POLITIK
E-Health: Ideen gesucht für die Patientenakte


Wie lassen sich die Nutzer von technischen Innovationen überzeugen? Bei der Medizin-IT-Messe DMEA war diese Frage vor allem mit Blick auf die elektronische Patientenakte ein zentrales Thema.
Rund 10 800 Besucher und 570 Aussteller – die DMEA, vormals conhIT, hat sich vom überschaubaren Branchentreff zu einer wichtigen Informations- und Kommunikationsplattform für alle, die sich mit Digitalisierung im Gesundheitswesen beschäftigen, entwickelt. Dies hat auch die Politik erkannt. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nutzte seinen Besuch auf der Medizinmesse für einen eindringlichen Appell, mehr Tempo bei der Entwicklung digitaler Gesundheitslösungen aufzunehmen und das Thema nicht anderen zu überlassen. „Wir müssen Lust auf den digitalen Wandel haben. Die Alternative ist nicht, ob es passiert oder nicht, sondern ob wir es gestalten oder erleiden.“
Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) habe dabei in den vergangenen zwölf Monaten einen Strategiewechsel vollzogen. Zwar werde es noch im Sommer das angekündigte E-Health-Gesetz geben (siehe DÄ 15/19), aber von der ursprünglichen Idee, „ein schönes großes Digitalisierungsgesetz“ zu machen, sei man abgerückt, weil dies dem erforderlichen Tempo nicht gerecht werde, so der Minister. „Vielmehr machen wir immer dann, wenn wir im Ministerium und in der Politik das berechtigte Gefühl haben, jetzt ist etwas entscheidungs- und umsetzungsreif, dies zum Bestandteil laufender Gesetzgebung“, erläuterte er.
Risikofreude des Ministers
Der Gesundheitsminister unterstrich in diesem Zusammenhang die zentrale Bedeutung der elektronischen Patientenakte (ePA). Die Übernahme der Mehrheitsanteile an der gematik – Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte zum 1. Mai durch das BMG verteidigte er. Möglicherweise sei das eine Staatsintervention. Doch wenn die Selbstverwaltung 15 Jahre lang etwas nicht ans Laufen gekriegt habe, „dann darf der Minister auch mal versuchen“. Das hielten zwar auch manche im Ministerium für ein Risiko, denn „wenn etwas schief geht, sind immer wir schuld. Aber wenn wir eh schon schuld sind, dann will ich wenigstens berechtigt schuld sein“, so Spahn.
Aus Sicht des BMG müssen vor allem die Spezifizierungen schnell weiterentwickelt und Fragen der Schnittstellen, Standards und der Datensicherheit geklärt werden. „Wir setzen einen Rahmen, und dann sollen im Wettbewerb die Anbieter – ob kleine Start-ups oder große Softwareschmieden, wer eben die beste Idee, das beste Angebot hat – zeigen, was sie können.“
Die Krankenkassen sind zudem aufgefordert, über die Kernfunktionen der ePA hinaus den Versicherten zusätzliche digitale Angebote zu unterbreiten – wie etwa Präventionsprogramme oder Begleitprogramme für Chroniker. Diese Möglichkeit sei ausdrücklich in der ePA angelegt. „Ich möchte ein Feuerwerk an Kreativität und Ideen erleben rund um die Frage, was bei der ePA an Zusatzfunktionen möglich sind“, so Spahn.
Dem schloss sich Dorothee Bär, Staatsministerin für Digitalisierung (CSU), in ihrem Grußwort an: „Wir haben schon so viel geredet, ich würde mir wünschen, dass wir mehr in die Anwendung kommen.“ Zwar seien Themen wie Datenschutz wichtig, aber Deutschland brauche mehr Mut, um die enormen Chancen digitaler Anwendungen in der Medizin zu nutzen und das Leben für chronisch Kranke, Pflegebedürftige und alte Menschen zu erleichtern.
Wo bleibt der Patient?
Neben der spürbaren Erleichterung über die von Spahn forcierten Fortschritte gab es jedoch auch kritische Stimmen im Hinblick auf die zahlreichen E-Health-Aktivitäten seines Ministeriums.
„Im vergangenen Jahr ist mehr passiert als in den 14 Jahren zuvor“, meinte etwa Prof. Dr. Peter Haas, Fachhochschule Dortmund, bei einer Panel-Diskussion der Medizinmesse, auf der Vertreter von Ärzteschaft, Industrie, Wissenschaft und Politik ein Zwischenfazit zogen. „Was jedoch fehlt, ist eine gesundheitspolitische Gesamtstrategie. Dieser muss die E-Health-Strategie folgen.“ Schnelle Entscheidungen durch die Übernahme der gematik bedeuteten noch keine schnelle Umsetzung. Der Informatiker plädierte unter anderem für Fokusgruppen mit Patienten und mit Ärzten, damit Nutzen und Nutzbarkeit einer elektronischen Patientenakte für die Betroffenen herausgearbeitet werden könnten.
Unterstützung erhielt er von Erik Bodendieck, dem Präsidenten der Sächsischen Landesärztekammer. „Fristen und Regelungen werden nicht ausreichen“, mahnte dieser. Die ePA sei konzipiert aus der Sicht von jungen Gesunden, nicht aus der Perspektive von kranken Menschen, die sie gerade besonders benötigten. Bodendieck gab zu bedenken, dass alle Beteiligten ins Boot geholt werden müssten.
Uwe Eibich, Vorstand der CompuGroup Medical AG (CGM), forderte, dass die Patienten ihre ePA frei auswählen können. Derzeit muss der Versicherte nach dem Willen des Gesetzgebers die Akte seiner Krankenkasse nehmen. Zudem sei es wichtig, dass weitere medizinische Anwendungen, wie der Notfalldatensatz, der elektronische Medikationsplan oder das E-Rezept, schnell in die Fläche gelangten. Hier sei immer noch viel Überzeugungsarbeit bei den Ärzten zu leisten. „Neben der Technik muss vor allem auch in die Kommunikation investiert werden, zum Beispiel um Ärzte vom Nutzen dieser Neuerungen zu überzeugen“, sagte er. Darüber hinaus kritisierte er die derzeitige „Gesetzgebung aus fragmentierten Einzelteilen“. Ein Zielbild, das aus Sicht der Industrie für die Planung sehr wichtig wäre, fehle.
Auch die Sprecherin für Gesundheitspolitik und Mitglied des Gesundheitsausschusses von Bündnis 90/Die Grünen, Maria Klein-Schmeink, äußerte sich ähnlich: „Was hilft die ePA, wenn die Aufklärung der Patienten zu ihrem Nutzen fehlt?“, gab sie zu bedenken. Bisher seien die Maßnahmen fragmentarisch und arztlastig. Der Wille, auch die Bevölkerung mitzunehmen, sei nicht erkennbar. Auch würden andere Leistungserbringer, wie Physiotherapeuten oder Pflegekräfte, nicht berücksichtigt. „Gerade für längere, komplexere Behandlungen wäre das aber wichtig. Erst dann macht das Sinn“, meinte sie. „Es besteht eine große Lücke zwischen dem, was ist, und dem, was wir noch brauchen“, so das Fazit der Gesundheitspolitikerin.
Befürchtungen der Industrie
Bis Ende April hat die gematik eine weitere ePA-Spezifikation angekündigt, die Festlegungen für den mobilen Zugriff auf die ePA und für Authentisierungsverfahren ohne elektronische Gesundheitskarte enthalten soll. Der Bundesverband Gesundheits-IT (bvitg), der das bisherige ePA-Konzept der gematik bereits wegen der aus seiner Perspektive mangelnden IHE-Konformität (Integrating the Healthcare Enterprise) kritisiert hatte, befürchtet, dass es zu weiteren Zeitverzögerungen kommen könnte. „Sollte sich die Spezifikation nicht grundlegend geändert haben, ist eine Umsetzung der gematik-Akten inklusive Entwicklung und Zertifizierung bis 2021 fast unmöglich“, heißt es im bvitg-Monitor. Die Entwicklung werde deutlich aufwendiger, langwieriger und teurer als nötig.
Das Interesse der Menschen an einer Patientenakte scheint indessen groß. So berichtete Dr. Susanne Ozegowski, Techniker Krankenkasse (TK), dass sich wöchentlich circirca 7 000- bis 10 000 neue Nutzer für die elektronische Gesundheitsakte TK-Safe anmelden, dem Verläufer zur geplanten ePA nach
§ 291 a Sozialgesetzbuch V. Weitere Fortschritte in dem TK-Projekt: Über die Vernetzung mit derzeit 19 Krankenhäusern werden Entlassbriefe digital in der Akte gespeichert. Demnächst sollen ihr zufolge über den Kommunikationsdienst KV-Connect der Kassenärztlichen Vereinigungen auch Arztbriefe direkt in die Akte einfließen.
Kooperationen trotz Wettbewerb
TK, AOK und der Berliner Krankenhauskonzern Vivantes haben inzwischen auch eine einheitliche Schnittstelle für den Datenaustausch zwischen Gesundheitsakten fertiggestellt, die auf dem internationalen IHE-Standard basiert. Die Schnittstelle unterstützt erstmals kassenübergreifend die Vernetzung des Klinikkonzerns mit unterschiedlichen elektronischen Aktenlösungen und soll dazu beitragen, Insellösungen zu vermeiden.
Die AOK Nordost, die für das digitale Gesundheitsnetzwerk der AOK-Gemeinschaft auch eine Gesundheitsakte entwickelt, hat jüngst eine Kooperation mit CGM bekannt gegeben. Dabei soll eine direkte Integration des AOK-Netzwerks in die CGM-Gesundheitsplattform es Ärzten künftig ermöglichen, medizinische Informationen aus ihrer Praxisverwaltungssoftware unaufwendig an Patienten und an weitere Versorger wie etwa Krankenhäuser zu übermitteln. Durch die Kooperation können allein in Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Brandenburg potenziell fast 8 000 Ärzte am Gesundheitsnetzwerk teilnehmen, ohne eine eigene Software dafür anschaffen zu müssen, hieß es. Heike E. Krüger-Brand
Wo steht KI in der Versorgung?
Künstliche Intelligenz (KI) wird allgemein unterteilt in schwache und starke KI. Während sich schwache KI in der Regel mit konkreten Anwendungsproblemen beschäftigt, zielt eine starke KI darauf, die intellektuellen Fähigkeiten des menschlichen Gehirns zu erreichen oder zu übertreffen. Beispiele für schwache KI sind Bilderkennung und Navigation. Als Beispiele für starke KI gelten logisches Denkvermögen, Entscheidungsfähigkeit auch bei Unsicherheit sowie Planungs- und Lernfähigkeit. Ein Expertenpanel bei der DMEA diskutierte darüber, wo wir im Gesundheitswesen beim KI-Einsatz stehen.
- Beispiel Bildgebung: KI sei keine Fortsetzung des MRT und CT, sondern ermögliche, aus dem gleichen CT oder MRT „unendlich viel mehr Informationen daraus zu gewinnen als vorher“, meinte Dr. med. Franz Bartmann, ehemaliger Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein. „KI baut auf der klassischen Bildgebung auf und potenziert deren Möglichkeiten.“ Aber: „Wir sind längst noch nicht so weit, dass die Maschine die Entscheidung trifft.“ Ihm zufolge steht die KI noch in der Kontinuität bisheriger Technikentwicklung.
- KI biete eine zusätzliche Entscheidungsunterstützung für den Arzt, meinte der Neurochirurg Dr. med. Dietmar Frey, Charité – Universitätsmedizin Berlin. „Wir können aus vorhandenen Daten neue Erkenntnisse gewinnen. Es ist aber nicht vermittelbar oder erwünscht, dass KI dann die Entscheidung trifft.“ Beides – KI und der Mensch – lieferten die besten Ergebnisse. Allerdings bestehe die Herausforderung, ein sicheres Umfeld zu schaffen, um anonymisiert und pseudonymisiert die vorhandenen Datensilos zu nutzen – unter Wahrung der Patientenautonomie und der Patientenrechte.
- Dr. Roland Roller vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz verwies darauf, dass bei der Publikationsflut in Datenbanken wie Pubmed KI helfe, relevante Informationen zu finden oder medizinische Foren zu durchsuchen. Im Krankenhaus liege zudem ein riesiges Datenpotenzial, und auch außerhalb des Krankenhauses könnten beispielsweise Smartphones genutzt werden, um Daten zu gewinnen. Der Arzt in der Praxis und Klinik habe jedoch nur Zugriff auf einen Teil der Daten über seinen Patienten. „Ein ganzheitliches Bild würde in Diagnostik und Therapie sehr viel verbessern.“
- Auch „audio intelligence“ liefert neue Daten und Analysemöglichkeiten. Darauf verwies Dagmar Schuller, audEERING GmbH. Das Unternehmen analysiert das Audiosignal nach verschiedenen Merkmalen wie Stimme, Sprache und akustischer Umgebung. „Die Analyse umfasst nicht nur, was eine Person sagt, sondern auch wie“, erläuterte sie. Dies offenbare Emotionen, Stress und Ähnliches. Sprachassistenten wie Alexa oder mit Sensoren ausgestattete Handys erleichterten die Aufzeichnung. Diese KI-gestützte Analyse schließe die Lücke, die der Telepsychiatrie immer vorgeworfen worden sei, nämlich dass der Arzt nicht mit seinen fünf Sinnen am Patienten dran sei, meinte der Medizinrechtsexperte Prof. Dr. med. Dr. jur. Christian Dierks. „Jetzt hilft KI, das zu überbrücken. Der Arzt hört, wie sich der Patient fühlt.
- Laut Dierks liegt beim KI-Einsatz bereits heute eine Übertragung der ärztlichen Entscheidung vor. Wenn etwa eine Radiologiesoftware eine Sequenz von mehreren Hundert Bildern zu einem Patienten verarbeite und daraus einen Prescan von zehn Bildern mit Auffälligkeiten erstelle,verzichte der Radiologe auf den Rest der Bilder. „Wollte der Arzt eigenständig entscheiden, müsste er sich alle Bilder noch einmal ansehen. Dann braucht er aber die KI nicht“, so Dierks. Ihm zufolge nähern wir uns der Situation, „dass die Frage nicht mehr lautet, darf man KI einsetzen, sondern wie groß ist das Defizit, wenn wir vorhandene KI nicht einsetzen“. Herausforderungen seien die fragmentierte Datenschutzgesetzgebung, die derzeit keine einheitlichen Vorgaben für Forschung und Prävention zuließen, sowie eine Anpassung des Medizinprodukterechts, das für Produkte mit KI zu schwerfällig in der Zertifizierung sei.
TI-Neuigkeiten in Kürze
Derzeit sind etwa 70 000 Arzt- und Zahnarztpraxen an die Telematikinfrastruktur (TI) angeschlossen, berichtete Alexander Beyer, Geschäftsführer der gematik.
- Laut CGM-Vorstand Uwe Eibich soll es im Herbst 2019 ein Konnektor-Update geben, mit dem Notfalldaten und Medikationsplan auf die elektronische Gesundheitskarte gebracht werden können. Das Update enthält auch die qualifizierte elektronische Signatur und dient damit als Grundlage für weitere Anwendungen wie das E-Rezept. „Wir werden im Sommer mit der KV Westfalen-Lippe mit Notfalldaten und elektronischem Medikationsplan in den Feldtest gehen, wobei wir in Praxen und Kliniken mehr als 7 000 Testfälle generieren werden“, kündigte er an.
- Für die Anbindung von Gesundheitseinrichtungen an die TI werden zunehmend Lösungen für Rechenzentren entwickelt. So bietet etwa Concat einen „Konnektor-as-a-Service“ und künftig auch eine „TI-as-a-Service“ an. Die Konnektoren werden dabei nicht in der Praxis oder Ambulanz aufgestellt, sondern in einem Rechenzentrum. In einem Projekt mit dem Dialyseanbieter KfH und Akquinet werden derzeit an 224 KfH-Standorten Rechenzentrumskonnektoren installiert. Auch die Firma Arvato bietet Rechenzentrumslösungen an.
- Die Telekom Healthcare Solutions steht nach eigenen Angaben mit ihrer Telemedizinplattform TH-Med als eines der ersten freiwilligen Angebote der Industrie für die TI kurz vor der Zulassung durch die gematik. Die Infrastruktur dafür erprobt das Unternehmen seit Jahren in Ostsachsen, wo es eine Plattform für die integrierte Versorgung von Patienten mit Herzinsuffizienz, Schlaganfall und Parkinson aufgebaut hat. Die Vorteile einer TI-basierten Telemedizin: Mehr Sicherheit, weil die teilnehmenden Ärzte über den Konnektor kommunizieren und die Verzeichnisdienste der TI nutzen können. Auf der DMEA hat die Telekom auch eine Lösung für das E-Rezept vorgestellt.
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Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.am Sonntag, 21. April 2019, 10:04
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