch zu einer leichten Blutdrucksenkung. Das Ausmaß dieser therapeutischen Effekte korreliert mit der Höhe der erreichten Gewichtsabnahme. Nach einigen Monaten Therapie mit Orlistat oder Sibutramin kommt es meist zu keiner weiteren Gewichtsabnahme. Nach Absetzen des jeweiligen Präparats ist in der Regel sogar ein erneuter Anstieg des Körpergewichts zu verzeichnen, wenn nicht andere Maßnahmen, zum Beispiel Bewegungstherapie, erfolgreich eingesetzt werden. Diese Beobachtung sollte uns nicht überraschen. Ebensowenig würde ein medikamentös erfolgreich abgesenkter Blutdruck nach Absetzen des Antihypertensivums von alleine auf dem erniedrigten Niveau verbleiben, sofern keine gleichzeitige nichtmedikamentöse Behandlung erfolgreich angewandt wird. Obwohl Adipositas zumeist ein jahrzehntelanges Problem darstellt, ist jedoch anders als bei der Hypertonie eine medikamentöse Dauertherapie gegenwärtig keine Alternative. Ohne Änderung der Lebensgewohnheiten ist die Einnahme von Orlistat oder Sibutramin daher nicht sinnvoll.
Prädisposition und Lebensstil ausschlaggebend
Genetik und Lebensstil bestimmen gemeinsam das Körpergewicht beziehungsweise den "Body Mass Index" (BMI). Erbanlagen, die sich während der vergangenen Jahrtausende mit limitierten Nahrungsressourcen als vorteilhaft für das Überleben erwiesen und damit in der Evolution durchgesetzt haben, treffen nun auf die verkehrten Umweltbedingungen der heutigen Zeit (4). Infolge dieser Konstellation ist fast die Hälfte der erwachsenen deutschen Bevölkerung übergewichtig (BMI > 25 kg/m²) und fast jeder sechste adipös (BMI > 30 kg/m²) (5, 6). Übergewicht und Adipositas lediglich als kosmetische Probleme anzusehen, hieße die Bedeutung ihrer epidemischen Prävalenz für den Gesundheitsstatus unserer Bevölkerung grob zu unterschätzen. Multifaktoriell bedingte Gesundheitsprobleme können nur durch multifaktorielle und interdisziplinäre Therapiekonzepte erfolgreich behandelt werden: energie- und fettreduzierte Ernährung, Steigerung der körperlichen Bewegung und Vermittlung langfristiger Verhaltensmodifikation (2, 7, 10). Wird mit einer solchen Basistherapie kein ausreichender Erfolg erzielt, definiert durch eine Gewichtsabnahme von mehr als 5 kg in drei Monaten, kann der zusätzliche Einsatz eines Medikaments erwogen werden. Zwar wird auch mit Orlistat oder Sibutramin bis auf wenige Ausnahmen keine Normalisierung des Körpergewichts gelingen, aber das Erreichen der für die Mehrzahl der Patienten gültigen Therapieziele wird deutlich erleichtert: die dauerhafte Abnahme von zehn Prozent des Körpergewichts und die damit einhergehende Verbesserung des Risikofaktorenprofils. Jetzt muß eine zügige Initiierung plazebokontrollierter Studien gefordert werden, die einen möglichen Effekt von Orlistat und Sibutramin auf harte Endpunkte, wie etwa kardiovaskuläre Ereignisse, zum Gegenstand haben. Solange weiterhin nur Surrogatparameter untersucht werden, fällt es schwer, vom langfristigen Nutzen einer medikamentösen Adipositas-Therapie überzeugt zu sein. Auch muß der Beweis langfristiger Unschädlichkeit baldmöglichst erbracht werden.
Die Einschätzung, daß man zwar mit den unterschiedlichsten Strategien einen Gewichtsverlust erreichen kann, Adipositas aber letztlich kaum heilbar ist, behält auch nach Einführung von Orlistat und Sibutramin Gültigkeit. Ist der Aufwand, den wir heute in interdisziplinären, strukturierten Therapieprogrammen zur dauerhaften Abnahme von zehn Prozent des Körpergewichts betreiben, daher überhaupt gerechtfertigt, oder vergeuden wir wertvolle Ressourcen? Leider gibt es bis heute keine befriedigend genaue Analyse der in Deutschland mit Übergewicht und Adipositas assoziierten Kosten. Der kalkulierte Anteil von drei bis sieben Prozent an den im Gesundheitswesen anfallenden Gesamtkosten ist wahrscheinlich deutlich zu konservativ angesetzt (7). Angesichts der Schwierigkeiten bei der Berechnung der wahren Kosten von Adipositas und dem Fehlen von Interventionsstudien ist es naturgemäß auch sehr schwer, das potentielle Einsparpotential durch eine effektive Therapie einzuschätzen. Ob ein Verlust von zehn Prozent des Körpergewichts mit einer Kosteneinsparung einhergeht, die einen signifikanten Teil der Behandlungskosten aufwiegt, werden wir also für viele weitere Jahre nicht erfahren.
Erhöhtes Risiko bei abdominaler Adipositas
Was sollen wir einstweilen tun? Wir sollten unsere übergewichtigen und adipösen Patienten hinsichtlich ihrer Voraussetzungen für eine strukturierte Therapie überprüfen, wobei Fähigkeit und Bereitschaft zur Kooperation die entscheidenden Voraussetzungen sind. Die größten Anstrengungen müssen wir auf die Adipösen mit ausgeprägtem kardiovaskulären Risikoprofil konzentrieren. Gestörte Glukosehomöostase, Dyslipidämie und Hypertonie finden sich überproportional häufig bei Frauen mit mehr als 88 cm beziehungsweise Männern mit mehr als 102 cm Taillenumfang (9). Die Diagnose einer abdominalen Adipositas mit, gemäß internationalen Leitlinien, deutlich erhöhtem Risiko durch simples Anlegen eines Maßbands ist neben der Frage nach einer familiären Belastung für Gefäßkomplikationen eine wichtige Entscheidungshilfe bezüglich des Aufwands, mit dem eine Gewichtsreduktion versucht werden sollte. Die Patienten mit abdominaler Adipositas werden von einer Intervention vermutlich am meisten profitieren, wobei die Datenlage im Hinblick auf eine mögliche Abnahme des Mortalitätsrisikos durch Gewichtsreduktion unbefriedigend ist und dringend verbessert werden sollte. Ebenso muß die Qualität strukturierter AdipositasBehandlung untersucht werden, wobei für die Evaluierung von Langzeitergebnissen ein Zeitraum von drei Jahren zu fordern ist. Nur durch die an solchen Daten orientierte Optimierung von Therapieprogrammen läßt sich die Behandlung adipöser Menschen verbessern. Neue Medikamente mit unterschiedlichen Wirkmechanismen, wie Orlistat und Sibutramin, erweitern die möglichen Optionen bei der Behandlung adipöser Patienten. Die Optimierung der Adipositas-Therapie in enger Kooperation mit Ernährungsberatern, Bewegungs- und Verhaltenstherapeuten darf uns jedoch nicht von einem zentralen Problem ablenken: die steigende Prävalenz der Adipositas im Kindes- und Jugendalter ist alarmierend und die frühe Manifestation stellt eine sehr ungünstige Voraussetzung für die Adipositas-Therapie dar (13). Die eigentliche Problemlösung führt also nicht über Medikamente oder Fettsimulatoren, sondern nur über die Prävention von Adipositas.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1999; 96: A-3240-3242
[Heft 50]
Literatur
1. Adam O: Pharmakologische Grundlagen für die Anwendung von Fettsimulatoren, Hemmstoffen der
Nährstoffresorption und Anorektika zur Therapie der Adipositas. Dt Ärztebl 1999; A-3243-3247.
2. Clinical guidelines on the identification, evaluation and treatment of overweight and obesity in adults - the
evidence report. National Institutes of Health. Obes Res 1998; 6 (Suppl 2): 51-209.
3. Guerciolini R: Mode of action of orlistat. Int J Obes Relat Metab Disord 1997; 21 (Suppl 3): 12-23.
4. Hamann A: Genetik der Adipositas. Klinikarzt 1998; 27: 214-220.
5. Heseker H, Hartmann S, Kubler W, Schneider S: An epidemiologic study of food consumption habits in
Germany. Metabolism 1995; 44 (Suppl 2): 10-13.
6. Hoffmeister H, Mensingk GBM, Stolzenberg H: National trends in risk factors for cardiovascular disease in
Germany. Prevent Med 1994; 23: 197-205.
7. Lauterbach K, Westenhöfer J, Wirth A, Hauner H: Evidenz-basierte Leitlinie zur Behandlung der Adipositas
in Deutschland. 1998.
8. Lean ME: Sibutramine - a review of clinical efficacy. Int J Obes Relat Metab Disord 1997; 21 (Suppl 1): 3036; discussion: 37-39.
9. Lean ME, Han TS, Morrison CE: Waist circumference as a measure for indicating need for weight
management. Br Med J 1995; 311: 158-161.
10. Scottish Intercollegiate Guideline Network. Obesity in Scotland. Integrating prevention with weight
management. A national clinical guideline for use in Scotland. Edinburgh: SIGN, 1996.
11. Sjostrom L, Rissanen A, Andersen T et al.: Randomized placebo-controlled trial of orlistat for weight loss
and prevention of weight regain in obese patients. European Multicentre Orlistat Study Group. Lancet 1998; 352:
167-172.
12. Stock MJ: Sibutramine: a review of the pharmacology of a novel anti-obesity agent. Int J Obes Relat Metab
Disord 1997; 21 (Suppl 1): 25-29.
13. Wirth A: Adipositas. Berlin, Heidelberg: Springer, 1997.
Anschrift für die Verfasser
Dr. med. Andreas Hamann
Abteilung Innere Medizin I
Medizinische Klinik und Poliklinik
Universität Heidelberg
Bergheimer Straße 58
69115 Heidelberg
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