POLITIK: Aktuell
Gesundheitspolitik: Politische Bilanz zum neuen Jahr


Das vergangene Jahr mit seinen Diskussionen über die Gesundheitsreform 2000 wird uns noch lange im
Gedächtnis bleiben. Es war geprägt durch einen schließlich erfolgreichen Abwehrkampf gegen den
Systemwechsel in ein staatlich gesteuertes Gesundheitssystem. Eine bedeutende Rolle in der
Auseinandersetzung um die Reformpläne der Bundesregierung hat sicherlich das Bündnis Gesundheit 2000
gespielt. Die umfassende Solidarität der Gesundheitsberufe hat zu etwas in der Sozialgeschichte bisher
Einmaligem geführt: Eine ganze "Branche" ist geschlossen gegen die Radikalreform der Ideologen
aufgestanden. Am stärksten ist dies wohl in der Großdemonstration am 22. September in Berlin zum Ausdruck
gekommen, als mehr als 25 000 Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen protestiert haben. Verstärkt worden ist
der politische Druck noch durch die vielen Aktivitäten der Länderbündnisse mit Informationskampagnen,
Protestkundgebungen und Demonstrationen. Wer nun aber darauf vertraut, dass das Bündnis Gesundheit 2000
mit seinen über 40 Mitgliedsorganisationen als reines Zweckbündnis den Tag der Inkraftsetzung des
"Rumpfgesetzes" nicht überlebt, der wird eines Besseren belehrt. Das Bündnis steht und wird auch im neuen
Jahr deutlich Position beziehen. Wir werden allein schon deshalb weiter zusammenstehen, weil sich jede strikte
Budgetierung in der Gesundheitspolitik zwangsläufig gegen die Kranken und Leistungserbringer richten wird
und Rationierung unvermeidbar macht.
In der Rückschau auf das abgelaufene Jahr überwiegt natürlich der Ärger über die Ignoranz der Politik
gegenüber den Versorgungsnotwendigkeiten der Bevölkerung. Die Regierung unterliegt einem folgenschweren
Irrtum, wenn sie glaubt, im Gesundheitswesen schlummerten noch jede Menge Wirtschaftlichkeitsreserven, die
eine medizinische Versorgung nach "Kassenlage" rechtfertigten. Die vorgesehene, auf Jahre angelegte strikte
Budgetierung wird zwar nicht den medizinischen Fortschritt aufhalten können, wohl aber dazu führen, dass
immer weniger Menschen in den Genuss dieses Fortschritts kommen.
Unredliche Argumentation
Es ist politisch einfach unredlich und verantwortungslos, den Menschen zu suggerieren, dass man mit einem
begrenzten Finanzbudget unbegrenzt Leistungen erwarten kann. Die Angst der Versicherten vor einer
Zweiklassen-Medizin durch Begrenzung der finanziellen Mittel ist daher nur allzu berechtigt.
Arzneimittelbudgets führen zu Rationierung und Verzögerung lebenswichtiger Arzneimittelinnovationen. Vielen
Kollegen drohen Regressforderungen der Kassen und damit Honorarabzüge bis zu mehreren Zehntausend Mark,
wenn sie die Patienten weiterhin mit den notwendigen Medikamenten versorgen. Diese Methode, mit dem
Honorar der Ärzte die medizinische Versorgung der Patienten sicherstellen zu wollen, ist skandalös.
Und auch im Krankenhausbereich sind dramatische Entwicklungen zu befürchten, wenn das Gesetz am 1. Januar
2000 in Kraft tritt. So läuft inbesondere das neue Fallpauschalensystem Gefahr, zu einem reinen
Verteilungsinstrument der ohnehin eng begrenzten Krankenhausbudgets zu verkommen. Dabei bleibt völlig
unberücksichtigt, dass die Krankenhäuser schon in den vergangenen Jahren enorme Anstrengungen zur
Kostensenkung unternommen haben.
Es wird Zeit, dass wieder mehr über die Qualität der Versorgung geredet wird, beispielsweise über die Folgen
der weitgehenden Missachtung des Arbeitszeitgesetzes in den Kliniken. Wir haben hier eine partielle Legalität,
die dem entspricht, was wir von Baustellen kennen. Im Unterschied zum Krankenhaus prüft der Staat auf den
Baustellen aber regelmäßig, ob alles mit rechten Dingen zugeht. In den Krankenhäusern werden dagegen
millionenfach unbezahlte Überstunden geleistet, weil nicht genügend Personal vorhanden ist. Für die Patienten
bedeutet dies: Sie werden nicht selten von übermüdeten und in ihrer Leistungsfähigkeit deshalb auch zum Teil
eingeschränkten Ärzten behandelt.
Bei der aktuellen Diskussion um mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen haben die Kranken und Bedürftigen
einen schweren Stand. Die jetzt beschlossenen Gesetzesregelungen zur so genannten integrierten Versorgung
ermöglichen es den Kassen, Einzelverträge mit Ärzten oder Arztgruppen zu schließen, ohne dass die
Kassenärztliche Vereinigung dabei mitwirken muss. Der Sicherstellungsauftrag der KVen wird dadurch massiv
in- frage gestellt. Dabei ist der Sicherstellungsauftrag gerade jetzt unverzichtbar. In einem System, in dem
Krankenkassen im Wettbewerb um gesunde Versicherte danach streben, sich durch unterschiedliche
Versorgungsstrukturen voneinander zu unterscheiden, brauchen wir ein Gegengewicht, das die Ausrichtung am
Versorgungsbedarf und den Behandlungsnotwendigkeiten auch schwer kranker Menschen sucht. Ohne ein
solches Gegengewicht wird es über kurz oder lang zu einer Zersplitterung der Versorgungsstrukturen kommen.
Risikoselektionen sind dann Tür und Tor geöffnet. Durch diese einseitige Stärkung der Krankenkassen und das
Interesse der Kassen an möglichst niedrigen Beiträgen sowie möglichst "kleinen Risiken" können die Belange
der chronisch Kranken und Schwerkranken leicht ins Hintertreffen geraten. In der Diskussion über die
Gesundheitsreform 2000 haben wir deshalb immer wieder deutlich gemacht, dass der Patient und nicht der
gesunde Beitragszahler im Mittelpunkt einer Reform des Gesundheitswesens stehen muss.
Wir haben hier in Deutschland den so genannten dritten Weg der sozial verpflichteten Marktwirtschaft. Darin
haben wir eine ganz besondere Form in der Gestaltung unseres Gesundheitswesens gefunden, die gemeinsame
Selbstverwaltung von Beteiligten und Betroffenen. Diesen Weg zu gehen, bedurfte es sehr viel Kreativität, Kraft
und Kontinuität. Nur allzu leicht laufen Kranke wie auch Leistungserbringer jetzt Gefahr, zwischen den alten
Ideen eines Staatsdirigismus und den modernen Ideen eines freien Wettbewerbs aufgerieben zu werden. In vielen
Gesprächen und Verhandlungen mit Politikern aller Parteien haben wir stattdessen für die Weiterentwicklung
eines Konzeptes geworben, das medizinische Leistungsfähigkeit und individuelle Bedürftigkeit auch angesichts
der demographischen Entwicklung in ein vernünftiges Verhältnis bringt.
Die Grundlagen unserer Berufsausübung sind zugleich auch die Grundlagen der Patientenversorgung. Gerade in
diesen chaotischen Zeiten dürfen wir deshalb das Heft des Handelns nicht allein den Politikern überlassen. Wir
müssen handeln und verhandeln. Wir müssen in der Politik wie in der Öffentlichkeit die längst überfällige
Diskussion über den Stellenwert der Gesundheit in unserer Gesellschaft erreichen. Und wir werden diese
Diskussion erzwingen mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln der Information. Denn nur nach einer breit
angelegten Diskussion erst wird der notwendige gesellschaftliche Konsens zu einer erfolgreichen
Weiterentwicklung unseres Gesundheitswesens möglich sein.
Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe
Präsident der Bundesärztekammer
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