

In ihrer Prosa schrieb sie gegen das Vergessen und Verdrängen, verwebte Autobiografisches, Zeitgeschichtliches, Individuelles und Gesellschaftliches ineinander. Am 18. März wäre die Schriftstellerin 90 Jahre alt geworden.
Verdrängung, Versteinerung, Gewöhnung.“ Das Produkt dieses „schleichende(n), kaum vermeidbare(n) Prozess(es)“, der „täglich, stündlich“ im Umgang mit der Vergangenheit zu beobachten ist – „eine Kollektion kolorierter Medaillons“. Ausgewählte, statische Bilder, „kunstvoll zurechtgeschliffen“, die als „Bestätigung (...) für unser eigenes beruhigend eindeutiges Empfinden“ dienen, und davor bewahren, Erinnerungen reflektieren zu müssen. Christa Wolf vergleicht sie mit den „verkalkten Kavernen“ bei „Tuberkulosekranken: ehemals aktive, jetzt aber durch Einkapselung stillgelegte Lebensflecken“ (1). Ihr Plädoyer: sich in jene Zonen zu begeben, die bei Anfertigung der „Medaillons“ gemieden werden, auch wenn diese Erinnerungsarbeit schwierig ist „für diejenigen, die sie buchstäblich an sich selber, am eigenen Leib leisten müssen und den Schmerz noch einmal ertragen über eine Wunde, die nicht heilen kann“ (2).
„Totaler Krieg. Totale Amnesie“
„Kindheitsmuster“ erzählt von der kleinen Nelly, die zu Kriegsende mit ihrer Familie aus Landsberg an der Warthe nach Westen fliehen muss; von Faschismus, Krieg, Flucht und Vertreibung. Eine Reise der Autorin im Sommer 1971 in ihren Geburtsort wirkte als Impuls, „die Spuren des Vergangenen im Jetzt (...) mit archäologischer Präzision“ (3) zu erfassen. Nicht nur um der Aufarbeitung des individuell Erlebten willen, – „Sie hatten es tatsächlich total vergessen. Totaler Krieg. Totale Amnesie“ (4). Der 1976 erschienene Roman ist aber auch eine Geschichte vom Prozess des Erinnerns und Vergessens, und über das Schreiben, in seinem Bemühen um Wiederbringen der Vergangenheit, damit „das Unterste nach oben“ (5) gelangt. Wie in „Störfall“ (1987) – als die Nachricht von dem Reaktorunglück nahe Kiew sowie die Gehirnoperation des Bruders die Ich-Erzählerin animiert, sich ebenfalls auf die Suche nach dem „blinden Fleck“ (6) zu begeben – zieht sich die Frage „Wie funktioniert das Gedächtnis?“ leitmotivisch durch den Roman. Am Ende steht die Erkenntnis: „Es ist der Mensch, der sich erinnert – nicht das Gedächtnis“ (7).
Um „zu dem Tor, hinter dem die unerschöpflichen Bereiche des Unterbewussten verwahrt sind; (...) zu dem Depot des Verbotenen, von früh an Ausgesonderten, nicht Zugelassenen und Verdrängten“ (8) zu gelangen, bedarf es eines „Instrument(es), (...) scharf, genau, zupackend“ (9). Gleichsam der „geschickten, trainierten, geschulten (...) Hand“ des Operateurs, die „in den Eingeweiden wühlt, (...) nach einer wohlüberlegten Strategie (versucht) bis zur Wurzel des Übels (...) zum Eiterherd vorzudringen, um der Wahrheit des Körpers auf den Grund zu gehen, die der so lange verborgen hat“ (10). Jenes „Instrument“ benennt Christa Wolf in ihrem Essay „Lesen und Schreiben“ (1972): „Epische Prosa“ – „die es unternimmt, auf noch ungebahnten Wegen“ in die tiefsten inneren Regionen eines Menschen „einzudringen. In das innerste Innere (...), um seelische Kräfte freizusetzen“ (11).
„Eigentlich haben wir den gleichen Beruf“, lässt Wolf ihre Ich-Erzählerin aus „Leibhaftig“ (2006), ihres Zeichens Schriftstellerin, gegenüber der behandelnden Ärztin bekunden. „Sie spüren den Schmerz im Körper auf, ich anderswo.“ (12) Wie „ausgedehnt unsere Innenwelt ist, wenn (…) ein besonderer Schlüssel (…) sie uns erschließt“ (13) erfährt diese selbst, als sie vor dem Schauplatz der letzten Tage der DDR in ein Ostberliner Krankenhaus eingeliefert wird. Ihre lebensbedrohliche Erkrankung, Sepsis infolge verschleppter Blinddarmentzündung sowie den Zusammenbruch ihres Immunsystems, sinnbildliche Störung der über Jahre durch Zensur und Selbstzensur mühsam aufrechterhaltenen Balance zwischen Anpassung und Aufbegehren, skizziert Christa Wolf als einen Prozess langsamer, schmerzvoller Desillusionierung. In ihren Fieberfantasien steigt die Ich-Erzählerin hinab in die unterirdischen Labyrinthe ihrer Innenwelt, „dorthin, wo der glühende Kern der Wahrheit mit dem Kern der Lüge zusammenfällt“ (14). Auf ihren Irrfahrten stößt sie auf Personen, Ereignisse und Orte der unbewältigten Vergangenheit; wird sie konfrontiert mit eigenen Verwicklungen und Versäumnissen, ihrer Manipulierbarkeit durch den Machtapparat. Das Sich-Einlassen auf die initiierten Erinnerungen an Verdrängtes bedeutet „Leiden“ (15), wirkt zugleich aber wie eine „Entgiftung, eine Reinigung, ein Purgatorium“ (16).
Eine ähnliche Grenzerfahrung, nach der die ehemals vertraute Welt verändert wahrgenommen und die eigene Gespaltenheit infolge von Fremdregulierung erkannt wird, erlebt auch „Kassandra“ aus der gleichnamigen Erzählung von 1983. Konfrontiert mit der Vision vom Untergang Trojas und eines um ein Phantom geführten Krieges, verfällt sie dem Wahnsinn. Der Eintritt in diese, der Vernunft nicht zugängliche Welt, erscheint hier als Begleiterscheinung des Sehens, der Erkenntnis. Für die Priesterin und Königstochter bedarf es des Versinkens in sich selbst, um sich schmerzhaft ihrer Mitschuld bewusst zu werden: der Versuch, gleichzeitig in „Übereinstimmung mit den Herrschenden“ zu leben und ihre „Gier nach Erkenntnis“ (17) zu stillen. Die Rolle der ihr Privileg genießenden Prominenten, ambivalent im Umgang mit denen, „die die Stadt beherrschten“ (18), wird auch in „Was bleibt“ aufgedeckt. „Wir (…) traten immer gegen uns selber an, denn es log und katzbuckelte und geiferte und verleumdete aus uns heraus, und es gierte nach Unterwerfung und nach Genuss.“ (19). Die bereits 1979 entstandene, aber erst 1990 veröffentlichte Erzählung schildert einen Tag im Leben einer Schriftstellerin, in dessen wenig spektakulärem Ablauf die Observation durch die Staatssicherheit hineinwirkt. Eine Reihe früherer Auslassungen werden von der Ich-Erzählerin – erkennend, „dass es der Schmerz war, der mich umtrieb“ (20) – reaktiviert, in denen sie ein egoistisches Bedürfnis nach Passivität und Ignoranz entlarvt. „Nicht denken, (…). Nichts herausfinden, nichts wissen wollen.“ (21).
Der Autor tut sich selbst dazu
Sich „früherer Erfahrungen zu versichern“ (22) ist unabdingbare Voraussetzung, um die Zukunft zu bewältigen. Für Christa Wolf bedeutet daher „erzählen (...): wahrheitsgetreu zu erfinden auf Grund eigener Erfahrung“ (23); der Autor – „ein wichtiger Mensch“ (24) – avanciert zur vierten Dimension dieses Prozesses. Als „Ur-Erlebnis“ ihres poetologischen Konzeptes – „Subjektive Authentizität“ (25) – benennt sie die Lektüre der Novelle „Lenz“ (1839). Diese basiert zwar auf dem Krankenbericht des Pastor Oberlins; jedoch hat Georg Büchner „sich selbst dazugetan, seinen unlösbaren Lebenskonflikt, die eigene Gefährdung, die ihm wohlbewusst ist“ mithineingenommen. Ihm verdankt Wolf die Entdeckung, „dass der erzählerische Raum“ neben den „fiktiven Koordinaten der erfundenen Figuren“ eine „vierte, wirkliche des Erzählers“ hat, die „Koordinate der Tiefe, der Zeitgenossenschaft, des unvermeidlichen Engagements“ (26).
Erinnern und Erfinden
Erinnernd und erfindend ihrer verstorbenen Freundin „Christa T.“ nachdenken, diese noch einmal hervorbringen, damit sie sich zu erkennen gibt; das will auch die Ich-Erzählerin aus der unmittelbar nach dem 11. Plenum des Zentralkomitees 1965 entstandenen Erzählung, die geprägt ist von der beginnenden Entfremdung zwischen Staatsapparat und Kulturschaffenden. Darin beschreibt sie einen Menschen, der verzweifelt seinen Platz in der sozialistischen Gesellschaft sucht, dessen Konflikt zwischen utopischen Ansprüchen und Realität; und muss erkennen: „Ich stand auf einmal mir selbst gegenüber“ (27).
Der Wunsch nach „schonungslose(r) Selbsterkenntnis“ (28), die eigene Identität im Erzählen rückblickend neu zu konstituieren, treibt die Autorin auch 1992/93 in der „Stadt der Engel“ um. Ihre Reflexion über den Umgang mit Vergangenheit und Erinnerung in dem 2010 erschienenen Roman, gewinnt vor dem Hintergrund der öffentlichen Debatte wegen zeitweiliger Stasi-Verstrickungen – „Wie hatte ich das vergessen können?“ (29) – an besonderer Brisanz. Der neunmonatige Aufenthalt in Kalifornien als Stipendiatin des Getty Research Institute bildet die narrative Kulisse. Ein letztes Mal setzt Christa Wolf sich ihr aus; der schmerzlichen, bohrenden Selbstbefragung, wissentlich, „der Spur der Schmerzen nachgehen, ungewappnet, das wäre (...) des Lebens wert“ (30).
Sandra Krämer M.A.
Sandra.Kraemer@studium.uni-hamburg.de
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/pp/lit0319
Bd. 4; 255.
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