ArchivDeutsches Ärzteblatt4/2000Gesundheitsreform/Marburger Bund: Eine Punktsiegerin und ein großer Verlierer

POLITIK: Leitartikel

Gesundheitsreform/Marburger Bund: Eine Punktsiegerin und ein großer Verlierer

Flintrop, Jens

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LNSLNS Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Marburger Bundes, hat den "Zieleinlauf" der Gesundheitsreform 2000 beurteilt.
Fazit: Andrea Fischer siegt klar nach Punkten.


Das Rennen ist gelaufen. Zwar fiel die Entscheidung erst auf der Zielgeraden, auf dem Zielfoto hat die Bundesgesundheitsministerin aber eindeutig die Nase vorn. Dieses ernüchternde Fazit zieht Dr. med. Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Marburger Bundes (Verband der angestellten und beamteten Ärzte Deutschlands), drei Wochen nach Inkrafttreten des "GKV-Gesundheitsreformgesetzes 2000". Die Ärzteschaft habe Erfolge bei der Verteidigung "hehrer" Prinzipien erreicht, sei aber bei den Detailfragen abgeschmettert worden. Als großen Verlierer des Gesetzgebungsprozesses sieht Montgomery die SPD, und hier besonders Rudolf Dreßler, den sozialpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Montgomery: "Dreßlers Kernstücke der Reform, das politisch bestimmte und an rein ökonomischen Kriterien orientierte Globalbudget sowie die monistische Krankenhausfinanzierung, stehen nicht im Gesetz."
Die neue Leistung "Soziotherapie" und einen Hausarztbonus eingeführt, Einkaufsmodelle in der integrierten Versorgung ermöglicht, die Qualitätssicherung zum "Disziplinierungsmittel degeneriert", Andrea Fischers Erfolgsliste ist lang. Alle neuen Leistungselemente, die zum Kernstück grüner Gesundheitspolitik gehörten, sind ohne Gegenfinanzierung eingeführt worden: Verbraucherberatung, Förderung von Leistungen zur primären Prävention, Selbsthilfe und Soziotherapie. Sämtliche Reformelemente, die nicht der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, nahmen "fast ungeschmälert" die parlamentarischen Hürden. Die SPD muss sich, so Montgomery, fragen, welche Reformelemente ihre Handschrift tragen.
Künftig: "weiche" Themen?
Für die nahe Zukunft prognostiziert der Vorsitzende des Marburger Bundes, dass sich Bundesgesundheitsministerin Fischer eher den "weichen" Themen der Gesundheitspolitik zuwenden wird: "Nach ihrem Ausflug in die harte Realität der GKV-Finanzierung, den sie mit einigen blauen Flecken und vielen Blessuren überstanden hat, wird ihre Neigung, weitere Gesundheitsreformen durchzusetzen, gering sein." "Ehrenwerte ethische" Themen wie Patientenrechte und Fortpflanzungsmedizin rückten nun in den Vordergrund - Themen, über die zwar lebhaft diskutiert werden könne, zu denen aber fast nichts zu entscheiden sei. Montgomery bezweifelt, dass das Gesundheitsreformgesetz ausreichen wird, um die Ausgaben in der Gesetzlichen Krankenversicherung innerhalb dieser Legislaturperiode zu begrenzen. Noch vor der nächsten Bundestagswahl werde wieder über Gesundheitspolitik und die GKV-Finanzen geredet werden müssen. Er erinnerte daran, dass eine ähnliche Debatte der "Sargnagel" am Ende der Regierungszeit Helmut Kohls gewesen sei.
Den Vorschlag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, ein einheitliches Vergütungssystem für alle ärztlichen Leistungen einzuführen, um sektorübergreifende Kooperationen zu erleichtern, lehnt der Marburger Bund ab. "Die Fiktion ,Gleiches Geld für gleiche Leistung' wird durch eine Fülle von Zuschlägen für Qualifikation, Schwierigkeitsgrad und Infrastruktur sofort wieder aufgelöst." Aufgrund der Zuschlagssystematik ergäben sich gravierende Nachteile für die Krankenhäuser. "Die Zuschläge im Krankenhaus müssen von vornherein wesentlich höher sein; dieses heizt den innerärztlichen Verteilungskampf an." Problem sei, dass mit einer Vergütung nicht nur die ärztliche Leistung, sondern die gesamte medizinische Leistungserbringung einschließlich der Klinikinfrastruktur bezahlt werde. Im Krankenhaus betrage die ärztliche Leistung aber lediglich 15 Prozent der Kosten (21 Prozent ärztlicher Dienst von 70 Prozent Personalgesamtkosten), wohingegen es in der Praxis, nach Fachgruppen unterschiedlich, durchschnittlich etwa 50 Prozent seien. Montgomery: "Im Ergebnis scheint es so, als wolle die KBV nach zehn Jahren totalen Versagens mit diversen EBM-Reformen von diesem Zustand nun dadurch ablenken, dass sie ein morbides System auf eine höhere Systemebene hebt." Jens Flintrop

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