MEDIZIN: Originalarbeit
Sexueller Missbrauch durch katholische Kleriker
Retrospektive Kohortenstudie zum Ausmaß und zu den gesundheitlichen Folgen der betroffenen Minderjährigen (MHG-Studie)
Sexual abuse at the hands of Catholic clergy—a retrospective cohort study of its extent and health consequences for affected minors (The MHG Study)
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Hintergrund: Nach dem Bekanntwerden von sexuellen Missbrauchsfällen innerhalb der katholischen Kirche hatte die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) ein interdisziplinär besetztes Konsortium mit der Forschung zur Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs durch katholische Kleriker in Deutschland beauftragt (MHG-Studie).
Methode: Es wurden qualitative und quantitative Forschungsmethoden angewandt und die Thematik in sieben Teilprojekten analysiert. Zur Bestimmung der Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs wurden 38 156 Personalakten von Klerikern aus dem Zeitraum von 1946 bis 2014 untersucht und die epidemiologischen Ergebnisse dieser Auswertungen dargestellt.
Ergebnisse: 1 670 Kleriker, die des sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen beschuldigt waren, wurden anhand von Personalakten identifiziert. Die Quote beschuldigter Kleriker betrug 4,4 %. 3 677 von sexuellem Missbrauch Betroffene konnten ermittelt werden. Die Betroffenen waren in 62,8 % männlich und in 66,7 % unter 14 Jahre alt. Die Dauer des individuellen Missbrauchsgeschehens betrug im Durchschnitt 1,3 Jahre. In über 80 % der Fälle lagen „hands on“-Delikte (Handlungen mit Körperkontakt) vor. Die gesundheitlichen und sozialen Folgen waren für viele Betroffene erheblich, wobei Ängste, Depressionen, Misstrauen, sexuelle Probleme und Kontaktschwierigkeiten am häufigsten genannt wurden.
Schlussfolgerung: Die ermittelten Zahlen sind als untere Schätzgröße des tatsächlich geschehenen Missbrauchs anzusehen. Asymmetrische Machtverhältnisse und ein geschlossenes System, wie es bei der katholischen Kirche vorherrscht, können einen sexuellen Missbrauch begünstigen. Ärzte spielen sowohl bei der Diagnostik und der therapeutischen Begleitung von Betroffenen als auch bei der Diagnostik und der Therapie von tatgeneigten Personen und Missbrauchstätern sowie bei der Mitwirkung an Präventionskonzepten eine besondere Rolle.


Sexueller Missbrauch von Kindern ist ein weltweit verbreitetes Problem mit hohen Prävalenzen von 18 % bei Mädchen und 7,6 % bei Jungen (1). Abhängig von unterschiedlichen Einschlusskriterien und Erhebungsmethoden ergeben sich höhere oder niedrigere Angaben zur Lebenszeitprävalenz (2). Die Auswirkungen von sexuellen Missbrauchsdelikten können erheblich sein und umfassen unmittelbare bis mittelbare sowie kurzfristige und langfristige Folgen. Die Wahrscheinlichkeit einer schlechten gesundheitlichen Verfassung steigt, je früher im Leben der sexuelle Missbrauch stattfindet (3). Zahlreiche Studien verweisen – im Vergleich zu sonstigen Straftaten – auf eine erhöhte Prävalenz beziehungsweise eine stärkere Ausprägung von posttraumatischen Belastungsstörungen bei Opfern sexuellen Kindesmissbrauchs (4). Angststörungen, Depressionen, suizidales Verhalten, Schlaf- und Essstörungen sind weitere Folgen, die mit erlebten Missbrauchsdelikten in der Kindheit assoziiert sein können (5). Außerdem berichten Studien von einem Zusammenhang zwischen einem erlittenen sexuellen Missbrauch und späterem Substanzmissbrauch sowie selbstschädigendem Verhalten im Zuge maladaptiver Bewältigungsstrategien (6).
Sexueller Kindesmissbrauch findet am häufigsten in Familien, gefolgt von Institutionen, statt (7). Systematische Untersuchungen über die Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs im institutionellen Kontext liegen weltweit überwiegend für die katholische Kirche vor (8). Auch wenn es innerhalb der Institution der katholischen Kirche einige spezifische Strukturen und Dynamiken gibt, die als Risikofaktoren für sexuellen Missbrauch anzusehen sind (9), können Erkenntnisse zu Missbrauchsgeschehen in der katholischen Kirche auch exemplarisch für den Umgang mit sexuellem Missbrauch in anderen Institutionen genutzt werden. Vergleichbare Angaben zur Häufigkeit sexueller Viktimisierung von Kindern in zum Beispiel der evangelischen Kirche oder anderen Institutionen liegen bisher nicht vor (10). Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es, herauszuarbeiten, wie die Erkenntnisse der MHG-Studie in der ärztlichen Praxis umgesetzt werden können.
Methode
In der vorliegenden Arbeit werden epidemiologische Daten berichtet, die sich aus einer Personalaktenanalyse von Angehörigen des Klerus ergaben. Betrachtet wurden alle in dem Untersuchungszeitraum von 1946 bis 2014 aktiven oder im Ruhestand befindlichen Kleriker sowie deren minderjährige Opfer des sexuellen Missbrauchs. Zu den Klerikern zählten katholische Priester („Diözesanpriester“), hauptamtliche Diakone und Ordenspriester im Gestellungsauftrag, das heißt Priester katholischer Orden, die vorübergehend oder dauerhaft Priesterfunktionen im Verantwortungsbereich der DBK ausübten. Eine ausführliche Darstellung der Methodik findet sich im eMethodenteil.
Ergebnisse
Beschuldigte Kleriker
Hinweise auf Anschuldigungen des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen fanden sich bei insgesamt 1 670 Personen. Dies entspricht einem Anteil von 4,4 % an der untersuchten Population. Bei Diözesanpriestern betrug der entsprechende Anteil 5,1 %, bei hauptamtlichen Diakonen 1,0 % und bei Ordenspriestern im Gestellungsauftrag 2,1 % (Tabelle 1). Der Unterschied zwischen den Anteilen beschuldigter Diözesanpriester und beschuldigter Diakone war statistisch signifikant (χ2 = 78,6607; p < 0,0001).
Bei 1 485 Beschuldigten (88,9 %) bestanden Angaben zu ihrem Alter bei der angeschuldigten ersten Missbrauchstat. Das mittlere Alter betrug 42,6 Jahre (SD = 11,4 Jahre, 95-%-Konfidenzintervall [KI]: [42,0; 43,1]) mit einer Spanne von 20 bis 82 Jahren.
Bei 472 der belasteten Kleriker (28,3 %) gab es Hinweise auf einen sexuellen Missbrauch von mindestens zwei Minderjährigen, die höchstens 13 Jahre alt waren, und auf ein Missbrauchsgeschehen, das sich über mehr als sechs Monate hinzog. Diese 472 Kleriker waren bei der Ersttat statistisch signifikant jünger (das heißt zwischen 20 und 39 Jahren alt) als solche, die diese Konstellation nicht aufwiesen (χ2 = 14,284; p < 0,001). Aus den Personalakten ergab sich, dass in 38,3 % eine Strafanzeige erfolgte. Aus einer gesondert durchgeführten Strafaktenanalyse geht hervor, dass 67,1 % der Strafverfahren eingestellt wurden, überwiegend wegen Verjährung. Sofern eine rechtskräftige Entscheidung des Gerichts vorlag, gab es nur in einem einzigen Fall einen Freispruch.
Im Untersuchungszeitraum besteht das Maximum an beschuldigten Klerikern in den 1960er bis 1980er Jahren, wobei sich bis zum Ende der Erhebungsperiode im Jahre 2014 jedoch neue Erstbeschuldigungen finden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die absolute Zahl der Kleriker in den letzten Jahren deutlich abgenommen hat.
Betroffene
Den Beschuldigten konnte eine Gesamtzahl von 3 677 sexuell missbrauchten Minderjährigen zugeordnet werden. Bei 706 (42,3 %) der 1 670 Belasteten wurden Hinweise auf mutmaßlich sexuelle Missbrauchshandlungen an mehr als einem Minderjährigen identifiziert („Mehrfachbeschuldigte“). Bei 902 beschuldigten Klerikern (54,0 %) lagen Hinweise auf jeweils einen einzelnen missbrauchten Minderjährigen vor („Einmalbeschuldigte“). Bei 62 Beschuldigten (3,6 %) konnte die Anzahl der jeweiligen Betroffenen nicht bestimmt werden.
Die mittlere Anzahl von Missbrauchsopfern über alle Beschuldigten hinweg betrug 2,5 (SD = 3,5 Betroffene; 95-%-KI: [2,4; 2,7]). Bei alleiniger Betrachtung der 706 Mehrfachbeschuldigten bezifferte sich die mittlere Anzahl an Betroffenen pro Beschuldigtem auf 4,7 (SD = 4,5 Betroffene; 95-%-KI: [4,4; 5,0]).
Von den insgesamt ermittelten 3 677 sexuell Missbrauchten waren 2 309 männlich (62,8 %) und 1 284 weiblich (34,9 %). Bei 84 Betroffenen (2,3 %) lagen keine Informationen zum Geschlecht vor.
Bei 2 847 Betroffenen (77,4 %) lagen Daten zum Alter beim ersten sexuellen Missbrauch vor; im Mittel ergab sich ein Alter von 12,0 Jahren (SD = 3,1 Jahre; 95-%-KI: [11,9; 12,2]). Zwei Drittel dieser Betroffenen waren beim ersten sexuellen Missbrauch 13 Jahre alt oder jünger (n = 1 899; 66,7 %) (Tabelle 2). Das Geschlechterverhältnis von einem Drittel weiblicher gegenüber zwei Drittel männlicher Betroffener unterschied sich in beiden Altersgruppen nicht.
Bei 2 993 Betroffenen (81,4 %) lagen Angaben zum Jahr des Beginns und dem Jahr des Endes des jeweiligen Missbrauchsgeschehens vor, beziehungsweise die Information, dass es sich um eine einmalige Tat handelte. Aus diesen Daten ließ sich die ungefähre Dauer des Geschehens im jeweiligen Einzelfall berechnen. Die errechnete mittlere Dauer der individuellen Missbrauchsverläufe betrug 1,3 Jahre (SD = 2,3 Jahre; 95-%-KI: [1,3; 1,5]).
Tathandlungen
Bei 3 388 Betroffenen (92,1 %) waren Angaben zur Art der Missbrauchshandlungen vorhanden (Tabelle 3). Dabei waren Mehrfachnennungen möglich. Es handelte sich in mindestens 582 Fällen um genitale oder manuelle Penetration (15,8 % aller Betroffenen beziehungsweise 17,2 % der Betroffenen mit Angaben zur Art). In 1 360 Fällen lagen in irgendeiner Form Masturbationshandlungen vor (37,0 % aller Betroffenen beziehungsweise 40,1 % der Betroffenen mit Angaben zur Art).
Tatfolgen
Tabelle 4 zeigt die Spannbreite der möglichen gesundheitlichen Auswirkungen. Bei mindestens 244 Betroffenen (6,6 % aller Betroffenen beziehungsweise 23,7 % der Betroffenen mit Angaben zu gesundheitlichen Folgen) weist die Clusterung der Items auf eine Symptomatik im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung hin. Da eine standardisierte Erhebung und Dokumentation der Befunde im vorliegenden Kontext nicht stattfand, war das Stellen einer validen klinischen Diagnose nicht möglich.
Bei 890 Betroffenen (24,3 %) bestanden Informationen zu Problemen hinsichtlich sozialer Bereiche. Dokumentiert waren Probleme in Beziehungen (53,1 %), im Sexualleben (43,0 %), dem beruflichen Werdegang (34,2 %) und bezüglich der gesellschaftlichen Teilhabe (32,5 %).
Daneben wurden Kirchenaustritte von 144 Betroffenen (3,9 %) angegeben. Mindestens 626 Betroffene (17,0 %) ließen sich in Anbetracht der Tatfolgen psychiatrisch oder psychotherapeutisch behandeln. Aufgrund der nichtstandardisierten Dokumentation kann von einer Unterschätzung der wahren Behandlungsprävalenz ausgegangen werden.
Bei 348 Betroffenen (9,5 %) lagen Informationen über den Schweregrad der gesundheitlichen oder sozialen Tatfolgen vor, wobei die Einstufung nicht nach standardisierten Kriterien erfolgte. Die Tatfolgen wurden in der überwiegenden Zahl der Fälle als schwerwiegend eingeschätzt (Tabelle 5).
Diskussion
Die Methode unterlag Einschränkungen hinsichtlich der Standardisierung, Validität und Reliabilität des Datenmaterials. Dabei ist davon auszugehen, dass das ganze Ausmaß des Missbrauchsgeschehens durch Kleriker nicht abgebildet wurde. Nicht alle entsprechenden Vorkommnisse wurden dokumentiert und eine unbekannte Anzahl von Akten war zum Studienbeginn nicht mehr vorhanden oder nicht mehr vollständig. Daraus resultierte zum einen ein Unterschätzen der Anzahl beschuldigter Kleriker und minderjähriger Missbrauchsopfer. Zum anderen ergab sich eine Vielzahl von fehlenden Angaben zu einzelnen Aspekten in den Erfassungsbögen, die als solche vermerkt wurden. Alle Informationen wurden in anonymisierter Form an das Forschungskonsortium zur Auswertung weitergeleitet, sodass die Einschätzung der Beurteiler nicht überprüft werden konnte. Da die Akten von Rechercheteams der Diözesen ausgewertet wurden, sind weder ein Interessenkonflikt noch ein unvollständiges Übermitteln von Informationen auszuschließen. Eine quantitative Schätzung dieses Bias ist nicht möglich. Dabei ist anzumerken, dass sich in 50 % der Missbrauchsfälle, die durch die katholische Kirche selbst als plausibel eingeschätzt wurden, keine entsprechenden Hinweise in den Personalakten oder sonstigen Dokumenten fanden. Trotz dieser Limitationen konnte eine sehr große Stichprobe analysiert und eine Fülle bisher unbekannter empirischer Befunde zusammengetragen werden.
Die für den Zeitraum von 1946 bis 2014 ermittelten Zahlen von 1 670 Klerikern, die des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen beschuldigt waren, sowie die diesen Beschuldigten zugeordnete Zahl von 3 677 Betroffenen sind als untere Schätzgröße des tatsächlich stattgefundenen Missbrauchsgeschehens anzusehen. Auch wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass einige Kleriker falsch beschuldigt wurden, so ist aufgrund von Erkenntnissen der Dunkelfeldforschung davon auszugehen, dass einer geringen Anzahl von möglichen Falschbeschuldigungen eine wesentlich höhere Zahl von nicht entdeckten Fällen gegenübersteht (11). Eine aktuelle Übersichtsarbeit zeigt, dass Studien zur Häufigkeit von falschen Beschuldigungen keine belastbaren Prävalenzschätzungen erlauben und die weit überwiegende Zahl solcher Beschuldigungen doch der Wahrheit entspricht (12). Die Erkenntnisse der MHG-Studie können einen Beitrag leisten, um professionelle Zugänge für das Gesundheitssystem zum Umgang mit sexuellem Missbrauch im institutionellen Kontext zu schaffen (13). Neben allgemeinen Mechanismen, die den sexuellen Missbrauch in Institutionen begünstigen (zum Beispiel asymmetrische Machtverhältnisse oder ein geschlossenes System), sind bei der katholischen Kirche auch spezifische risikoreiche Konstellationen zu bedenken. Dazu gehören der Missbrauch klerikaler Macht, eine restriktive katholische Sexualmoral, eine problematische Einstellung zur Homosexualität sowie ein problematischer Umgang mit dem Zölibat und dem Beichtgeheimnis (14). Ob es spezifische Risikokonstellationen für sexuellen Missbrauch von Kindern in der evangelischen Kirche oder anderen Institutionen gibt, wurde bisher nicht umfassend untersucht. Auffällig ist der – im Vergleich zu anderen Institutionen – sehr hohe Anteil missbrauchter Jungen im Verantwortungsbereich der katholischen Kirche. Das wirft Fragen im Hinblick auf die Bedeutung der katholischen Sexualmoral und ihrer Verlautbarungen zur Homosexualität auf. Ärzte sollten Kenntnisse über allgemeine und spezifische Risikokonstellationen bezüglich der Thematik des institutionellen sexuellen Missbrauchs von Kindern haben, da sie sowohl für Betroffene wie auch für Tatgeneigte und Täter Ansprechpartner sein können. Ärztliche Expertise kann zudem bei Präventionsprogrammen gefragt sein oder bei der Intervention, wenn es um den konkreten Schutz eines gefährdeten Kindes geht.
In der Gruppe der Betroffenen zeigen die Ergebnisse der vorliegenden Studie, dass sich vielfältige gesundheitliche und soziale Beeinträchtigungen finden. In Anbetracht des Fehlens einer Kontrollgruppe können allerdings keine kausalen Beziehungen zum erlittenen sexuellen Missbrauch hergestellt werden. Da die Informationen nicht aus medizinischen oder psychologischen Berichten stammen, sondern den Personalakten der Kleriker entnommen wurden, können auch keine Diagnosen nach ICD-10 (ICD, International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) gestellt werden. Während sich jedoch in der deutschen Allgemeinbevölkerung in einer aktuellen Untersuchung nur eine Prävalenz depressiver Störungen von 6,4 % fand (15), betrug der Anteil – sofern entsprechende Angaben vorlagen – bei den Missbrauchsopfern 42,4 % beziehungsweise 11,9 % für die gesamte Gruppe der Betroffenen. Auch für die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung ergab sich in der Gruppe der Betroffenen eine deutlich höhere Prävalenz. Diese belief sich auf 23,7 % der Betroffenen, wenn entsprechende Angaben bestanden, beziehungsweise 6,6 % für die gesamte Gruppe der Betroffenen. Für die posttraumatische Belastungsstörung ist in der deutschen Allgemeinbevölkerung eine Prävalenz von 2,9 % berichtet (16). Bemerkenswert ist, dass in den Unterlagen, die im Rahmen der vorliegenden Studie ausgewertet wurden, nur für knapp ein Drittel der Betroffenen Informationen über gesundheitliche und soziale Folgen dokumentiert waren. Aus den fehlenden Angaben kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass entsprechende Sachverhalte nicht vorlagen, sondern lediglich, dass keine entsprechenden Informationen verfügbar wurden.
Kinder und Jugendliche sind in geschlossenen institutionellen Systemen häufig von sexualisierter Gewalt betroffen (17, 18). Es ist eine wichtige ärztliche Aufgabe, für eventuelle Missbrauchsfolgen sensibilisiert zu sein und durch eine behutsame Anamnese mögliche Traumatisierungen frühzeitig zu erkennen, diagnostisch zu erfassen und gegebenenfalls notwendige, weitere Schritte einzuleiten.
Die Wege, auf denen ein Arzt Informationen, über einen sexuellen Missbrauch erhält, können sehr unterschiedlich sein. Sie können zum Beispiel vom Kind selbst oder dessen Bezugspersonen stammen. Denkbar ist auch, dass ein Arzt aufgrund unspezifischer Symptome, die er bei einem Minderjährigen feststellt, einen sexuellen Missbrauch vermutet. Solche unspezifischen Symptome können bei Kindern zum Beispiel Ängstlichkeit, Aggressivität, Leistungsabfall in der Schule, Rückzugstendenzen oder psychosomatische Beschwerden sein (7). Unter Umständen können Informationen über einen sexuellen Missbrauch auch anonym an einen Arzt herangetragen werden. Bei begründetem Verdacht sollte eine sichere Umgebung als Sofortmaßnahme hergestellt werden. Der individuelle Therapiebedarf sollte dann zeitnah von einem Kinder- und Jugendpsychiater eingeschätzt werden (7). Zu bedenken ist dabei, dass sich viele Betroffene gar nicht oder erst nach Jahrzehnten offenbaren und unter vielfältigen psychischen und körperlichen Symptomen leiden. Die Möglichkeit eines erlittenen Missbrauchs im Kontext der katholischen Kirche ist deshalb auch bei Erwachsenen in Betracht zu ziehen und bei unklarer Ätiologie gegebenenfalls behutsam zu explorieren. Dabei kann zunächst darauf hingewiesen werden, dass eine gegebene Symptomatik bei manchen Patienten auch als Folge eines Missbrauchs auftreten kann. Abhängig von der Reaktion des Patienten können dann potenzielle Missbrauchssituationen über Fragen zur Biografie exploriert werden. Die Kunst des ärztlichen Gesprächs besteht darin, möglichst konkrete Informationen zu erhalten, dabei an eine mögliche Reaktualisierung einer posttraumatischen Symptomatik zu denken und keine suggestiven Fehlerinnerungen hervorzurufen.
Im Hinblick auf die beschuldigten Kleriker ist zu beachten, dass Ärzte auch mit dieser Personengruppe in einen professionellen Kontakt kommen können; möglicherweise zu einem Zeitpunkt, in dem ein Kleriker nur tatgeneigt, aber noch nicht zum Täter geworden ist. Hier kann Prävention ansetzen: zum Beispiel können Mediziner im Rahmen einer umfassenden Sexualanamnese mögliche risikoreiche Konstellationen frühzeitig erkennen und daraufhin spezifische sexualtherapeutische Maßnahmen einleiten. Als Ansprechpartner eignet sich das Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“. Ärzte sind angehalten, sich bei der Diagnostik, Intervention und Prävention von sexuellen Missbrauchsfällen immer als Partner in einem interdisziplinären Team zu verstehen und auch Justiz, staatliche Behörden und Beratungsstellen einzubeziehen.
Aufgrund der Studienmethodik ist auch bezüglich der beschuldigten Kleriker in den meisten Fällen keine sichere diagnostische Einordnung möglich, sodass Überlegungen hinsichtlich Motivation und Typologie nur sehr vorsichtig vorgenommen werden dürfen. Es kann für die Praxis hilfreich sein, wenn man von einem Kontinuum von Tätern und tatgeneigten Personen ausgeht. Dieses Kontinuum reicht von einem fixiertem Typus mit einer pädophilen Präferenzstörung bis hin zu regressiven Tätern oder Tatgeneigten mit zum Beispiel einer unreifen oder narzisstischen Persönlichkeitsproblematik.
Die katholische Kirche hat zwar mittlerweile in allen Diözesen mit dem Implementieren von Präventions- und Schutzkonzepten auf den Missbrauchsskandal reagiert. Die Umsetzung ist jedoch ausgesprochen heterogen. Es fehlt bisher eine Fokussierung der Präventionsarbeit auf die spezifischen Risikokonstellationen des sexuellen Missbrauchs durch Kleriker (19). Sofern Evaluationsstudien erfolgt sind, stellten diese überwiegend einen Effekt der jeweiligen Präventionsprogramme zugunsten der Interventionsgruppe fest (20). Eine Evaluation der kirchlichen Präventionsarbeit, die wissenschaftlichen Kriterien genügt, steht bisher aus.
Vergleichbare Prävalenzen beschuldigter Kleriker wie in der MHG-Studie mit 4,4 % finden sich auch in den USA (4 %) und Australien (7 %) (Tabelle 6).
Die Ähnlichkeit der Prävalenzen unterstreicht, dass sexueller Missbrauch durch katholische Kleriker ein weltweit verbreitetes Phänomen ist und auch entsprechende Reaktionen der jeweiligen Gesundheitssysteme verlangt.
Förderung
Die Studie wurde von der Deutschen Bischofskonferenz und dem Verband der Diözesen Deutschlands gefördert.
Interessenkonflikt
Alle Autoren bekamen Studienunterstützung und Reisekostenerstattung vom Verband der Diözesen Deutschlands und der Deutschen Bischofskonferenz.
Manuskriptdaten
eingereicht: 12. 12. 2018, revidierte Fassung angenommen: 28. 3. 2019
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Harald Dreßing
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit,
Medizinische Fakultät Mannheim,
Universität Heidelberg, J 5, 68159 Mannheim
harald.dressing@zi-mannheim.de
Zitierweise
Dreßing H, Dölling D, Hermann D, Kruse A, Schmitt E, Bannenberg B, Hoell A,
Voss E, Salize HJ: Sexual abuse at the hands of Catholic clergy—a retrospective cohort study of its extent and health consequences for affected minors (The MHG Study).
Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 389–96. DOI: 10.3238/arztebl.2019.0389
►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de
Zusatzmaterial
eMethodenteil:
www.aerzteblatt.de/19m0389 oder über QR-Code
Prof. Dr. med. Harald Dreßing, Andreas Hoell, Dr. phil. Elke Voss, Prof. Dr. sc. hum. Hans Joachim Salize
Institut für Kriminologie, Universität Heidelberg:
Prof. Dr. iur. Dieter Dölling, Prof. Dr. phil. Dieter Hermann
Institut für Gerontologie Universität Heidelberg:
Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Dipl.-Psych. Andreas Kruse, Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. Eric Schmitt
Universität Gießen: Prof. Dr. iur. Britta Bannenberg
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Gann, Horst
Häring, Martina
Dreßing, Harald
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