ArchivDeutsches Ärzteblatt PP8/2019Aaron Antonovsky: Vater der Salutogenese

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Aaron Antonovsky: Vater der Salutogenese

Goddemeier, Christof

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Vor 25 Jahren starb der israelisch-amerikanische Medizinsoziologe. Er entwickelte das salutogenetische Modell, das sich – im Gegensatz zur Pathogenese – mit der Frage befasst, welche Faktoren einen Menschen relativ gesund halten.

„Bedauerliche Dinge geschehen nun einmal im Leben, aber wenn sie dann auftreten, wird man mit ihnen umgehen können und nicht endlos trauern.“ Aaron Antonovsky. Foto: Alchetron.com
„Bedauerliche Dinge geschehen nun einmal im Leben, aber wenn sie dann auftreten, wird man mit ihnen umgehen können und nicht endlos trauern.“ Aaron Antonovsky. Foto: Alchetron.com

Seinen eigenen Worten zufolge geschah 1970 etwas, das den Medizinsoziologen Aaron Antonovsky nachdrücklich beeinflusste. Bei einer Untersuchung der Frage, wie Frauen verschiedener ethnischer Gruppen sich an das Klimakterium anpassen, enthielt der Fragebogen auch eine Ja/Nein-Frage zum Aufenthalt in einem Konzentrationslager. Die Untersuchung ergab unter anderem, dass 29 Prozent der Frauen, die den Aufenthalt in einem Konzentrationslager überlebt hatten, über eine gute psychische Gesundheit verfügten. „Den absolut unvorstellbaren Horror des Lagers durchgestanden zu haben, anschließend jahrelang eine deplatzierte Person gewesen zu sein und sich dann ein neues Leben in einem Land (…) aufgebaut zu haben, das drei Kriege erlebte … und dennoch in einem angemessenen Gesundheitszustand zu sein! Dies war für mich die dramatische Erfahrung (...).“

Sie führte zur Entwicklung des salutogenetischen Modells und 1979 zur Veröffentlichung des Buches „Health, Stress and Coping“. Nach jahrzehntelanger Forschung, warum etwa nach kritischen „life events“ oder Mangelerfahrungen Gesundheitsstörungen auftreten und welche Risiko- und Belastungsfaktoren bestehen, lautete nun die grundlegende Frage: Welche Faktoren ermöglichen Menschen, relativ gesund zu bleiben?

Dabei unterscheiden sich pathogenetischer und salutogenetischer Ansatz grundsätzlich: Während der erste davon ausgeht, dass normalerweise selbstregulierende, homöostatische Prozesse bei einer Krankheit entreguliert werden, sind bei letzterem Heterostase, Unordnung und ständiger Druck in Richtung zunehmender Entropie für lebende Organismen charakteristisch. Antonovsky kommt zu dem Schluss, dass „Krankheit, wie auch immer sie definiert ist, keineswegs ein unübliches Ereignis ist“. Entsprechend formuliert er keine Dichotomie von Gesundheit und Krankheit, sondern ein „Gesundheits-Krankheits-Kontinuum“ und spricht von „health – dis-ease – disease“ (Gesundheit – Un-behagen – Krankheit): „Wir sind alle sterblich. Ebenso sind wir alle, solange noch ein Hauch von Leben in uns ist, in einem gewissen Ausmaß gesund.“

1923 wird Aaron Antonovsky in Brooklyn, New York, geboren. Während des Zweiten Weltkriegs unterbricht er sein Studium der Geschichte und Wirtschaft. Eher zufällig kommt er mit Medizinsoziologie und Stressforschung in Kontakt. Nach dem Krieg studiert er Soziologie und wird promoviert. 1960 zieht er mit seiner Frau Helen nach Israel und arbeitet am Institut für angewandte Sozialforschung in Jerusalem.

Den Befund, dass 29 Prozent der Frauen, die im Konzentrationslager gewesen waren, sich dennoch gut an die Menopause angepasst hatten, erklärt Antonovsky zunächst mit dem Konzept der „hardiness“. Diese „Abhärtung“ besteht aus drei Komponenten: der Fähigkeit, seine Gefühle zu beherrschen, der Überzeugung, im Leben Verpflichtungen zu haben, sowie der Bereitschaft, Veränderungen als eine Herausforderung zu begreifen.

In den folgenden Jahren widmet Antonovsky sich weiterhin der Anpassung an bestimmte Altersstufen. Dabei interessiert ihn vor allem der Teil der Bevölkerung, der eine bestimmte Krankheit oder Störung nicht hat. Vier Jahre forscht er über Menschen, die mit 65 Jahren pensioniert werden, und vergleicht sie mit einer Gruppe Berufstätiger im Alter von 60 bis 65 Jahren. Schließlich formuliert er einen gemeinsamen Nenner, den er bei den relativ gesunden Teilgruppen identifiziert, und nennt ihn „sense of coherence“ (SOC, Kohärenzgefühl). Dabei handelt es sich um eine „generalisierte Art, die Welt und das eigene Leben in ihr zu sehen“. Anfangs konzipiert er das Kohärenzgefühl vor allem kognitiv. Inspiriert von der Informationstheorie unterteilt er die Wahrnehmung von Stimuli in Information und Rauschen und spricht von einer „Art, die Welt (…) als vorhersehbar und verstehbar wahrzunehmen“ (1979).

Später definiert er „Verstehbarkeit“ als „Ausmaß, in welchem man interne und externe Stimuli als kognitiv sinnhaft wahrnimmt. (…) Die Person mit einem hohen Maß an Verstehbarkeit geht davon aus, dass Stimuli, denen sie in Zukunft begegnet, vorhersagbar sein werden oder dass sie zumindest, sollten sie überraschend auftreten, eingeordnet und erklärt werden können.“ Die zweite Komponente nennt er „Handhabbarkeit“ und beschreibt sie als „Ausmaß, in dem man wahrnimmt, dass man geeignete Ressourcen zur Verfügung hat, um den Anforderungen zu begegnen, die von den Stimuli ausgehen, mit denen man konfrontiert wird.“ Menschen mit einem hohen Maß an Handhabbarkeit werden sich nicht durch Lebensereignisse in eine Opferrolle drängen lassen oder sich vom Leben ungerecht behandelt fühlen: „Bedauerliche Dinge geschehen nun einmal im Leben, aber wenn sie dann auftreten, wird man mit ihnen umgehen können und nicht endlos trauern.“

Bedeutsamkeit, die dritte Komponente des Kohärenzgefühls, meint schließlich das Ausmaß, in dem man das Leben emotional als sinnvoll empfindet: „(...) dass wenigstens einige der vom Leben gestellten Probleme und Anforderungen es wert sind, dass man Energie in sie investiert, (…) dass sie eher willkommene Herausforderungen sind als Lasten, die man gerne los wäre.“

Für Antonovsky liegt zunächst die Annahme nahe, dass die drei Komponenten eng miteinander verbunden sind. Tatsächlich finden sich bei einer nationalen Befragung in Israel hohe Korrelationen. Doch durch Lebenserfahrungen können Menschen auch hohe Werte in einem Bereich und niedrige in einem anderen aufweisen. Ein geringes Maß an Verstehbarkeit und ein hohes Maß an Handhabbarkeit sind Antonovsky zufolge dabei wenig wahrscheinlich: „In einer Welt zu leben, die man für chaotisch und unberechenbar hält, macht es (…) schwer zu glauben, dass man gut zurechtkommt.“ Doch ein hohes Maß an Verstehbarkeit bedeutet nicht unbedingt, dass man glaubt, die Herausforderungen des Lebens gut handhaben zu können. Diesen Typ bezeichnet Antonovsky als „inhärent instabil“. Ist in diesem Fall die Komponente Bedeutsamkeit gering ausgeprägt, wird das eher zu einer Schwächung des Kohärenzgefühls führen; eine starke Bedeutsamkeit wird dagegen auch das Kohärenzgefühl insgesamt stärken.

Dabei ziehen nahezu alle Menschen Grenzen, die einen weiter, die anderen enger. Personen mit einem starken Kohärenzgefühl empfinden demnach nicht die gesamte sie umgebende Welt als kohärent: „Was sich außerhalb dieser Grenzen abspielt, kümmert uns einfach nicht sehr und ist für uns nicht wichtig, egal ob verstehbar, handhabbar und bedeutsam oder auch nicht.“ Wir alle sind täglich zahlreichen Stimuli ausgesetzt. Wann definieren wir einen Stimulus als Stressor? Laut Antonovsky wird eine Person mit starkem Kohärenzgefühl einen Stimulus eher nicht als Stressor definieren, sondern annehmen, dass sie sich der Herausforderung stellen und sich an sie anpassen kann. Bei einer Einschätzung als Stressor wird sie diesen eher nicht als bedrohlich, sondern als günstig oder irrelevant einordnen. Von Antonovsky sogenannte „generalisierte Widerstandsressourcen und Widerstandsdefizite“ bilden das Maß des SOC aus.

Koherenzgefühl in der Kindheit

Einiges spricht für die Annahme, dass das Kohärenzgefühl in der frühen Kindheit entsteht. Laut Antonovsky entwickelt es sich vor dem zehnten Lebensjahr und sollte sich im weiteren Leben nicht mehr grundsätzlich verändern. Zwar handelt es sich um ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal, doch geht man heute davon aus, dass bestimmte Lebensereignisse das SOC sowohl stärken als auch schwächen können. Das gilt vor allem für die Komponenten Verstehbarkeit und Handhabbarkeit. Denn „entropische Kräfte sind tatsächlich ständig und kräftig im Leben eines jeden Menschen am Werk. Das SOC wird ständig und unvermeidlich attackiert.“ Doch eine Person mit einem starken Kohärenzgefühl kann Herausforderungen mit-hilfe ihrer Widerstandsressourcen bewältigen. Ein allzu „rigides, nicht authentisches“ SOC ist dabei nicht hilfreich, denn es vertraut vor allem auf bereits Bekanntem. Eine Person mit einem starken SOC sucht dagegen nach einer Balance zwischen bereits gespeicherter und neuer Information und vertraut darauf, dass sie auch mit neuen Informationen etwas Sinnvolles anfangen kann.

Zahlreiche Bezüge

Antonovskys Arbeit weist zahlreiche Bezüge zu „Selbst“ und „Identität“ bei Heinz Kohut und Erik H. Erikson, zur „Selbstwirksamkeitserwartung“ bei Albert Bandura, zu Bindungstheorie und Resilienzforschung auf. Untersuchungen belegen, dass das SOC in Stichproben verschiedener Bevölkerungsgruppen stärker ausgeprägt ist als bei Patienten im Krankenhaus oder in Psychotherapie. Zudem ermöglicht das Maß des Kohärenzgefühls valide Prognosen über den Erfolg von Therapie- und Trainingsprogrammen. Stationäre Psychotherapie kann eine Steigerung des SOC bewirken. Psychosomatische Weiterentwicklungen im Sinn einer „integrierten Medizin“ heben etwa auf Gesundheit als „Passung zwischen Organismus und Umwelt“ und Krankheit als „Passungsstörung“ ab (Werner Geigges).

Ab 1972 engagiert Antonovsky sich beim Aufbau einer gemeindeorientierten medizinischen Fakultät an der Ben-Gurion-Universität des Negev und ist dort für die verhaltenswissenschaftlichen und soziologischen Anteile des Studiums zuständig. Ende der 70er- und Anfang der 80er-Jahre übernimmt er eine Gastprofessur an der Abteilung für Public Health der Universität Berkeley, Kalifornien. Am 7. Juli 1994 stirbt Aaron Antonovsky in Be`er Scheva (Israel). Christof Goddemeier

1.
Antonovsky A: Health, Stress and Coping: New Perspectives on Mental and Physical Well-Being. San Francisco: Jossey-Bass 1979.
2.
Antonovsky A: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Deutsche erweiterte Ausgabe von A. Franke. Tübingen: dgvt-Verlag 1997.
3.
Gunkel S, Kruse G (Hg.): Salutogenese, Resilienz und Psychotherapie. Hannover: Hannoversche Ärzte-Verlags-Union 2004.
1. Antonovsky A: Health, Stress and Coping: New Perspectives on Mental and Physical Well-Being. San Francisco: Jossey-Bass 1979.
2. Antonovsky A: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Deutsche erweiterte Ausgabe von A. Franke. Tübingen: dgvt-Verlag 1997.
3. Gunkel S, Kruse G (Hg.): Salutogenese, Resilienz und Psychotherapie. Hannover: Hannoversche Ärzte-Verlags-Union 2004.

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