BEKANNTGABEN DER HERAUSGEBER: Bundesärztekammer
Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie: Gutachten zur Gesprächspsychotherapie als wissenschaftliches Psychotherapieverfahren
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- siebzehn Kopien von "Originalarbeiten zur Effektivität der Gesprächs-psychotherapie", von denen sich jedoch lediglich wenige als Effektivitätsstudien herausstellten,
- achtundzwanzig Kopien von "Effektivitätsstudien über Kinder- und Ju-gendlichenpsychotherapien", von denen sich lediglich wenige als Effektivitätsstudien herausstellten.
Eine fundierte Beurteilung alleine aufgrund der schematischen Kurzdarstellungen der vorgelegten Übersicht von Prof. Sachse war nicht möglich. Der größte Teil der in der Übersicht aufgelisteten Studien wurde jedoch nicht als Originalarbeit vorgelegt. Der Wissenschaftliche Beirat hat von sich aus weitere Originalarbeiten zur Beurteilung herangezogen. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass aufgrund der unzureichenden Unterlagen Arbeiten übersehen wurden, die die Beurteilung der Gesprächspsychotherapie beeinflussen könnten. Die ansonsten vom Wissenschaftlichen Beirat erbetenen Informationen wurden in der eingereichten Dokumentation dargestellt. !
1. Definition
Die Gesprächspsychotherapie geht zurück auf die Arbeiten von Carl R. Rogers, der ein allgemeines
psychotherapeutisches Konzept im Sinne einer An-leitung zur besonderen Gestaltung der psychotherapeutischen
Beziehung oder des psychotherapeutischen Gesprächs entwickelte. Im Laufe der Jahre ist dieses therapeutische
Konzept weiterentwickelt und differenziert worden. Neben dem klassischen Vorgehen entstanden Ansätze, bei
denen der Therapeut stärker den therapeutischen Prozeß steuert, um spezifische Therapieziele zu fördern
beziehungsweise um den Besonderheiten einzelner Störungen oder einzelner Patienten gerecht zu werden. Dazu
werden zum Teil auch zusätzliche therapeutische Methoden zur Erweiterung der "Selbstexploration" oder der
Erlebnisfähigkeit des Patienten eingesetzt, die zum Teil aus einer Weiterentwicklung der
Gesprächspsychotherapie resultieren (zum Beispiel "experiencing"), zum Teil aus anderen Therapierichtungen,
vor allem der Gestalttherapie, übernommen wurden. Die Gesprächspsychotherapie ist demnach heute zwar im
Wesentlichen ein einheitlicher therapeutischer Ansatz, aber mit unterschiedlichen Ausprägungsformen. Eine
Differenzierung der Beurteilung nach den einzelnen Formen oder Ansätzen der Gesprächspsychotherapie wird
vom wissenschaftlichen Beirat nicht vorgenommen. Ansonsten spiegeln diese Differenzierungen die
Weiterentwicklung der Gesprächspsychotherapie wider, wie sie auch bei anderen Therapieformen zu finden ist.
Gesprächspsychotherapie wird vorwiegend in Form von Einzeltherapie, aber auch in Form von Gruppentherapie
durchgeführt. Für beide Formen liegen Effektivitätsstudien vor.
2. Indikationsbereich
Die Gesprächspsychotherapie ist im gesamten Spektrum psychischer und psychosomatischer Störungen
eingesetzt worden. Nach den Regeln der klassischen Gesprächspsychotherapie ist die Vorgehensweise bei den
einzelnen Störungen nicht unterschiedlich. In den stärker direktiv orientierten Weiterentwicklungen der
Gesprächspsychotherapie werden jedoch bei der Gestaltung der Therapie zunehmend Besonderheiten einzelner
Störungen berücksichtigt. Die Tatsache, dass unterschiedliche Störungen nicht oder nur bedingt zu einer jeweils
spezifischen Therapiegestaltung führen, kann grundsätzlich akzeptiert werden, befreit jedoch nicht von der
Notwendigkeit, die Wirksamkeit dieses relativ einheitlichen Vorgehens für jeden Indikationsbereich getrennt
nachzuweisen. Dazu Näheres unter Punkt 5. Auf Grundlage der vorgelegten Untersuchungen können keine
Aussagen zu Kontraindikationen und unerwünschten Wirkungen gemacht werden.
3. Theorie
Im Mittelpunkt der Störungstheorie der Gesprächspsychotherapie steht die psychische Entwicklung des
Menschen, die durch subjektive Erfahrungen, die gegebenenfalls mit dem eigenen Selbstbild oder mit Normen
konfligieren, beein-trächtigt wird, sodass es zu "Inkongruenzen" kommt. Diese Inkongruenzen kön-nen die
"Selbstregulation" des Menschen in unterschiedlichem Ausmaß und in unterschiedlichen Funktionsbereichen
beeinträchtigen.
Die zentrale Annahme einer Inkongruenz zwischen einem idealen Selbst-bild und realen (Selbst-)Erfahrungen ist
in verschiedenen Studien überprüft und bestätigt worden.
Die Störungstheorie ist unterschiedlich weiterentwickelt worden. In den letzten Jahren wurde vor allem versucht,
spezifische Bedingungen und Entwick-lungslinien für einzelne Störungen aufzuzeigen.
Psychologische und psychiatrische Forschungsergebnisse, vor allem zu den Besonderheiten einzelner
psychischer Störungen, die "außerhalb" der Ge-sprächspsychotherapie gewonnen wurden, sind in die
Störungstheorie der Ge-sprächspsychotherapie nicht ausreichend integriert worden. Dies ist jedoch nicht eine
Besonderheit der Gesprächspsychotherapie, sondern eine Folge der Schulenbildung im Bereich der
Psychotherapie insgesamt, die für fast alle Therapierichtungen jeweils bevorzugte und insofern einseitige
Theorienbildungen nahelegt.
Nach der Therapietheorie der Gesprächspsychotherapie wirkt das Verfah-ren vor allem dadurch, dass es beim
Patienten eine Klärung der konfligierenden, weitgehend vermiedenen Aspekte des Selbst fördert und damit eine
Integration dieser abgelehnten Aspekte ermöglicht. Vor allem durch die Entwicklung der so genannten
"zielorientierten Gesprächspsychotherapie" sind die theoretischen Grundlagen des therapeutischen
Änderungsprozesses unter Berücksichtigung der Ergebnisse psychologischer Grundlagenforschung, vor allem
aus dem Be-reich der Sprachpsychologie und der Kognitionspsychologie, wesentlich erweitert und differenziert
worden.
Die Relevanz der theoretisch postulierten Wirkvariablen, in erster Linie die Therapeutenvariablen Empathie,
Wertschätzung und Echtheit, aber auch weiterführende Annahmen über die "Explizierung", die Verdeutlichung
und Bewusstmachung psychischer Inhalte, konnte in verschiedenen Studien bestätigt werden.
Auch für die Therapietheorie ist festzustellen, dass für die verschiedenen Störungen ein weitgehend einheitlicher
Änderungsprozess unterstellt wird. Auch dies teilt allerdings die Gesprächspsychotherapie mit anderen
Psychotherapie-richtungen.
4. Diagnostik
In der gesprächspsychotherapeutischen Forschung wird Diagnostik zur Messung des Therapieerfolgs und zur
Untersuchung des therapeutischen Pro-zesses eingesetzt. Bei der Erfolgsmessung werden vorwiegend
Instrumente eingesetzt, die zum einen die speziellen, von der Theorie postulierten Veränderungen überprüfen
(zum Beispiel Q-Sort-Technik zur Messung von Ideal-Selbst-Diskrepanzen), zum andern vorwiegend allgemeine
Persönlichkeitsfragebögen oder Fragebögen zu einzelnen Persönlichkeitskonstrukten. Instrumente zur
Veränderung der Symptomatik werden seltener benutzt.
In der praktischen Anwendung der Gesprächspsychotherapie spielt die (Eingangs-)Diagnostik eine
untergeordnete Rolle. Dies entspricht der theoretischen Position der Gesprächspsychotherapie, nach der eine
Differenzierung des therapeutischen Vorgehens aufgrund unterschiedlicher Diagnosen nicht oder kaum
erforderlich ist. In neueren Entwicklungen der so genannten "differentiellen Gesprächspsychotherapie" werden
hingegen im Rahmen der Eingangsdiagnostik die vorliegenden Störungen diagnostiziert.
Die von der Gesprächspsychotherapie selber theoretisch geforderte Dia-gnostik ist Bestandteil der Therapie
selber: Die inhaltlichen Äußerungen des Patienten werden fortlaufend vom Therapeuten hinsichtlich der
theorierelevanten Aspekte analysiert, und die unmittelbare Antwort des Therapeuten wird darauf abgestimmt.
Inwieweit in der Praxis eine Differenzialdiagnostik durchgeführt wird, um Kontraindikationen von
Psychotherapie oder speziell von Gesprächspsychothera-pie auszuschließen, ist anhand der vorgelegten Studien
nicht beurteilbar.
5. Nachweis der Wirksamkeit
Unter Berücksichtigung der kontrollierten Studien mit gemischter Klientel kann für folgende
Anwendungsbereiche der wissenschaftliche Nachweis der Wirksamkeit der Gesprächspsychotherapie festgestellt
werden:
- Affektive Störungen
- Angststörungen
- Anpassungsstörungen, somatische Krankheiten.
6. Versorgungsrelevanz
Gesprächspsychotherapie wird seit langem in erheblichem Umfang zur stationären und zur ambulanten
psychotherapeutischen Behandlung eingesetzt. Das gilt in besonderem Ausmaß für die neuen Bundesländer.
Über die heilkundliche Anwendung hinaus spielt die Gesprächspsychotherapie auch in verschiedenen anderen
psychosozialen Dienstleistungen eine wesentliche Rolle.
7. Ausbildung
Von der Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie (GwG) ist seit Jahren ein differenziertes
Ausbildungskonzept entwickelt worden, nach dem sowohl die theoretischen Grundlagen als auch das praktische
therapeutische Vorgehen umfassend vermittelt werden. Dabei kann auf eine Großzahl von inzwischen erfahrenen
Dozenten und Supervisoren zurückgegriffen werden.
8. Zusammenfassende Stellungnahme
Insgesamt kann demnach festgestellt werden, dass es sich bei der Gesprächspsychotherapie um ein theoretisch
hinreichend fundiertes Therapieverfahren handelt, das für die Bereiche Affektive Störungen, Angststörungen
sowie Anpassungsstörungen und somatische Krankheiten als wissenschaftlich anerkannt gelten kann.
Die Gesprächspsychotherapie kann jedoch nicht als Verfahren für die vertiefte Ausbildung zum Psychologischen
Psychotherapeuten entsprechend § 1 Abs. 1 der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Psychologische
Psychotherapeuten empfohlen werden, da dieses Therapieverfahren nicht für die Mindestzahl von fünf der zwölf
Anwendungsbereiche der Psychotherapie des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie (siehe separate
Veröffentlichung) beziehungsweise für mindestens vier der klassischen Anwendungsbereiche als
wissenschaftlich anerkannt gelten kann.
Köln, den 30. 9. 1999
Prof. Dr. J. Margraf (Vorsitzender)
Prof. Dr. S. O. Hoffmann
(Stellvertretender Vorsitzender)
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