MANAGEMENT
Krisensituationen: Chaos in der Notaufnahme


Immer wieder werden Ärztinnen und Ärzte sowie Angehörige von Gesundheitsberufen mit schwierigen Situationen konfrontiert. Um diese gut zu meistern, sind Workshops mit Rollenspielen eine gute Vorbereitung. Ein Fall aus der Praxis.
Körperliche Gewalt und Krisensituationen in Notaufnahmen nehmen immer mehr zu. Das zeigen unter anderem die Ergebnisse einer interdisziplinären Forschungsgruppe am Fachbereich Pflege und Gesundheit der Hochschule Fulda (www.aerzteblatt.de/n100593).
Die häufigste Ursache für Gewalt sind der Studie zufolge der Einfluss von Alkohol oder Drogen und lange Wartezeiten. Aber auch Verwirrtheit von Patienten, Unzufriedenheit mit der Versorgung und Verständigungsprobleme wurden genannt. Es ist daher wichtig, Ärztinnen und Ärzten sowie dem Pflegepersonal Möglichkeiten des Umgangs und der Reaktion auf erlebte Gewalt zu geben.
Das folgende Beispiel aus der Notaufnahme eines Schwerpunktklinikums in Norddeutschland macht deutlich, wie Verständigungsschwierigkeiten in persönliche Konflikte münden können, die eine medizinisch dringliche Situation verschärfen. In der dortigen zentralen Notaufnahme stellte sich eine 44-jährige Patientin mit plötzlich aufgetretenen starken Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit und allgemeinem Unwohlsein vor. Sie verstand kaum Deutsch, ihre Muttersprache war Kurdisch. Begleitet wurde sie von ihrer Familie: einem sehr besorgten Ehemann, der einige Brocken Deutsch verstand, dem ältesten Sohn, der die Rolle des Übersetzers innehatte, und zwei jüngeren Töchtern im Teen-ageralter, deren Sprachverständnis im Unklaren blieb.
Patientin kaum zu beruhigen
Nachdem in der Klinik zunächst ein internistischer Weiterbildungsassistent die Patientin sah und den erhöhten Blutdruck behandelte, “erbte“ eine neurologische Assistenzärztin im zweiten Ausbildungsjahr die Frau, da die starken Kopfschmerzen weiterhin im Vordergrund standen.
Die neurologische Untersuchung gestaltete sich schwierig, da die Patientin weinte und schrie. Die beiden Töchter stimmten ein und die Jüngere kletterte zur Mutter in das inzwischen bereitgestellte Patientenbett. Zwischenzeitlich wurden die beiden Mädchen aus der Untersuchungssituation hinaus in die Wartezone begleitet, fanden aber schnell zurück in den zentralen Bereich und waren erneut im Mittelpunkt des Geschehens. Das verhinderte, dass sich die Patientin beruhigen konnte. Auf der einen Seite standen die Mitarbeitenden des Notaufnahmeteams, die ungehaltener wurden und die Familie zurechtwiesen. Auf der anderen Seite verstand der Familienvater nicht, warum seiner Frau nicht geholfen wurde. Er wies immer wieder in gebrochenem Deutsch auf den Kopf und wurde seinerseits ungehalten und vorwurfsvoll. In seiner Verzweiflung kündigte er an, dass er seine Frau jetzt wieder mit nach Haus nehmen werde. Der Sohn versuchte zu vermitteln, drang aber nicht durch. Die Mädchen weinten weiter, zudem mischten sich auch andere Patienten und Angehörige ein. Die Assistenzärztin hatte in der Zwischenzeit versucht, die kurdische Patientin zu untersuchen. Eine differenzierte Befunderhebung war im Durcheinander der Situation jedoch nicht möglich. Da nach ihrer Einschätzung die sehr starken Kopfschmerzen im Vordergrund standen, entschied sie, bei der Patientin ein Schädel-CT durchzuführen zu lassen. Sie versuchte, die Untersuchung zu erklären, während der Ehemann weiter verkündete, er werde seine Frau mit nach Haus nehmen. Die weiblichen Mitglieder der Familie waren weiter in Aufruhr, die Pflegekräfte in der zentralen Notaufnahme machten Druck, dass es weitergehen müsse. Inzwischen riefen auch Pflegekräfte von der neurologischen Station an, die über das Vorgehen informiert worden waren und teilten mit, dass sie diese Patientin mit ihrer Familie auf ihrer Station nicht versorgen könnten.
Deeskalation ist wichtig
Die Assistenzärztin fand sich im Zwiespalt – sollte sie die Patientin mit ihrer Familie gegen Unterschrift nach Hause gehen lassen? Ihr ärztliches Wissen und Gewissen sagte ihr, dass ein zentrales Geschehen nicht ausgeschlossen werden konnte. Ein professioneller Übersetzer stand nicht zur Verfügung – inzwischen war es 4.30 Uhr in der Nacht.
In einer solchen Situation ist es essenziell, Deeskalationsstrategien zu kennen und anzuwenden. Im Workshop „Herausfordernde Gespräche professionell meistern“, an dem auch die betroffene Assistenzärztin teilnahm, wurde dieses Beispiel daher noch einmal durchgespielt. Die Teilnehmenden widmeten sich dabei zunächst grundlegenden Fragen wie:
- Was ist mein Ziel und wie kann ich es erreichen? In diesem Fall war es, ein CCT durchzuführen.
- Wen kann ich sprachlich und emotional erreichen? Wer kann vermitteln?
- Mit wem muss ich deshalb als erstes welches Gespräch führen, um Teilziele zu erreichen? Die Antwort der jungen Frau war: „Zu allererst braucht es Ruhe für die Patientin, die Familie und nicht zuletzt auch für mich selbst. Ich darf nicht in die Eskalation einsteigen.“
Ärztinnen und Ärzte sehen die Patienten im Mittelpunkt ihrer Betrachtung, aber die Angehörigen werden meist nur als Quelle der Fremdanamnese gesehen. In bestimmten Situationen ist jedoch nichts anderes möglich, als die eigentliche Behandlungssituation für kurze Zeit in den Hintergrund zu stellen und zunächst „strategisch“ vorzugehen.
In einem zweiten Schritt wurde die Situation durch szenisches Spiel weiterentwickelt. Die Assistenzärztin übernahm ihren eigenen Part, der Ehemann wurde von einer Simulationsspielerin ersetzt, die Position des Sohnes übernahm ein Teilnehmer. Die Beteiligten erarbeiteten so Lösungsansätze, um eine unübersichtliche Situation wie jene in der Notaufnahme zu ordnen und zu beruhigen. So wäre eine Möglichkeit, die beiden Mädchen kurzfristig im Bett der Mutter zu akzeptieren. Die Assistenzärztin könnte dann die beiden Männer der Familie in einen Untersuchungsraum bitten und in einem ruhigen Gesprächssetting zunächst verbal und nonverbal ihr Verständnis für die großen Sorgen und die Verzweiflung der Familienmitglieder formulieren. Dies gibt den Angehörigen – in dieser Situation insbesondere dem Ehemann – das Gefühl, verstanden zu werden und erlaubt ihnen sich zu beruhigen. Wichtig ist es, auf alle Gesprächsbeteiligten einzugehen und zum Ausdruck zu bringen, dass man sich gerne um die Patientin kümmern wolle. Doch dafür sei Ruhe notwendig. In ruhigem Ton sollte man verdeutlichen, dass dafür die Zusammenarbeit mit den Angehörigen nötig ist. Die Assistenzärztin könnte den Sohn darum bitten, die Töchter zu einer Verwandten oder zu Freunden zu bringen und ihn bestärken, dass er als Übersetzer gebraucht wird und willkommen ist.
Mit einfachen Worten sprechen
Haben die Angehörigen verstanden, dass und wie sie dem erkrankten Familienmitglied helfen können, kann in einem nächsten Schritt das diagnostische Vorgehen erläutert werden – im vorliegenden Fall könnte die Ärztin den beiden Männern klarmachen, dass es wichtig ist, einen „Film“ vom Kopf zu machen, um die Ursache der Kopfschmerzen herauszufinden. Wichtig ist es, einfache und verständliche Worten zu wählen und gegebenenfalls eine angehörige Person zu bitten, bei der Aufklärung der Patientin oder des Patienten zu helfen. Angehörigen eine Aufgabe zu geben und sie – soweit medizinisch möglich – in das Geschehen einzubeziehen, kann einer Situation das Eskalationspotenzial nehmen. Dr. med. Ulrike Schlein
Workshops mit Rollenspielen
Workshops in Kliniken und ambulanten Einrichtungen dienen der Professionalisierung von Mitarbeitern und Führungskräften. Das interaktive Format bietet die Möglichkeit zur Reflexion der eigenen Rolle und des Perspektivwechsels. Besonders wirkungsvoll ist es, in Theorie und Praxis an den eigenen Fallbeispielen der Teilnehmer zu arbeiten. So werden nächste Lösungsschritte für eine noch bestehende oder eine zukünftige Situation entwickelt. Je nach Fallbeispiel spielen die „Simulanten“ als Patientin oder Patient, Angehörige, als Teammitglieder verschiedener Berufsgruppen im Gesundheitsbereich, als Führungskräfte, als Betriebsrat et cetera. Derjenige, der das Fallbeispiel mitgebracht hat, muss nur sich selbst spielen oder ein anderer Teilnehmer spielt seine Variante der beschriebenen Situation und erhält dann ein Feedback vom Simulationsspieler, wie ersich gefühlt hat und was er sich im Gespräch zum Beispiel von der Ärztin gewünscht hätte.
Wichtig ist dies insbesondere deshalb, weil Angehörige von Gesundheitsberufen selten konkrete Rückmeldungen zu Gesprächen und zur Kontaktgestaltung mit Patienten und deren Angehörigen bekommen. Überwiegend haben sie ihren „Stil“ im Laufe der Jahre selbst entwickelt. Auch Angehörige der Leitungsebenen haben oftmals eine genaue Idee, wie sie ein Gespräch führen werden. Im Rollenspiel zu einer konkreten und individuellen Fallsituation aus dem eigenen Alltag zeigt sich jedoch häufig, dass diese Strategie nicht immer aufgeht.
Trotz einer relativ hohen Hemmschwelle kann das Rollenspiel dem Arbeitsteam (oder der gesamten Klinik) Raum für Entwicklung und gemeinsames Lernen bieten und generiert meist neue Ideen zur Personal- und Organisationsentwicklung.
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