POLITIK: Leitartikel
Gesundheitsreform/Marburger Bund: Eine Punktsiegerin und ein großer Verlierer


Fazit: Andrea Fischer siegt klar nach Punkten.
Das Rennen ist gelaufen. Zwar fiel die Entscheidung erst auf der Zielgeraden, auf dem Zielfoto hat die
Bundesgesundheitsministerin aber eindeutig die Nase vorn. Dieses ernüchternde Fazit zieht Dr. med. Frank
Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Marburger Bundes (Verband der angestellten und beamteten Ärzte
Deutschlands), drei Wochen nach Inkrafttreten des "GKV-Gesundheitsreformgesetzes 2000". Die Ärzteschaft
habe Erfolge bei der Verteidigung "hehrer" Prinzipien erreicht, sei aber bei den Detailfragen abgeschmettert
worden. Als großen Verlierer des Gesetzgebungsprozesses sieht Montgomery die SPD, und hier besonders
Rudolf Dreßler, den sozialpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Montgomery: "Dreßlers
Kernstücke der Reform, das politisch bestimmte und an rein ökonomischen Kriterien orientierte Globalbudget
sowie die monistische Krankenhausfinanzierung, stehen nicht im Gesetz."
Die neue Leistung "Soziotherapie" und einen Hausarztbonus eingeführt, Einkaufsmodelle in der integrierten
Versorgung ermöglicht, die Qualitätssicherung zum "Disziplinierungsmittel degeneriert", Andrea Fischers
Erfolgsliste ist lang. Alle neuen Leistungselemente, die zum Kernstück grüner Gesundheitspolitik gehörten, sind
ohne Gegenfinanzierung eingeführt worden: Verbraucherberatung, Förderung von Leistungen zur primären
Prävention, Selbsthilfe und Soziotherapie. Sämtliche Reformelemente, die nicht der Zustimmung des
Bundesrates bedürfen, nahmen "fast ungeschmälert" die parlamentarischen Hürden. Die SPD muss sich, so
Montgomery, fragen, welche Reformelemente ihre Handschrift tragen.
Künftig: "weiche" Themen?
Für die nahe Zukunft prognostiziert der Vorsitzende des Marburger Bundes, dass sich
Bundesgesundheitsministerin Fischer eher den "weichen" Themen der Gesundheitspolitik zuwenden wird:
"Nach ihrem Ausflug in die harte Realität der GKV-Finanzierung, den sie mit einigen blauen Flecken und vielen
Blessuren überstanden hat, wird ihre Neigung, weitere Gesundheitsreformen durchzusetzen, gering sein."
"Ehrenwerte ethische" Themen wie Patientenrechte und Fortpflanzungsmedizin rückten nun in den Vordergrund
- Themen, über die zwar lebhaft diskutiert werden könne, zu denen aber fast nichts zu entscheiden sei.
Montgomery bezweifelt, dass das Gesundheitsreformgesetz ausreichen wird, um die Ausgaben in der
Gesetzlichen Krankenversicherung innerhalb dieser Legislaturperiode zu begrenzen. Noch vor der nächsten
Bundestagswahl werde wieder über Gesundheitspolitik und die GKV-Finanzen geredet werden müssen. Er
erinnerte daran, dass eine ähnliche Debatte der "Sargnagel" am Ende der Regierungszeit Helmut Kohls gewesen
sei.
Den Vorschlag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, ein einheitliches Vergütungssystem für alle ärztlichen
Leistungen einzuführen, um sektorübergreifende Kooperationen zu erleichtern, lehnt der Marburger Bund ab.
"Die Fiktion ,Gleiches Geld für gleiche Leistung' wird durch eine Fülle von Zuschlägen für Qualifikation,
Schwierigkeitsgrad und Infrastruktur sofort wieder aufgelöst." Aufgrund der Zuschlagssystematik ergäben sich
gravierende Nachteile für die Krankenhäuser. "Die Zuschläge im Krankenhaus müssen von vornherein
wesentlich höher sein; dieses heizt den innerärztlichen Verteilungskampf an." Problem sei, dass mit einer
Vergütung nicht nur die ärztliche Leistung, sondern die gesamte medizinische Leistungserbringung
einschließlich der Klinikinfrastruktur bezahlt werde. Im Krankenhaus betrage die ärztliche Leistung aber
lediglich 15 Prozent der Kosten (21 Prozent ärztlicher Dienst von 70 Prozent Personalgesamtkosten),
wohingegen es in der Praxis, nach Fachgruppen unterschiedlich, durchschnittlich etwa 50 Prozent seien.
Montgomery: "Im Ergebnis scheint es so, als wolle die KBV nach zehn Jahren totalen Versagens mit diversen
EBM-Reformen von diesem Zustand nun dadurch ablenken, dass sie ein morbides System auf eine höhere
Systemebene hebt." Jens Flintrop