ArchivDeutsches Ärzteblatt4/2000Selektive Östrogenrezeptor-Modulatoren (SERM): Eine Alternative zur Östrogen-Gestagen-Substitution in der Postmenopause?

MEDIZIN: Die Übersicht

Selektive Östrogenrezeptor-Modulatoren (SERM): Eine Alternative zur Östrogen-Gestagen-Substitution in der Postmenopause?

Nocke, Wolfgang

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LNSLNS Selektive Östrogenrezeptor-Modulatoren (SERM), insbesondere Raloxifen, sind als risikofreier Ersatz für Sexualhormone im Gespräch. Die Übersicht fasst die Ergebnisse bisheriger Studien zusammen. Demnach nimmt nach zweijähriger Therapie mit Raloxifen (60 mg/d) die Knochendichte in der Lendenwirbelsäule und im Femurhals um 0,6 und 0,8 Prozent pro Jahr gegenüber den Basiswerten zu. Vertebrale Frakturen werden im Vergleich zu Plazebo etwa halbiert; extravertebrale Frakturen bleiben unbeeinflusst. Das Risiko für alle Mammakarzinome ist nach Raloxifen im Vergleich zu Plazebo um 54 bis 74 Prozent und für Östrogenrezeptorpositive Mammakarzinome um 87 Prozent gesenkt. Östrogenrezeptor-negative Mammakarzinome bleiben unbeeinflusst. Endometriumkarzinome werden möglicherweise reduziert und vasomotorische Symptome gesteigert. Ungeklärt ist bisher die kardioprotektive Wirkung von Raloxifen. Eine Therapie mit Raloxifen erscheint gegenwärtig insbesondere bei erhöhtem Mammakarzinomrisiko und Zustand nach Mammakarzinom geeignet; doch sollten keine akuten Postmenopausesymptome und kein gesteigertes kardiovaskuläres oder Osteoporoserisiko vorhanden sein.
Schlüsselwörter: Selektive Östrogenrezeptor-Modulatoren, SERM, Raloxifen, Mammakarzinomrisiko, kardiovaskuläres Risiko, Osteoporoserisiko


Selective Estrogen Receptor Modulators (SERMs):
A Substitute for Postmenopausal Estrogen-Gestagen Replacement Therapy?
Selective estrogen receptor modulators (SERMs), especially raloxifene, are discussed as a substitute of conventional hormone replacement therapy. Recent studies demonstrate that raloxifene therapy (60 mg/d) increases vertebral and femoral neck bone mineral density by 0.6 respectively 0.8 per cent per year versus baseline. Vertebral fractures are reduced by 50 per cent, but no change is observed in extravertebral fractures. Raloxifene reduces the overall risk of breast carcinoma by 54 to 75 per cent, in estrogen-receptor positive cancers this risk reduction is even 87 per cent. No effect is seen in estrogen-receptor negative cancers. There is also a possible reduction in endometrial cancer; however, vasomotor symptoms are increased. Whether raloxifene holds any cardioprotective potency is unproven. At present, raloxifene appears as a treatment option particularly for women at risk for or after therapy of breast carcinoma. Acute menopausal symptoms, cardiovascular disease or osteoporosis have to be taken into account.
Key words: Selective estrogen receptor modulator, SERMs, raloxifene, breast carcinoma, cardiovascular risk, osteoporosis

Als selektive Östrogenrezeptor-Modulatoren (SERM) werden unterschiedlich strukturierte Substanzen zusammengefasst, die organselektiv als Östrogen-Agonisten oder -Antagonisten wirken können. Nach dieser Definition sind auch seit Jahrzehnten therapeutisch benutzte, vereinfachend "Antiöstrogene" genannte Substanzen (zum Beispiel Clomifen, Tamoxifen) sämtlich als selektive Östrogenrezeptor-Modulatoren aufzufassen ("SERM der ersten Generation"). Für den Wirkungsmechanismus der selektiven Östrogenrezeptor-Modulatoren ist typisch, dass sie als Liganden des Östrogenrezeptors (ER) eine von der "klassischen" Östrogen-Wirkung abweichende Transkription von Genen aktivieren (26).
Gesucht wird das risikofreie "Super-Östrogen"
Mit dem Ziel einer für Uterus und Mamma risikofreien Hormonsubstitutionstherapie (HST) werden seit längerem ältere und neuere Substanzen auf ihre Eignung geprüft. Tamoxifen - seit 1973 für die Therapie des Mammakarzinoms (MC) (12, 15) und seit 1986 auch zur Chemoprävention (27) eingesetzt - steigert die Knochendichte (BMD; bone mineral density) (23, 24), senkt LDL-(low density lipoprotein-)Cholesterin ohne HDL-(high density lipoprotein-)Cholesterin zu steigern (1) und reduziert letale Koronarinfarkte (19). Unerwünschte Wirkungen sind vasomotorische Symptome (14), venöse Thromboembolie (14) und die Östrogenagonistische Steigerung des Risikos für Endometriumkarzinome (EC) (33). Damit kommt Tamoxifen, außer für die genannten Risikogruppen, als generelle Hormonsubstitutionstherapie in der Postmenopause nicht in Betracht.
Eine Serie von "SERM der zweiten Generation" wird zur Zeit experimentell, präklinisch oder bereits klinisch geprüft. Umfangreiche Daten aus multizentrischen, randomisierten, plazebokontrollierten Doppelblindstudien existieren besonders für Raloxifen (RLX; LY-139.481) beziehungsweise RLX-HCL (LY-156.785). Das SERMProfil von RLX ist hauptsächlich durch Östrogen-agonistische Effekte auf Skelett und Leber sowie Östrogenantagonistische Wirkungen auf Uterus und Mamma charakterisiert (21). !
Raloxifen-HCL wurde als Evista im Januar 1998 in den USA und im August 1998 in der Bundesrepublik Deutschland für die "Prävention atraumatischer Wirbelbrüche bei Frauen mit erhöhtem Osteoporoserisiko" (empfohlene Tagesdosis: 60 mg) zugelassen (21). Die Behandlungskosten liegen vier- bis achtfach höher als für orale und über vierfach höher als für transdermale Östrogen-Gestagen-Präparate.
SERM - ein integratives molekulares Konzept organselektiver Östrogene und Antiöstrogene
Die durch Östrogenrezeptoren (ER) vermittelte Transduktion östrogener und antiöstrogener Signale auf die Zielgene wird durch Aktivatorfunktionen des ER (AF-1, AF-2) initiiert und verläuft über ligandspezifische Modulationen (Konformationsänderungen) des ER. Abhängig von ihrer intrinsischen Östrogenaktivität stabilisieren unterschiedliche Liganden ein Kontinuum von Intermediärformen, die zwischen den Extremen der ungebundenen, unkonfigurierten Ruheform und der durch Östradiol-17b (E2) maximal aktivierten und
konfigurierten Form des ER einzuordnen sind (17, 25, 26).
Ist E2 der Ligand, so bindet der ER als E2-ER-Homodimer-Komplex an das "estrogen response element" (ERE), eine DNA-Sequenz des Zielgens mit Promotorfunktion. Der Komplex wird durch das ERE gelesen und in die Synthese von mRNA, DNA und Proteinen transkribiert (17). Ist Raloxifen der Ligand, wird der ER nicht dimerisiert. Der monomere RLX-ER-Komplex wird - da weniger konfiguriert und für ERE-DNA nicht lesbar - über zelluläre Adapter-Proteine an das "raloxifene response element" (RRE) gebunden, gelesen und transkribiert. Der Ligand-ER-Komplex bestimmt damit durch seine Konfiguration das Response-Element für seine Bindung, die gewebsspezifisch in östrogene oder antiöstrogene Wirkung transkribiert wird (35). Neuerdings wird angenommen, dass für die volle RLX-Wirkung Bindungen von RLX-ER-Komplexen an multiple Promoter-DNA-Regionen des RRE notwendig sind (36).
Wie wirken SERM?
Als Erklärung für substanz- und organspezifische SERM-Wirkungen werden, neben verschieden wirksamen Response-Elementen und Aktivatorfunktionen, auch neue ER-Varianten diskutiert (26). So aktiviert RLX das Response-Element für die Transkription des transformierenden Wachstumsfaktors TGFb3 - ein wichtiger Regulator des Knochenumsatzes - hundertfach stärker als E2 (35). Außerdem wurde gezeigt, dass Tamoxifen als ER-Ligand die (E2-stimulierbare) Aktivator-Funktion AF-2 dosisabhängig hemmt (10). Ob Tamoxifen als Östrogen oder Antiöstrogen wirkt, hängt deshalb auch von der Transkriptionsrate ab, die aus der relativen AF-2Hemmung und der (hormonunabhängigen) AF-1-Aktivität resultiert: Tamoxifen wirkt als Östrogen bei hoher Aktivität, aber als Antiöstrogen bei geringer Aktivität von AF-1 (18, 32).
Schließlich zeigte die Identifizierung (28) und Klonierung (20) von ERb, dass organspezifische ER-Varianten tatsächlich existieren (der bisherige "ER" wurde "ERa" genannt). Östrogene (E2, DES) wirken mit ERa als Aktivator und mit ERb als Inhibitor, Antiöstrogene (Tamoxifen, RLX, ICI-164 384) dagegen mit ERb als Aktivator und mit ERa als Inhibitor der Transkription. So wurde an Uterus- und Mammakarzinom-Zellen in vitro die ERb-abhängige Transkription durch Östrogene gehemmt und durch Antiöstrogene aktiviert. Da die Transkription in Zellen ohne ERb unbeeinflusst blieb, scheinen antiöstrogene SERM-Effekte auf Uterus und Mamma die Expression von ERb zu erfordern (30). Diese Erkenntnisse ermöglichten neue Wege für gezielte SERM-Entwicklungen.
Skelettwirkungen von Raloxifen
In der MORE-(multiple outcomes for raloxifene evaluation-) Studie wurden 7 705 postmenopausale Frauen mit Osteoporose (Frakturen der Lendenwirbelsäule [LWS] und/oder T-Score < 2,5 in Hüfte oder LWS) randomisiert. Nach zwei Jahren Therapie mit Raloxifen (50, 120 mg/ die) war versus Plazebo die BMD in LWS und Hüfte um zwei bis drei Prozent gesteigert (P < 0,001). Das relative Risiko (RR) für 368 vertebrale Frakturen betrug 0,56 mit dem 95 Prozent-Konfidenzintervall (CI) 0,46 bis 0,68 (P < 0,001). Davon war das Risiko für 65 multiple Frakturen nicht signifikant verschieden (RR 0,39; CI 0,25 bis 0,60). Die extravertebrale Frakturrate änderte sich nicht (RR 0,92; CI 0,77 bis 1,1) (8, 13).
Die Stratifizierung der Frakturen zeigt, dass weder anamnestische Frakturen noch die Raloxifen-Dosis (Tabelle 1) das Risiko für neue Wirbelfrakturen beeinflussen. Die vertebrale Frakturrate liegt nach 60 bis 120 mg RLX/d um 39 bis 52 Prozent beziehungsweise 38 bis 59 Prozent niedriger als nach Plazebo, aber um 48 bis 61 Prozent beziehungsweise 41 bis 62 Prozent über den Basiswerten bei Studienbeginn. Extravertebrale Frakturen werden durch beide Raloxifen-Dosen nicht signifikant beeinflusst (22).
Die "Europäische Interventionsstudie" überwacht 601 postmenopausale Frauen mit LWS-T-Score von -2,5 bis +2,0 ("Osteopenie" nach WHO in 55 Prozent), die versus Plazebo 30, 60 oder 150 mg RLX/d erhalten. Nach zwei Jahren Therapie mit 60 mg/d betrug der jährliche Netto-BMD-Zuwachs in LWS und Femurhals 0,8 und 0,6 Prozent gegenüber den Basiswerten (11). Nach drei Jahren war versus Plazebo die BMD in LWS und Femurhals um 2,7 Prozent angestiegen (3). Da der Knochenabbau nach Plazebo gegenüber den Basiswerten in LWS und Femurhals 1,2 Prozent beziehungsweise 1,7 Prozent betrug, ergeben sich jährliche Netto-Zuwachsraten von 0,5 Prozent in der LWS und von 0,3 Prozent im Femurhals.
Damit können, gemessen an der BMD, osteoanabole Raloxifen-Wirkungen als gesichert gelten; doch erreicht die jährliche Netto-Zunahme mit maximal 0,8 und 0,6 Prozent in LWS und Femurhals nicht das durch eine Hormonsubstitutionstherapie erzielbare Maß. Wirbelbrüche sind nach 60 mg RLX/d um bis zu 52 Prozent gesenkt, liegen aber bis 61 Prozent über den Basiswerten. Da außerdem extravertebrale Frakturen unbeeinflusst bleiben, erscheint Raloxifen nur zur Prävention postmenopausaler Knochenverluste und nicht als Therapie der manifesten Osteoporose geeignet.
Wirkt Raloxifen kardioprotektiv?
Bei 390 gesunden postmenopausalen Frauen wurden die Einflüsse von Raloxifen (60, 120 mg/d) und HST auf Lipoproteine und Hämostase-Faktoren verglichen. Als HST wurden 0,625 mg konjugierte equine Östrogene/d (CEE) mit 2,5 mg Medroxyprogesteronacetat/d kontinuierlich kombiniert. Von den untersuchten neun Variablen zeigten vier nach Raloxifen und sechs nach HST Änderungen, die mit kardiovaskulärer Protektion potenziell vereinbar sind (Tabelle 2). Die Autoren spekulieren, dass die Raloxifen-Wirkungen auf LDL-C, Lipoprotein (a) und Fibrinogen das kardiovaskuläre Risiko um mehr als 40 Prozent verringern könnten (34).
Tabelle 2 zeigt, dass sich - mit Ausnahme von LDL-C - die Raloxifen-Effekte auf die untersuchten Variablen von den HST-Wirkungen qualitativ und quantitativ deutlich unterscheiden. Als Vorteile gegenüber der HST sind die fehlende Steigerung der Triglyzeride und stärkere Senkungen von Apolipoprotein B und Fibrinogen zu werten; da aber Raloxifen das Thromboembolie-Risiko erhöht (RR 2,49; CI 1,23 bis 5,02) (21), ist die klinische Relevanz der Fibrinogen-Senkung fraglich (31). Der Einfluss von Raloxifen auf andere Variablen ist demgegenüber geringer als nach HST (HDL2-C, Lipoprotein [a] und Apolipoprotein A-1) oder fehlt ganz (HDLC und Plasminogen-Aktivator-Inhibitor-1). Von Interesse ist, dass diätinduzierte koronare Plaques bei oophorektomierten Äffinnen nach CEE um 70 Prozent verkleinert, nach Raloxifen aber unverändert waren (5). Die Folgerung der Autoren, der Einsatz von Raloxifen zur Prävention postmenopausaler Knochenverluste bedeute den Verzicht auf jede Protektion gegen Koronarsklerose, löste eine heftige Kontroverse aus (4, 6).
Nach bisherigen Befunden ist also offen, ob von Raloxifen kardioprotektive Wirkungen zu erwarten sind. Unzulässig ist, diese aus Änderungen einzelner "Surrogat-Marker" zu folgern (31). Als wenig hilfreich erscheinen auch Spekulationen über quantitative Aspekte einer vermuteten Protektion (34), bevor diese erwiesen ist. Angesichts der kardiovaskulären Mortalitätsziffern ist die Klärung vordringlich, ob den geringeren Lipidwirkungen von Raloxifen auch eine quantitativ verringerte Kardioprotektion entspricht (31); eine klinische Studie (RUTH; "raloxifene use for the heart”) an 10 000 postmenopausalen Frauen mit kardiovaskulärem Risiko ist angekündigt (4). Zu berücksichtigen ist ferner, dass 50 bis 75 Prozent der HST-assoziierten Kardioprotektion als lipidunabhängig gelten (2) und dass den Direktwirkungen der Östrogene auf arterielle Gefäße (positive Inotropie und Vasodilatation) ebenso große Bedeutung beigemessen wird (29).
Raloxifen-Wirkung auf Uterus und Mamma
Bei den Teilnehmerinnen der Europa-Studie war die Schichtdicke des Endometriums, bezogen auf die Basiswerte, nach Raloxifen (- 0,2 bis + 0,4 mm) und nach Plazebo (+ 0,4 mm) nicht signifikant verschieden (3, 11). In der MORE-Studie betrug das EC-Risiko 0,38 (P = 0,232) und wurde nach Ausschluss von zwei Fällen, die innerhalb von vier Wochen nach der Randomisierung diagnostiziert worden waren, signifikant (RR 0,13; P = 0,045) (9). In 28,9 Monaten medianer Exposition wurden in der MORE-Studie 32 neue Mammakarzinome diagnostiziert, davon 11 (0,21 Prozent) nach Raloxifen und 21 (0,82 Prozent) nach Plazebo (RR 0,26; CI 0,13 bis 0,52) (9); dieser Effekt kam durch die Risiko-Senkung für Östrogenrezeptor-positive [ER(+)] Mammakarzinome um 87 Prozent zustande (8). Auch nach neueren Daten (22) war das Risiko für insgesamt 45 neue Mammakarzinome davon nicht signifikant verschieden (RR 0,33; CI 0,19 bis 0,52). Die integrierte Analyse aller Osteoporose-Studien (Tabelle 3) ergab nach 28 Monaten Raloxifen versus Plazebo für alle Mammakarzinome (N = 49) eine Risiko-Senkung um 58 Prozent. Dies gilt, wie in der MORE-Studie, nur für ER(+)- und PR(+)- Mammakarzinome; ER(2)- und PR(2)-Mammakarzinome blieben unbeeinflusst. Wurde die Zeit zwischen Randomisierung und Mammakarzinom-Diagnose stratifiziert, lag das Mammakarzinom-Risiko um so niedriger, je länger die Exposition gedauert hatte (16). Nach 42 Monaten Exposition (22) war das Risiko für alle Mammakarzinome (N = 58) und für ER(2)-Mammakarzinome davon nicht signifikant verschieden. Die ER(+)Mammakarzinome waren nach Raloxifen versus Plazebo - wie in der MORE-Studie - um 87 Prozent gesenkt (Tabelle 3).
Die antiöstrogenen Raloxifen-Wirkungen auf Uterus und Mamma sind - werden sie durch Langzeitdaten bestätigt - als bedeutende Vorteile gegenüber der Hormonsubstitutionstherapie anzusehen: durch blutungsfreie Atrophie des Endometriums werden - auch bei nicht hysterektomierten Frauen - Gestagene überflüssig; das ECRisiko wird nicht erhöht und möglicherweise sogar gesenkt. Nach der MORE-Studie und der integrierten Auswertung der Osteoporose-Studien war nach Raloxifen versus Plazebo das Risiko für alle Mammakarzinome um 54 bis 74 Prozent und für ER(+)-Mammakarzinome allein um 87 Prozent gesenkt. Die Inzidenz der aggressiveren und prognostisch ungünstigeren ER(2)-Mammakarzinome wurde - wie erwartet - nicht beeinflusst. Ob die Mammaprotektion nach Raloxifen auch langfristig anhält, oder, wie nach Tamoxifen, nur befristet wirksam ist, soll durch STAR ("study of tamoxifen and raloxifene") - eine vom National Cancer Institute, USA, geplante Vergleichsstudie an 22 000 Frauen mit erhöhtem Mammakarzinom-Risiko - untersucht werden.
Fazit
Raloxifen erweitert die Möglichkeiten für eine individuell angepasste Therapie des Postmenopause-Syndroms um eine wichtige Option, beseitigt allerdings die häufigsten endokrinen Defizit-Symptome nicht: neurovegetative Dysregulationen und Urogenitalatrophie werden nicht beeinflusst, Hitzewallungen verstärkt. Da außerdem die Kardioprotektion ungeklärt und die Osteoprotektion geringer ist als nach HST, kommt Raloxifen vorerst insbesondere bei erhöhtem Mammakarzinom-Risiko und Zustand nach Mammakarzinom (7) in Betracht, sofern keine akuten Postmenopause-Symptome und kein atypisch hohes kardiovaskuläres oder Osteoporoserisiko vorliegen. Genetisch bedingte Mammakarzinome sind meist ER(2) und treten prämenopausal auf; am ehesten dürften daher Frauen mit Zustand nach sporadischem ER(+)-Mammakarzinom, die bereits drei bis fünf Jahre Tamoxifen erhalten haben, von der Raloxifen-Therapie profitieren. Maßgeblich für die Indikationen sollten familiäre und persönliche Anamnese, die vorrangigen Symptome und sorgfältige Analyse des therapeutischen Nutzens für die Patientin sein. Ausgewählte, aus heutiger Sicht typische Indikationen für beide Therapiekonzepte sind in Tabelle 4 gegenübergestellt; die definitive Abgrenzung der Indikationen dürfte durch die Ergebnisse der laufenden Studien noch wesentlich beeinflusst werden. Das Konzept der aktuellen SERM-Forschung ist, "Designer-Östrogene" zu entwickeln, bei denen unerwünschte Wirkungen eliminiert, erwünschte aber optimiert werden. Das "Super-Östrogen" für die Postmenopause wurde bisher nicht gefunden. Dennoch erscheint das Konzept aussichtsreich: das SERM-Profil von Raloxifen kommt der Zielvorstellung schon relativ nahe. Unterdessen werden bereits neue Substanzen klinisch geprüft und dürften schon bald als "SERM der dritten Generation" von sich reden machen.


Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2000; 97: A-175-179
[Heft 4]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.


Anschrift des Verfassers
Prof. em. Dr. med. Wolfgang Nocke
Im Dottenberg 4 · 53129 Bonn

Tabelle 1
MORE-Studie: Relatives Risiko (RR) und 95%-Konfidenzintervall (CI) für neue Frakturen innerhalb 24monatiger Raloxifen-(RLX-)Exposition versus Plazebo (22)*
Kollektiv; RLX-Dosis Neue Frakturen nach RLX versus Plazebo
(mg/d) RR 95% CI
Wirbelfrakturen total:
60 0,61 0,48-0,77
120 0,44 0,34-0,58
Wirbelfrakturen ohne
anamnestische Fraktur:
60 0,48 0,20-0,84
120 0,62 0,48-0,80
Wirbelfrakturen bei
anamnestischer Fraktur:
60 0,48 0,28-0,84
120 0,41 0,30-0,55
Extravertebrale Frakturen:
60 0,96 0,78-1,17
120 0,91 0,74-1,12
? 7 705 Frauen mit Osteoporose (vertebrale Frakturen und/oder T-Score in Hüfte oder Lendenwirbelsäule < 2,5; Altersmittel: 66,5 Jahre; mittleres Postmenopausealter: 18,7 Jahre.

Tabelle 2
Einfluss von Raloxifen (RLX)- und Hormonsubstitutionstherapie (HST) auf Lipoproteine und Hämostase-Faktoren im Serum bei 390 gesunden Frauen in der Postmenopause (innerhalb von sechs Monaten Exposition erhobene "intent-to-treat"-Daten in ± % der Basiswerte; Median ± SE) (34)
Variable RLX1 HST2 Hypothetische Kardio protektion RLX vs. HST
LDL-Cholesterin -11±2 -13±1 etwa gleich (n. s.)
HDL-Cholesterin + 1±2 +11±2 RLX < HST (P<0,001)
HDL2-Cholesterin +15±6 +33±4 RLX < HST (P<0,05)
Triglyzeride - 4±2 +20±5 RLX > HST (P<0,001)
Apolipoprotein A-1 + 2±2 +12±1 RLX < HST (P<0,001)
Apolipoprotein B - 9±2 - 4±1 RLX > HST (P<0,05)
Lipoprotein (a) - 4±2 -16±3 RLX < HST (P<0,001)
Fibrinogen -12±1 - 3±3 RLX > HST (P<0,05)
Plasminogenaktivator-Inhibitor-1 - 2±3 -29±3 RLX < HST (P<0,001)
1 60 mg/d
2 konjugierte equine Östrogene (0,625 mg/d) + Medroxyprogesteronacetat (2,5 mg/d kontinuierlich)
n. s.: Unterschiede RLX versus HST nicht signifikant

Tabelle 3
Relatives Risiko (RR) und 95%-Konfidenzintervall (CI) für neu diagnostizierte Mammakarzinome (MC) nach Therapie mit Raloxifen (RLX) versus Plazebo in Abhängigkeit von der Expositionsdauer (16,22)
Exposition MC MC nach RLX MC nach Plazebo RR 95% CI; (P)
(Monate) N Inzidenz N Inzidenz
pro 1000 pro 1000
281 49 23 3,3 26 7,7 0,42 0,25-0,73
ER(+) (P<0,001)
PR(+) (P=0,028)
ER(-) n. s.
PR(-) n. s.
> 12 45 20 2,8 25 7,4 0,38 0,22-0,68
> 6 38 15 2,1 23 6,8 0,31 0,17-0,58
>12 35 12 1,7 23 6,8 0,25 0,13-0,48
>18 25 8 1,1 17 5,0 0,23 0,10-0,49
423 58 1,7 3,7 0,46 0,28-0,75
20 ER(+) 0,13 0,05-0,32
10 ER(-) 1,17 0,30-4,52
1 Kumulative "intent-to-treat"-Daten von zirka 12 000 Frauen aus >50 Phasen-II- und III-Studien in 28 Ländern nach 28 Monaten medianer Exposition; RLX-Exposition (14 880 Frauenjahre) versus Plazebo-Exposition (6 750 Frauenjahre): 2:1 (16).
2 Stratifizierung nach Zeit zwischen Randomisierung und MC-Diagnose (16).
3 Kumulative "intent-to-treat"-Daten von 10 553 Frauen nach 42 Monaten medianer Exposition; RLXExposition (15 775 Frauenjahre) versus Plazebo-Exposition (7 773 Frauenjahre): zirka: 2:1 (22)
n. s.: Unterschiede RLX versus Plazebo nicht signifikant.

Tabelle 4
Ausgewählte, aus gegenwärtiger Sicht typische Indikationen für Raloxifen-(RLX-) und Hormonsubstitutionstherapie (HST) in der Postmenopause
Organsystem/Bedingungen RLX HST


Skelett
Prävention postmenopausaler Knochenverluste/
kein atypisches Osteoporose-Risiko + +
Atypisches Osteoporose-Risiko - +
Manifeste Osteoporose - +
Osteoporotische Frakturen - +
Kardio- und zerebrovaskuläres System
kein atypisches Risiko + + Erhöhtes Risiko oder manifeste Dysregulation/
Erkrankung +/- (?) +
Zentralnervensystem
Vasomotorische und psychovegetative Dysregulation - +
Depressive Verstimmungen, kognitive Dysfunktionen,
Hirnleistungsstörungen - +
Familiäres Morbus-Alzheimer-Risiko - +
Urogenitalorgane, Mamma
Urogenitalatrophie - +
Familiäres Mammakarzinom-Risiko + Zustand nach Mammakarzinom + Besondere Bedingungen
Kontraindikationen gegen HST + Unverträglichkeit für HST + Subjektive Ablehnung der HST +

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