ArchivDeutsches Ärzteblatt11/2019Telematikinfrastruktur: Viele Nachzügler befürchtet

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Telematikinfrastruktur: Viele Nachzügler befürchtet

Krüger-Brand, Heike E.

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Rund 100 000 Arzt- und Psychotherapeutenpraxen sollen bis Ende Juni an das Hochsicherheitsnetz für das Gesundheitswesen angebunden sein. Experten bezweifeln, dass sich die gesetzliche Frist halten lässt – aus unterschiedlichen Gründen.

Endspurt: Nach Auskunft der Industrie wird unter Hochdruck installiert. Foto: xiaoliangge/stock.adobe.com
Endspurt: Nach Auskunft der Industrie wird unter Hochdruck installiert. Foto: xiaoliangge/stock.adobe.com

Es mehren sich die Hinweise, dass die gesetzlich geforderte Anbindung der Vertragsärzte und Vertragspsychotherapeuten an die Telematikinfrastruktur (TI) zum 30. Juni dieses Jahres nicht zu schaffen sein wird. Derzeit sind laut gematik – Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte erst etwa 50 000 Praxen an das sichere Gesundheitsnetz angebunden. Dies sei jedoch nur eine Schätzung, über aktuelle Zahlen verfüge die gematik nicht, weil sie nicht unmittelbarer Vertragspartner der Praxen sei, so eine Sprecherin der gematik auf Anfrage. Dabei drängt die Zeit: Die Praxisinhaber müssen die erforderliche Technik bis zum Ende des ersten Quartals bestellt haben und dies gegenüber ihrer Kassenärztlichen Vereinigung (KV) auch nachweisen können, andernfalls droht ihnen rückwirkend ab 1. Januar ein Honorarabzug von einem Prozent.

Aus Sicht von Adel Al-Saleh, Chef der Telekom-Tochter T-Systems, sind die vom Gesetzgeber vorgegebenen Fristen machbar. Zu hören sei im Markt, dass der Verkauf der Technik insgesamt noch hinter den Erwartungen liege. Die neue Frist für Arztpraxen zum Anschluss an das Datennetz bis Ende Juni lasse sich jedoch einhalten, gibt er sich im Interview mit dem Handelsblatt zuversichtlich. Das Unternehmen verzeichnet nach eigenen Angaben Bestellungen und Installationen im unteren fünfstelligen Bereich für sein „Medical Access Port-Bundle“.

„Wer bis Ende März bestellt, dem garantieren wir den Anschluss bis zum 30. Juni, wenn die Praxis den genannten Installationstermin annimmt“, so Unternehmenssprecher Rainer Knirsch. Sollten Verzögerungen „an uns liegen, gibt es pro Monat für maximal drei Monate eine Vertragsstrafe in Höhe von 250 Euro an den Kunden“, erläutert er. Knirsch schätzt, dass sich rund ein Drittel des Marktes mit dem Thema nicht beschäftigen will und im Zweifel die Sanktionen in Kauf nehmen wird.

Nach Auskunft von Uwe Eibich, Vorstand beim Praxissoftwaremarktführer Compugroup Medical (CGM), waren zum 31. Dezember 2018 rund 42 000 Praxen von 46 000 vorliegenden Bestellungen an die TI angeschlossen. Neuere offizielle Zahlen gibt der Konzern nicht heraus. Darunter sind circa 12 000 Praxen, die nicht mit einem CGM-System arbeiten. Insgesamt habe man circa 100 verschiedene „fremde“ Praxissoftwaresysteme angebunden. Dies sei jedoch kein Problem, da der CGM-Konnektor mit jedem System arbeite. Eibich zufolge verfügt der Konzern durch die 600 eigens geschulten Techniker theoretisch über Kapazitäten für 10 000 Anschlüsse pro Monat. Daher könnten alle Bestellungen fristgerecht bearbeitet werden, so Eibich. Komponentenengpässe gebe es keine.

Praxisausweis erforderlich

Das Arztsoftwarehaus medatixx gibt an, dass 70 Prozent der rund 21 000 Anwender die notwendige Technik bestellt haben. Das Unternehmen hatte seine Kunden zuvor in mehreren Mailings aufgefordert, bereits bis zum 15. Februar zu bestellen, „um sicherzustellen, dass wir bis zum 30. Juni installieren können“, erläuterte Jens Naumann dem Deutschen Ärzteblatt. Weitere Bedingungen dafür, dass die gesetzliche Frist eingehalten werden kann: Die Praxen müssen die vorgeschlagenen Installationstermine akzeptieren und sich auch entsprechend darauf vorbereiten. So muss etwa die SMC-B-Karte (Praxisausweis), die stets von der Praxis separat bestellt werden muss, bei der Installation vorliegen und auch freigeschaltet sein. „Aus heutiger Sicht können wir alle Bestellungen unter den genannten Bedingungen fristgerecht implementieren“, meinte Naumann. Aber: „Ich bin sicher, dass am 25. Juni viele Nachzügler mit Bestellungen kommen“, so Naumann. Verzögerungen bei der Anbindung seien allerdings jetzt nicht mehr der Industrie anzulasten, da mit nunmehr vier verfügbaren Konnektoren ein Markt vorhanden sei, sondern vielmehr der zögerlichen Bestellbereitschaft. Daher müssten die Ärzte jetzt bestellen, wenn sie die Sanktionen vermeiden wollten.

Lieferprobleme bei den Konnektoren gibt es Naumann zufolge nicht. Das Unternehmen arbeitet mit den Geräten der drei Hersteller Telekom, Secunet/Arvato und Rise zusammen. Während Secunet keine Zahlen preisgibt, hat die Firma Rise nach eigenen Angaben inzwischen mehr als 5 000 Konnektoren ausgeliefert, von denen ein Großteil bereits installiert worden sei. Eine Kurzumfrage unter den IT-Vertragspartnern habe hier „eine große Zuversicht“ ergeben, die anstehenden Installationen zeitgerecht abzuschließen, so das Unternehmen.

„Völlig illusorisch“

Die Duria eG verzeichnet als eines der kleineren Softwarehäuser nach eigenen Angaben inzwischen 1 390 Bestellungen von Konnektoren mit rund 2 800 stationären und mobilen Kartenterminals (ein Bestellgrad von 69 Prozent), hat jedoch erst 57 Installationen durchgeführt. Lieferengpässe bei Konnektoren sind auch dort kein Thema mehr. Allerdings hat laut Dr. Erich Gehlen, Vorstandsvorsitzender des Unternehmens, etwa der Kartenproduzent DGN angekündigt, dass es bis zu sechs Wochen Lieferzeit bei den SMC-B-Karten geben könnte. Auch bei den mobilen Kartenterminals sind aufgrund der hohen Nachfrage Verfügbarkeitsprobleme möglich. Seine Einschätzung: „Der 30. Juni 2019 ist völlig illusorisch.“

Aus Sicht der KV Bayerns ist es für genauere Aussagen zum Thema derzeit noch zu früh. „Wir erhalten von den Konnektor-Herstellern/TI-Anbietern keine Informationen darüber, wie viele Bestellungen ihnen vorliegen“, schreibt die KV auf Nachfrage. Die Situation werde sich erst einschätzen lassen, wenn die Eigenerklärungen der Mitglieder zur TI-Komponentenbestellung vorliegen – hierfür hat die KV eine Frist bis Mitte April gesetzt – und zudem Zahlen zu den erfolgten TI-Anbindungen im ersten Quartal bekannt sind.

Ähnlich die Auskunft in Baden-Württemberg. Dort waren bis zum Ende des vergangenen Jahres 3 346 Praxen an die TI angeschlossen. Über genauere Installations- und Bestellzahlen verfüge man derzeit nicht. Die Mitarbeiter am IT-Beratungstelefon hätten jedoch den Eindruck, dass sich immer mehr Praxen letztlich doch für den TI-Anschluss entscheiden würden.

In Westfalen-Lippe sind inzwischen immerhin 40 Prozent der Ärzte an die TI angebunden, berichtet die dortige KV. „Wir informieren unsere Mitglieder regelmäßig über den aktuellen Stand. Über die verbindliche Bestellung bis zum 31. März sind alle Mitglieder, die noch nicht an die TI angebunden sind, zusätzlich in einem Anschreiben informiert worden“, heißt es. Aus Sicht der KV ist die Frist dennoch nicht realistisch. „Wir haben unsere Mitglieder gebeten, uns darüber zu informieren, wenn sie erst einen Installationstermin nach dem 30. Juni angeboten bekommen. Wir gehen von einer Anbindungsquote von 80 Prozent aus“, teilte die Pressesprecherin auf Anfrage mit.

Die KV Nordrhein meldet, dass von den rund 17 000 Betriebsstätten bis dato 16 Prozent angebunden sind. Zudem haben inzwischen rund 5 300 Praxen die Bestellbestätigungen gegenüber der KV nachgewiesen. Auch hier glaubt man nicht, dass der Termin eingehalten werden kann. Dies sei auf die bis zuletzt mangelhafte Verfügbarkeit der notwendigen Konnektoren zurückzuführen, so ein Sprecher der KV. Da allerdings auf das vierte, erst im Dezember zugelassene Konnektor-Modell deutlich mehr als die Hälfte der KV-Mitglieder gewartet hätten, sei für die kommenden Tage noch mit einem erheblichen Anstieg der Bestellungen und entsprechenden Nachweisen der Praxen zu rechnen.

Auch in Hamburg lag die Quote der angeschlossenen Praxen Ende Januar erst bei 16 Prozent (518 Praxen), so ein Medienbericht. Bis Ende März könnte die Quote nach Schätzungen der dortigen KV auf rund 1 350 TI-Anschlüsse steigen.

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hat unterdessen den Eingang erster Meldungen von Ärzten und Psychotherapeuten bestätigt, denen von ihren Softwarehäusern oder TI-Anbietern mitgeteilt wurde, dass eine Anbindung ihrer Praxis bis Ende Juni zeitlich nicht zu schaffen ist. „Wir werden diese Entwicklung beobachten“, kündigte KBV-Vorstand Dr. rer. soc. Thomas Kriedel an. Insbesondere sei zu prüfen, ob es sich nur um einzelne Aussagen handele oder großflächig Probleme bei der pünktlichen Auslieferung bestünden.

KBV fordert Ausnahmeregelung

„Sollte sich abzeichnen, dass dies keine Einzelfälle sind und die Industrie Probleme hat, die Praxen bis Ende des zweiten Quartals anzuschließen, werden wir uns für eine erneute Fristverlängerung starkmachen“, erklärte Kriedel. Selbst wenn es bei wenigen Fällen bleiben sollte, werde die KBV sich auch für diese einsetzen. Denn diese Praxen seien sehr wohl ihren Verpflichtungen nachgekommen und dürften nicht sanktioniert werden. „Der Gesetzgeber muss für die Praxen eine Ausnahmeregelung schaffen. Die Ärzte und Psychotherapeuten wollen in die TI – es kann nicht sein, dass sie für Installationsschwierigkeiten der Industrie bestraft werden“, forderte der KBV-Vorstand. Heike E. Krüger-Brand

So steht es im Gesetz

  • Laut E-Health-Gesetz müssen sich alle Praxen für das Versichertenstammdatenmanagement an die Telematikinfrastruktur (TI) anschließen.
  • Mit dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz wurde eine Fristverlängerung bis zum 30. Juni 2019 beschlossen.
  • Vertragsärzte und -psychotherapeuten müssen die notwendigen Komponenten für die TI-Anbindung bis spätestens 31. März verbindlich bestellen und dies gegenüber ihrer Kassenärztlichen Vereinigung nachweisen.
  • Andernfalls droht eine Honorarkürzung um ein Prozent.
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