THEMEN DER ZEIT
Absolventenbefragung: Weckruf für die Fachkräftesicherung
;


Die Unzufriedenheit der jungen Ärztegeneration mit den vorhandenen Arbeitsbedingungen wächst zunehmend. Angesichts des Fachkräftemangels müssen Politik und Krankenhäuser handeln. Noch ist es nicht zu spät, wie eine Umfrage an der Medizinischen Hochschule Hannover deutlich macht.
Die Arbeitsbedingungen im Gesundheitssystem werden seit Längerem kritisch diskutiert, verstärkt gilt dies für die junge Ärztegeneration. Doch wie sieht demgegenüber die berufliche Realität aus? Eine Befragung der Absolventinnen und Absolventen an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) liefert hier wichtige Informationen über die Phase des Berufseinstiegs. In Kürze lässt sich festhalten: Die ausgeprägte berufliche Zufriedenheit als traditionelles Markenzeichen der Medizin ist auch bei jungen Ärztinnen und Ärzten vorhanden und das Interesse an den Inhalten des Arztberufes ungebrochen. Zugleich zeigt sich eine erhebliche Kluft zwischen individuellen Bedürfnissen und beruflichen Rahmenbedingungen.
Das Verhältnis von Wunsch und Wirklichkeit gestaltet sich ohnehin schwierig, aber hier geht es um weit mehr als die individuellen Bedürfnisse einer neuen Ärztegeneration. Die Wahrnehmungen junger Ärztinnen und Ärzte weisen auf ein Unzufriedenheitspotenzial hin, das die Fachkräftesicherung vor neue Herausforderungen stellt und als Weckruf an die Politik und die Krankenhäuser verstanden werden sollte. Die gute Nachricht: Die wesentlichen Probleme sind bekannt und könnten durch ein besseres Management bereits kurz- und mittelfristig deutlich verringert werden.
Was junge Ärztinnen und Ärzte erwarten
Absolventenstudien erfolgen an vielen Hochschulen rund 1,5 Jahre nach Studienende und können Auskunft geben über den Berufseintritt als zentrale Statuspassage der Arbeitsbiografie. Hier werden nicht nur Weichen für das eigene Berufsleben gestellt, sondern kollektive Trends generiert. Die Untersuchung an der MHH schloss die Jahrgänge ein, die zwischen 2009 und 2016 an der Hochschule das Medizinstudium erfolgreich abgeschlossen haben; circa 950 Personen haben an den Befragungen teilgenommen. Im Fokus der Auswertung stehen die Indikatoren zur Arbeitsplatzsituation, zur Wahl des Arbeitgebers und ergänzend zu den beruflichen Kompetenzen (1, 2) (weitere Informationen zur Methode auf Anfrage).
Wunsch und Wirklichkeit klaffen in wichtigen Bereichen auf alarmierende Weise auseinander (siehe Grafik 1). Vor allem bei der Organisation der Arbeit. Hier droht ein erhebliches Unzufriedenheitspotenzial. Insbesondere die fehlende Zeit für Freizeitaktivitäten wird genannt, gefolgt von mangelnder Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Auch die Möglichkeiten zur Verwirklichung eigener Ideen und zur Weiterqualifizierung sowie das Arbeitsklima, die Arbeitsplanung und die Aufgabenverteilung sind nach Meinung der Absolventen eindeutig änderungsbedürftig. Im Gegensatz dazu – das ist die positive Nachricht – weisen die inhaltlichen Aspekte der ärztlichen Tätigkeit, wie etwa die Verwendung der erworbenen Kompetenzen, gute bis sehr gute Übereinstimmungen zwischen den Erwartungen der Ärztinnen und Ärzte und dem beruflichen Alltag auf.
Die Forderungen nach mehr Freizeit und besseren Arbeitsbedingungen sind nicht unbedingt neu, aber sie sollten nicht länger als Problem von Frauen wahrgenommen und auf die Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie reduziert werden (3). Vielmehr geht es um die Aufkündigung eines traditionellen Berufsbildes, das allzeitige Verfügbarkeit voraussetzt und die eigenen Bedürfnisse und Schwächen leugnet. Es zeichnet sich ein Trend ab, der möglicherweise zu einem neuen ärztlichen Berufsbild führt, das Lebensqualität und „Fürsorglichkeit“ im Umgang mit den eigenen gesundheitlichen Ressourcen fordert und fördert.
Für die These grundlegender Veränderungen spricht auch, dass die Befragten die große Diskrepanz zwischen beruflichen Wünschen und den tatsächlichen Arbeitsbedingungen in den verschiedenen Typen von Krankenhäusern ähnlich wahrnehmen; lediglich die Universitätskliniken schneiden etwas besser ab. Es entsteht ein neues berufliches Anforderungsprofil, auf das bisher keiner der Leistungsanbieter angemessenen reagieren kann. Diese kollektive Reformblockade und die Missachtung der Rolle junger Ärztinnen und Ärzte als Trendsetter werden immer mehr zum Risikofaktor für die Fachkräftesicherung.
Die medizinbezogenen Kompetenzen wurden in Anlehnung an das umfassende CanMEDS-Berufsprofil des Royal College of Physicians and Surgeons of Canada mittels Selbsteinschätzungen der Absolventinnen und Absolventen erfasst. Die Angaben für die in der Ausbildung erworbenen und die im Berufsalltag geforderten Kompetenzen wurden jeweils auf einer fünfstufigen Likert-Skala ermittelt. Für die meisten Items zeigt sich eine vergleichsweise hohe Übereinstimmung, die tendenziell auch die berufliche Zufriedenheit erhöht. Dieses erfreuliche Ergebnis wird aber durch relevante Lücken gerade in den Bereichen getrübt, die zukünftig an Bedeutung gewinnen werden, nämlich die Teamfähigkeit und die kommunikativen Kompetenzen. Mangelnde Expertise ist ein ernst zu nehmender Stressfaktor mit entsprechend negativen Auswirkungen auf die berufliche Zufriedenheit. Arbeitgeber, wie auch die medizinischen Fakultäten, sollten deshalb bei den teambezogenen und kommunikativen Kompetenzen nachbessern und entsprechende Trainings und Weiterbildungen anbieten. Hierdurch können Stressoren verringert und die Einführung von neuen Teamkonzepten und multiprofessionellen Versorgungsformen effektiv unterstützt werden.
Arbeitsbedingungen wichtiges Kriterium bei der Stellensuche
Arbeitgeber werden zuallererst nach fachlichen Interessen ausgewählt, aber die „allgemeinen Arbeitsbedingungen“ sowie die „Möglichkeiten zur fachlichen Qualifizierung“ spielen ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Wahl (siehe Grafik 2). Demgegenüber wird den Items „Verdienstmöglichkeiten“ und „beruflicher Aufstieg“ ebenso wie der „fachlichen Reputation“ des Arbeitgebers nur eine mäßige Bedeutung zugemessen. Dieses Ergebnis weist auf einen erheblichen Gestaltungsspielraum der Organisationen hin. Durch innovative Arbeitsbedingungen und Qualifizierungsangebote können Fachkräfte angeworben und gebunden werden, und diese Innovationen setzen weder hohe finanzielle Ressourcen noch eine hohe Reputation voraus. Mit anderen Worten: Die Handlungsoptionen sind längst nicht ausgereizt und die Organisationen sind dringend gefordert, hier aktiv zu werden und die Arbeitsbedingungen in allen Bereichen zu verbessern.
Für Männer und Frauen sind die zentralen Kriterien für die Wahl eines Arbeitgebers überwiegend gleich. Das ändert sich durch eine Elternschaft auch nur bedingt (siehe Grafik 2). Deutliche Zusammenhänge zeigen sich erwartungsgemäß vor allem für die Items „Familienfreundlichkeit des Arbeitgebers“ und „familiäre Gründe“. Frauen schätzen die Bedeutung etwas höher als Männer ein. Wichtig ist, dass auch Väter ihren Arbeitgeber unter Aspekten der Familienfreundlichkeit auswählen. Betrachten wir die junge Ärztegeneration als Trendsetter, dann ist davon auszugehen, dass sich diese Tendenz zukünftig noch verstärkt und sich Geschlechterunterschiede bei der Arbeitgeberpräferenz weiter verringern. Folglich können Arbeitgeber nicht mehr auf eine allzeit verfügbare Einsatztruppe junger Männer bauen.
Arbeitsorganisation ist ein Schlüssel für Zufriedenheit
Gute Versorgungsqualität für Patentinnen und Patienten erfordert ein Gesundheitssystem, das auch für seine Fachkräfte Verantwortung und „Fürsorge“ übernimmt (4). Die jungen Ärztinnen und Ärzte erinnern an diese Verantwortung. Sie sind mit ihren Wünschen nach einer besseren Balance zwischen Berufs- und Alltagsinteressen und Verantwortlichkeiten sowie nach gesundheitsförderlichen Arbeitsbedingungen und höherer Lebensqualität längst nicht mehr allein. Das verdeutlichen nicht zuletzt auch die Genfer Deklaration des Weltärztebundes und das Thema „Arztgesundheit“ des diesjährigen Deutschen Ärztetages in Münster. Die Entwicklungen in der jungen Ärztegeneration sind ein Frühwarnsystem für ein Unzufriedenheitspotenzial, das sich im Berufsverlauf verstärken und zu einem Wechsel des Arbeitsplatzes und in letzter Konsequenz zum Ausstieg aus der Krankenversorgung führen kann. Deshalb brauchen wir dringend neue Modelle der Arbeitsorganisation und Arbeitszeitgestaltung sowie verbesserte Möglichkeiten der individuellen Kompetenz- und Karriereentwicklung. Bereiche mit Fachkräftemangel, wie vor allem die Allgemeinmedizin, könnten ihre Vorteile im Bereich der Arbeitsorganisation zukünftig ausbauen und hierdurch an Attraktivität gewinnen.
Die Innovationsfähigkeit der Organisationen, allen voran der Krankenhäuser, wird mehr und mehr zur Entscheidungsfrage für die Fachkräftesicherung, und hier können die Wünsche der jungen Ärztegeneration ein Wegweiser für zeitnah umzusetzende Reformen sein. Ein partizipativer Ansatz und die frühzeitige Einbeziehung junger Ärztinnen und Ärzte auf allen Ebenen der Fachkräfteplanung könnten sich deshalb als wichtiger Baustein für die Stabilität des Gesundheitssystems erweisen.
- Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2019; 116 (15): A 729–31
Anschrift für die Verfasser
Dr. phil. Ellen Kuhlmann
Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1
30625 Hannover
E-Mail: kuhlmann.ellen@mh-hannover.de
Medizinische Hochschule Hannover, Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung: Dr. phil. Kuhlmann, MPH
1. | Paulmann, V: Determinanten der Berufszufriedenheit von jungen Medizinerinnen und Medizinern. Ergebnisse der Absolventenbefragung der Medizinischen Hochschule Hannover 2010 bis 2014. Beiträge zur Hochschulforschung, 2016, 38 (4): 8–107. |
2. | Paulmann V, Just I: Quo vadis, Alumni? Absolventenbefragungen helfen der MHH die Studienqualität zu verbessern. Niedersächsisches Ärzteblatt, 2018, 91 (9): 10–2. |
3. | Kuhlmann E: Was muss passieren, damit Krankenhäuser geschlechtergerechter werden?, Deutsches Ärzteblatt, 2014, 111 (A23–4): 4, http://daebl.de/AV11 VOLLTEXT |
4. | Bodenheimer T, Sinsky C: From triple to quadruple aim: care of the patient requires care of the provider. Annals of Family Medicine, 2014, 12 (6): 573–576 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
Renneberg, Marion; Berndt, Johanna; Bintaro, Philip; Grimme, Johanna; Petersen, Antje; Stalter, Johannes; Tiggemann, Hannah; Uden, Theodor
Kommentare
Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.