POLITIK: Medizinreport
Arzneimittelsicherheit: Wirksamkeit von Medikamenten muss auch nach Zulassung geprüft werden
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Man kann nicht sagen, dass Dr. Catherine Cornu und ihre Kollegen sich keine Mühe gegeben hätten. Sieben
Jahre lang hat die EUTERP-Gruppe belgischer, französischer, italienischer und spanischer Gynäkologen
versucht, eine europäische Studie auf den Weg zu bringen, die eine der peinlichsten Wissenslücken ihres
Fachbereichs schließen soll: Lohnt sich die langfristige Hormonersatztherapie?
An 45 000 Frauen wollten die Europäer klären, ob die von vielen Frauenärzten zur Vorbeugung gegen
Herzkrankheiten und Osteoporose empfohlene Therapie das Leben der Patientinnen verlängert, welchen
Krankheiten sie vorbeugt und welche sie begünstigt. Der Glaube an den Nutzen der Präparate beruht bislang auf
unzuverlässigen Studien, ein potenzieller Nutzen der Langzeittherapie mit Östrogen-Gestagen-Präparaten zur
Prävention und Lebensverlängerung konnte niemals bewiesen werden.
Doch das ebenso notwendige wie ehrgeizige Projekt scheiterte kläglich, bevor es richtig beginnen konnte: Jene
Pharmafirmen, die mit den Präparaten Milliarden-Umsätze machten, waren nicht bereit, die Studie finanziell zu
unterstützen. Peinlich war, dass schließlich sogar die EU-Behörden ihre zugesagten Fördermittel wieder strichen:
Das Projekt hatte die von der EU gesetzten Fristen überschritten. Weil die Gruppe keine weiteren Sponsoren
finden konnte, zog auch die EU ihre Gelder zurück.
Das Schicksal des Projektes, das die Gruppe im LANCET (1999; 353: 63-64) schildert, liefert eine düstere
Beschreibung der Realitäten auf dem europäischen Arzneimittelmarkt: Medikamente werden von den Behörden
zugelassen und von Ärzten verschrieben, ohne dass die Hersteller gezwungen werden, sichere Beweise für
vermutete oder behauptete Wirkungen vorzulegen.
Bei der generellen Verwendung nicht ausreichend geprüfter Medikamente handelt es sich um unkontrollierte
Bevölkerungsexperimente - während die Patienten davon ausgehen, mit wirksamen und sicheren Medikamenten
behandelt zu werden.
Die Hormonersatztherapie ist nur die Spitze des Eisbergs. Problematisch ist das Fehlen zuverlässiger Belege
über Wirksamkeit und Sicherheit immer da, wo Medikamente zur Prophylaxe der Komplikationen chronischer
(Alters-)Krankheiten eingesetzt werden: wie die medikamentöse Therapie des Typ-II-Diabetes mellitus, der
Hypertonie, der Fettleibigkeit sowie kardiovaskulärer und rheumatischer Erkrankungen. Auf diesen Gebieten
nehmen mehrere Millionen Deutsche über Jahre hinweg Medikamente, deren langfristigen Nutzen wir nicht
kennen.
Beispiel orale Antidiabetika: In Deutschland wurden 1997 nach Daten des Arzneiverordnungsreports 450
Millionen Tagesdosen der Sulfonyl-Harnstoffe Glibenclamid und Glimepirid für etwa 1,2 Millionen Patienten
verschrieben. Die Suche in der medizinischen Fachliteratur der letzten 30 Jahre liefert zwar 8 600 Publikationen
über die Sulfonylharnstoffe. Aber nur ganze zwei dieser Untersuchungen helfen bei der Abschätzung von
Wirksamkeit und Sicherheit - wesentliche Fragen lassen auch diese Studien offen. So gibt es ernste Argumente,
dass die Medikamente kardiotoxische Nebenwirkungen bei Patienten mit Typ-2-Diabetes und koronarer
Herzkrankheit haben. In den USA mussten die Hersteller deshalb entsprechende Warnhinweise in die
Beipackzettel aufnehmen.
Wir selbst versuchen seit vier Jahren, die Firma Hoechst Marion Roussel von ihrer Pflicht zu überzeugen, den
Verdacht auf kardiotoxische Nebenwirkungen der von ihr weltweit vertriebenen Sulfonylharnstoffe Euglucon®
(Glibenclamid) und Amaryl® (Glimepiride) bei Patienten mit Typ-2-Diabetes und koronarer Herzkrankheit in
einer europäischen Studie zu klären. Im März 1998 gab ein Unternehmenssprecher öffentlich die Zusage, solch
eine Studie zu fördern. Doch bislang weigert sich die Firma, diese Zusage umzusetzen.
Auch das orale Antidiabetikum Glucobay® (Acarbose der Bayer Vital) hat ein Umsatzvolumen von circa 200
Millionen DM pro Jahr erreicht, obwohl keinerlei Beweise für seine Wirksamkeit und langfristige
Unbedenklichkeit geltend gemacht werden konnten.
Beispiel Kalziumantagonisten: Mit bestimmten Diuretika und Beta-Blockern stehen seit Jahrzehnten
Medikamente zur Verfügung, deren langfristige Wirksamkeit und Sicherheit adäquat dokumentiert sind. Doch
die deutschen Ärzte verschreiben lieber die (zudem deutlich teureren) Kalziumantagonisten, obwohl keine
einzige direkte Vergleichsstudie zeigt, dass diese so wirksam und sicher wie die älteren Mittel sind. Das
Versäumnis, derartige Studien durchzuführen, hat zur Folge, dass die Fachwelt derzeit einen Streit über
mögliche Gefahren bei Langzeitanwendung führen muss, ohne sichere Argumente zu haben.
Die Forderung, dass ein über Jahre verwendetes Medikament auch zeigen muss, dass es über Jahre wirksam und
sicher ist, ist so simpel und logisch, dass man sich wundert, warum es dennoch diese Wissenslücken geben kann.
Warum werden die notwendigen Studien zur Abwendung von Risiken für Millionen von Menschen dennoch
nicht durchgeführt? Dahinter stehen mehrere Gründe: Die Motivation der Firmen zu den nötigen Studien ist
gering, solange sich die Medikamente auch so verkaufen. Die Studien sind teuer und langwierig, denn Effekte
etwa auf die Herzinfarktrate lassen sich oft erst nach Jahren beurteilen, und man muss Tausende von Patienten
vergleichen, um zu statistisch abgesicherten Ergebnissen zu kommen. Und die Studien bergen schließlich ein
unternehmerisches Risiko: Sie könnten ja auch belegen, dass ein Medikament wirkungslos oder einem anderen
unterlegen ist.
Das eigentliche Problem ist aber, dass die Firmen von Arzneimittelbehörden und den Ärzten nicht in die Pflicht
genommen werden. Leider werden für die Zulassung derartiger Medikamente durchweg nur Daten zur
kurzfristigen Wirkung auf Surrogat-Parameter (zum Beispiel Senkung von Blutdruck, Blutzucker, Gewicht,
Cholesterin) vorgelegt, ohne dass die eigentlich entscheidenden, Patienten-orientierten Endpunkte - wie
Verringerung des Risikos von Herzinfarkten, Erblindungen und/oder Verlängerung der Lebenserwartung -
geprüft worden sind. Solche weitergehenden klinisch-pharmakologischen Prüfungen der Medikamente obliegen
freiwilligen Initiativen in der Zeit nach ihrer Zulassung.
Andererseits geben die Firmen auch nach der Markteinführung astronomische Summen für Studien aus. Doch
deren primärer Zweck ist nicht der der Dokumentation der Arzneimittelwirkungen, sondern die Unterstützung
der Markteinführung und des Marketings. Anstatt beispielsweise direkte Vergleichsstudien mit anderen
Präparaten durchzuführen, wird immer wieder auf die "guten Erfahrungen" aus der Anwendung der Präparate
bei enorm großen Patientenzahlen in kurzfristigen Studien verwiesen. In dieser irreführenden Argumentation
werden die Pharmafirmen durchweg von "Meinungsführern" unterstützt, die auf der Honorarliste der Industrie
stehen, wie am 8. Januar 1998 durch Henry T. Stelfox im New England Journal of Medicine im Hinblick auf
Kalziumantagonisten aufgedeckt worden ist.
Strengere Auflagen
Das Problem an der Zulassung eines Medikaments aufgrund von Surrogat-Parametern ist, dass kurzfristige
Wirkungen als Maß für den langfristigen Wert eines Medikaments unzuverlässig sind (Mühlhauser und Berger,
Dt Ärztebl 1996; 93: A-3280-3283 [Heft 49]). Das Problem schilderte im August eine prominente Gruppe
amerikanischer und europäischer Autoren im "Journal of the American Medical Association" (Psaty et al.
JAMA 1999; 282: 786-790): Es gibt durchaus eine Reihe von Medikamenten, bei denen sich positive
Wirkungen auf Surrogat-Parameter in langfristigen Studien bestätigt haben.
Aber es gibt ebenso viele Beispiele, wo die Experten mit Schrecken einsehen mussten, dass ein Medikament mit
positiven Wirkungen auf einen Surrogat-Parameter dann doch unerwartete Nebenwirkungen hatte, die
Gesundheit oder das Leben der Patienten gefährden (siehe Kasten). Das Tückische ist, dass kein Mensch sicher
sein kann, in welche Gruppe eine bestimmte Substanz fällt, bevor sie nicht erprobt wurde.
Curt Furberg und Kollegen begründen Anfang Oktober im LANCET (1999; 354: 1202-1204), dass nicht einmal
Medikamente einer "Klasse" ohne direkten Vergleich als gleichwertig gelten dürfen. Mit dem Argument
"Klasseneffekt" ersparen sich viele Hersteller die Kosten der Erprobung ihrer Präparate, indem sie auf Studien
der Konkurrenz verweisen. Bei Betablockern, ACE-Hemmern, Statinen, Kalziumantagonisten und
nichtsteroidalen Anti-Rheumatika ist dieses Marketing sogar die Regel. Viele Beispiele zeigen, dass diese
Argumentation ernste Risiken bedeuten kann, weil auch zwei Substanzen einer "Klasse" sich in Wirksamkeit
und Sicherheitsprofil deutlich unterscheiden können. So musste ein Dutzend nichtsteroidaler Anti-Rheumatika
schließlich aus Sicherheitsgründen wieder vom Markt genommen werden.
Solche Mängel sind nicht länger hinnehmbar. Eine Möglichkeit zur Lösung des Problems wären strengere
Zulassungskriterien. Bei der Zulassung eines Medikaments, das zukünftige Ereignisse verhindern soll, müssen
entsprechende langfristige Studien zur Auflage gemacht werden. Diese Studien müssen nicht unbedingt schon
bei der Zulassung vorliegen. Es wäre durchaus denkbar, ein Medikament auch weiterhin aufgrund von Effekten
auf Surrogat-Parameter zuzulassen, ihm sozusagen - so wie es bereits jetzt geschieht - einen
Vertrauensvorschuss zu gewähren.
Doch an die Zulassung muss streng die Pflicht des Unternehmens gebunden sein, die langfristige Endpunktausgerichtete Studie baldmöglichst nachzuliefern. Der Zwang zur Durchführung derartiger Studien kann aber
auch von einer aufgeklärt-kritischen Ärzteschaft ausgehen, die als Grundlage für das Rezeptieren die
wissenschaftliche Evidenz für Nutzen und Sicherheit der Medikamente einfordert.
Wenn die Pharma-Firmen nicht auf diese Weise in die Pflicht genommen werden können, dann muss der Staat
bereit sein, seine Bevölkerung zu schützen. In den USA haben die Behörden die Verantwortung akzeptiert: Dort
werden Milliarden-Summen zur Durchführung von Studien zur Arzneimittel-Wirkung und -Sicherheit
bereitgestellt. Alleine die Women’s Health Study, in der unter anderem die Hormonersatztherapie erprobt wird,
kostet 400 Millionen Dollar. Die Ergebnisse aus dieser amerikanischen Studie werden jedoch nur eingeschränkt
auf Europa übertragbar sein, da hier überwiegend andere Hormon-Präparate verordnet werden.
In Europa sind derartige Projekte derzeit unmöglich - vor allem weil es kein Geld dafür gibt. Deshalb sollte eine
Möglichkeit geschaffen werden, wichtige Fragen auch ohne das Wohlwollen von Pharmafirmen zu klären. Wir
plädieren für die Einrichtung eines Fonds bei einer Bundes- oder Europa-Behörde, in den die Parteien des
Gesundheitswesens einzahlen (Pharmaindustrie, Kassen, Regierung) und aus dem notwendige unabhängige
Studien finanziert werden. Dabei sollte man sich auf die Untersuchung von Medikamenten beschränken, von
denen ein relevanter Fortschritt zu erwarten ist.
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Michael Berger
Heinrich-Heine-Universität
Moorenstraße 5
40225 Düsseldorf
E-Mail: bergermi@uni-duesseldorf.de
Wo Surrogat-Marker zum Irrtum führten
- Der Kalziumantagonist Mibefradil wurde letztes Jahr kurz nach der Zulassung vom Hersteller wegen
unerwarteter Toxizität wieder vom Markt genommen.
- Bei Frauen mit KHK führte die Östrogen/Gestagen-Behandlung im ersten Jahr zu einer Steigerung der HerzKreislauf-Todesfälle, Beinvenenthrombosen und Lungenembolien nahmen zu (JAMA 1998; 280: 605). Nach
vier Jahren hatte die Therapie im Vergleich zu Plazebo keinen positiven Effekt.
- Antiarrhythmika verringern bei Hochrisiko-Patienten zwar Extrasystolen, die Mortalität war aber fast
verdoppelt (CAST Studie, JAMA 1993; 270: 2451). Der amerikanische Journalist Thomas J. Moore (Simon &
Schuster, New York, 1995) errechnete, dass durch diesen Fehler in der Arzneimittelbewertung mehr Amerikaner
umgekommen sind als infolge des Vietnam-Krieges.
- Clofibrat senkt zwar den Serum-Cholesterin-Spiegel wirkungsvoll, was zu seiner Akzeptanz in der Ärzteschaft
führte. Eine europäische Großstudie der WHO zeigte aber, dass die Lebenserwartung der Patienten eindeutig
verkürzt war.
- Beta-Karoten (für Raucher zur Prävention von Lungenkrebs) führte zur Anhebung des erniedrigten
Vitaminspiegels, aber auch zur Zunahme der Lungenkrebs-Mortalität (New Engl J Med 1994; 330: 1029 und
1996; 334: 1150).
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